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23. Tag (15. Februar 2012)

Mein Mantra für die kommenden Tage: Ich werde gesund! Ich werde gesund! Ich werde gesund! Ich merke, dass ich langsam mein Leben wieder in die Hände nehmen kann. Meine Gedanken sind klarer. Die Gebete funktionieren.

»Die schlimmste Zeit meines Lebens«

Ich habe darüber nachgedacht, ob ich gerade die schlechtesten Tage meines Lebens durchlebe und kann mich nicht entscheiden. Mir geht es schlecht. Anfangs war es aber noch schlechter, als ich mir erst einmal eingestehen musste, dass mein Leben wegen einer Krankheit angehalten wurde. Genau in dem Moment, als ich glaubte, in meinem neuen Leben erfolgreich zu sein. Ich bin krank, ich kann die Chance auf meinen Traumjob in einem tollen Unternehmen verlieren, ich bin weit weg von meinem Mann. Aber langsam fange ich an, meinen Frieden zu finden. Ich hatte schon schwierigere Zeiten in Brasilien, und ich denke, auch hier in Deutschland. Wenigstens bin ich mir jetzt klarer über meine Wege.

***

Die Universität war in der gleichen Stadt wie die Schule. Also ebenfalls 35 Kilometer entfernt und mit denselben Transportproblemen. Dazu kommt noch, dass es wegen häufiger Überfälle sehr gefährlich ist, erst um Mitternacht nach Hause zu kommen. Niemand hält in der Dunkelheit auf der Landstraße an, um dir zu helfen. Und du weißt vorher nie, ob die alten Autos und Busse die Fahrt ohne Panne überstehen. Die Vorlesungen begannen um 19:00 Uhr.

Mein Glück war, dass mein Vater ein Auto hatte und ich einen Freund mit Führerschein. So schaffte ich es, wieder einmal mit Hilfe meiner Eltern, nachts zu studieren. Mein damaliger Freund brachte mich und zwei Freundinnen jeden Tag zur Universität und holte uns um Mitternacht ab. Die Benzinkosten teilten wir uns.

Das ging so lange, bis ich eine Arbeit fand. Arbeiten zu können bedeutete für mich, aus unserer Stadt in die Universitätsstadt ziehen zu können. Ich wohnte damals allerdings schon seit ein paar Monaten bei meiner Großmutter, die in einem Haus in Universitätsnähe wohnte, denn die nächtlichen Fahrten waren wirklich sehr gefährlich und anstrengend. In der Region gab es einfach keine anständigen Straßen ohne Schlaglöcher.

***

Ich wäre sehr traurig, wenn ich meinen Arbeitsplatz verlieren würde. Aber dadurch wird die Welt nicht untergehen. Ich will eine Arbeit. Welche auch immer, solange es keine Ausbeutung ist. Ich glaube, ich stelle gerade mein Denken um. Vielleicht dient die Krankheit auch dazu. Im Moment ist das Wichtigste, gesund zu werden und ich werde gesund werden. Die Gebete von allen kommen bei mir an.

Ich bin verrückt danach, nach Hause zu kommen, meinen Mann zu sehen, spazieren zu gehen, einzukaufen, wieder zu leben! Und raus aus diesem Krankenhauszimmer!!!

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Seitdem ich eine Reaktion auf die Behandlung habe, respektive seitdem ich meine Diagnose kenne, suche und lese ich alles Mögliche im Internet. Eine alternative Behandlung für die Reaktion, die ich hatte, ist, abgesehen von hohen Dosen Cortison und dem Aussetzen der Antibiotika, Thalidomid. Seit dem Skandal der 60er Jahre wird nur noch der Arzneistoffname benutzt. Früher hieß das Medikament Contergan.

Ich sprach darüber mit den Ärzten:

»Ich weiß, dass in meinem Fall Thalidomid angebracht ist. «

»Das stimmt… Aber kennen Sie auch die Risiken? «

»Die sind mir bewusst. «

»Und? Würden Sie trotzdem zustimmen? «

»Schauen Sie, im Moment denke ich nicht daran, Kinder zu kriegen. Zurzeit beabsichtige ich wirklich nicht, irgendwann einmal Kinder zu kriegen. Mein Mann ist älter als ich, und ich habe zwei Stiefkinder. Für mich reicht das schon. Für mich ist nur wichtig, gesund zu werden. Ich will nach Hause und mit der Behandlung fortfahren können. Wenn Thalidomid dazu notwendig ist, akzeptiere ich es. «

»Sie müssten dazu aber eine Erklärung unterschreiben… Aber wer letztlich darüber entscheiden muss, bin nicht ich, sondern der Chefarzt. «

»Dann reden Sie mit dem Chefarzt. Ich wollte nur, dass Sie wissen, dass ich dazu bereit wäre…«

Tage danach mit dem Chefarzt:

»Selbst wenn Sie die Behandlung akzeptierten, ist es nicht möglich, Ihnen Thalidomid zu verschreiben. Ob wir wollen oder nicht, Sie sind eine 30jährige gebärfähige Frau. Die WHO würde es nie erlauben, dass Sie dieses Medikament nehmen. «

»Aber…«

»Seien Sie unbesorgt, wir werden es nicht dazu kommen lassen. Sie werden kein Thalidomid brauchen. «

Damit war das Thema beendet.

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E-Mail von einem brasilianischen Freund

[Diese E-Mail ist eine ganz besondere. Nicht nur, weil sie von einem sehr guten Freund kam, sondern auch, weil sie das Ergebnis eines E-Mail-Wechsels unter Ex-Kollegen ist, die mich eingeladen hatten, auf ihrem Internetportal als „Partnerin“ zu publizieren. Mitten in diesem ganzen Chaos ein Lichtblick. Außerdem war es diese E-Mail, die mich seitdem inspirierte. An meinen Freund ein ganz spezieller Dank.]

Meine Liebe,

Ich hatte gestern schon gesehen, dass Du geschrieben hast, aber erst heute mir die Zeit genommen, sie zu lesen, weil ich es in Ruhe machen wollte.

Du kannst sicher sein, dass Du niemals alleine sein wirst, wenn Du einen guten Freund hast. Auch wenn er weit weg ist. Denn Energie und Liebe kennen keine Entfernungen.

Ich habe mir die Fotos angeschaut, die unsere Kolleginnen zusammengetragen haben und wurde ganz schwermütig. Unsere Leben haben sich seit diesen Treffen sehr geändert und das lässt sich auch nicht rückgängig machen. Der Text, den Du geschickt hast, ist einfach klasse und ich hoffe sehr, weitere Texte von Dir zu bekommen. Das wäre sehr wichtig für uns alle.

Einen dicken Kuss und ich hänge Dir einen Auszug aus einem Interview mit Cora Coralina an, welches ich vor kurzem gelesen habe.

»Es ist wichtig, millionenfaches Lächeln der Solidarität und Freundschaft auszusäen und zu produzieren. Ich versuche, Optimismus zu säen und Samen von Frieden und Gerechtigkeit zu pflanzen. Mit Hoffnung sage ich, was ich denke. Ich denke darüber nach, was ich mache und glaube daran. Was ich machen muss, mache ich mit Liebe. Ich strenge mich an, jeden Tag etwas besser zu sein, denn auch Güte muss man erlernen.

Auch wenn es scheint, dass alles zusammenbricht, liegt es an mir, mich zu entscheiden zwischen lachen oder weinen, weitergehen oder stehenbleiben, aufgeben oder kämpfen; denn ich habe, auf dem ungewissen Weg des Lebens, entdeckt, dass das Wichtigste das Entscheiden ist«. (Cora Coralina)

***

Das Haus meiner Großmutter war auch nur eine vorübergehende Lösung. Ich wollte dort auch nicht wohnen. Ich musste mit ihr in einem Zimmer schlafen und der nächtliche Fußweg von der Universität zu ihrem Haus war auch nicht gerade ungefährlich.

Mit Beginn meines ersten Praktikums, fing ich an, Geld zu sparen um mir ein eigenes Plätzchen zu schaffen. Ich stand jeden Tag um 6.00 Uhr auf, arbeitete von 8:00 Uhr bis 18:00 Uhr, um dann direkt von der Arbeit zur Universität zu fahren. 70 Stunden während der Woche, samstags noch Vorlesungen und sonntags Lernen. Es gab keinerlei finanzielle Unterstützung vom Staat und ich hatte keine Alternative.

Glücklicherweise erhielt ich am Ende des Praktikums einen regulären Arbeitsvertrag und verdiente umgerechnet 250 Euro im Monat. Mein Einkommen hatte sich verdreifacht. Es ist kaum zu glauben, aber von diesem Geld bezahlte ich Miete, Essen, Kleidung, Transport und die Bücher für mein Studium.

Ich hatte ein kleines Zimmer im Hinterhof des Hauses einer Arbeitskollegin gemietet. Mit unverputzten Wänden und ohne Zimmerdecke. Durch die losen Dachziegel spritzte manchmal der Regen rein. Das Klo und die Dusche waren draußen vor der Tür. Warmes Wasser gab es nicht. Aber ich war glücklich. Ich hatte nun ein Plätzchen nur für mich. Der Beginn meiner Freiheit.

Meine 70-Stunden-Woche blieb mir erhalten. Und trotzdem hatte ich noch Energie und nahm mir Zeit für meinen Freund und ab und zu für Partys. Was man nicht alles schafft mit 20 Jahren und einer unbändigen Lebensfreude…

24. Tag (16. Februar 2012)

Die Idee, ein Buch zu schreiben, geht mir nicht aus dem Kopf. Ich weiß nur noch nicht, wie ich das machen soll. Ob ich es handschriftlich in eine Kladde schreibe, ob ich es in den Computer tippe oder ob ich einen Blog anfange, der später ein Buch werden könnte.

Die Behandlung wird zwei Jahre dauern. Oder länger. Viele Geschichten zum Erzählen, viele Gefühle zu leben. Ich weiß noch nicht einmal, ob es das wert ist. Aber irgendetwas muss doch einen Sinn ergeben.

***

E-Mail an meinen Mann

Mein Schatz, mein Leben, mein Alles,

alles OK mit Dir? Du fehlst mir. Du fehlst mir so sehr.

Ich weiß, dass es nicht leicht für Dich ist, und es macht mir Sorgen. Es scheint, dass immer alles gleichzeitig passiert. Und ich kann der ganzen Situation noch nicht einmal irgendetwas Positives abgewinnen, außer, dass ich bei dieser Kälte nicht aus dem Haus gehen muss.

Und Du musst Dich um alles alleine kümmern und Dich dann auch noch um Deine kranke Frau im Krankenhaus sorgen. Es war keine Absicht von mir, dass Du das alles meinetwegen durchmachen musst. Beziehungsweise, wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich auf ewig gesund und attraktiv für Dich bleiben. ;)

Ich will, dass Du auf Dich aufpasst. Ich will, dass Du entspannen kannst. Ich will, dass Du mit M. ein Bier trinken gehst (außer dienstags in der Diskothek!!!). Oder geh zu A., um Dich abzulenken. Ich will, dass Du dir Zeit nimmst, Gitarre zu spielen. Ich will, dass Du nachmittags ein Schläfchen halten kannst. Dass Du sonntagabends einen Tatort gucken kannst, am besten einen aus Münster. Ich will, dass Du über L.‘s Witze lachen kannst. Ich will, dass Du weiterhin Spaß hast, leckeres Essen zu kochen. Ich will, dass Deine Arbeit leichter wäre. Ich will, dass Du ein entspannendes heißes Bad nehmen kannst. Ich will, dass Du Zeit für Dich hast, dass Du Dinge machen kannst, die Du magst und die Dir wichtig sind.

Und weißt Du warum? Weil ich Dich bei meiner Rückkehr entspannt und fröhlich antreffen will, wenn du mich in deine Arme schließt. Ich will Dich glücklich sehen.

Ich will in Deinen Armen schlafen können (aber ohne mir weh zu tun!!!). Ich will deinen Geruch spüren. Ich will Deine Stimme hören. Ich will, dass Du eine neue Musik für mich singst. Ich will Deine wunderschönen Augen lachen sehen. Ich will mit Dir auf dem Sofa sitzen und Deine Hand streicheln. Ich will Deine lecker gekochten Saucen loben. Ich will Dich in Deinem Arbeitszimmer besuchen, während Du eine Zigarette rauchst. Ich will an die Badezimmertür klopfen, damit Du Dich beeilst. Ich will Dich anschubsen, wenn Du morgens nicht schnell genug den Wecker abschaltest. Ich will mit Dir nachmittags einen Kaffee trinken, mit oder ohne Kuchen. Ich will Dich um mich herum haben. Wissen, dass Du in meiner Nähe bist, wenn ich Dich brauche.

Unsere Liebe basierte von Anfang an auf den kleinen Dingen, auf den einfachen Momenten. Es tut so gut, eine einfache Liebe zu leben. Wir brauchen keine großen Liebesbekundungen. Aber dass Du am Dienstag überraschend nach Hamburg gekommen bist, war eine für mich! Danke!

Du tust mir so gut und ich möchte das Gleiche für Dich tun können!

Es sind jetzt schon mehr als acht Jahre reinster, leichtester und schönster Liebe.

Danke, dass ich Teil Deines Lebens sein darf! Ich liebe dich so sehr, mein Liebster. Mehr als du denkst. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute! ;)

Deine Bela

***

Mit 22 Jahren lernte ich meinen Mann kennen. Einen Deutschen, 25 Jahre älter als ich und mit zwei Kindern. Ich fing in seiner Firma an.

Ich sparte Geld, um mir ein Moped zu kaufen und mich auf diese Weise von der Plage des öffentlichen Transports zu befreien. Ich war es einfach leid. Irgendwann hatte ich genug gespart, um mir ein gebrauchtes Moped zu kaufen. Monate später hatte ich einen Unfall. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass mein linker Arm schmerzte.

Ich war 25 Jahre alt, als ich mein Diplom bekam. Nach einem halbjährigen Streik unserer Professoren und dadurch verlorener Zeit und Möglichkeiten. Aber ich war glücklich. Ich hatte es geschafft und von nun an mindestens 30 Stunden Arbeit weniger pro Woche.

In 2007 durchlebte mein Mann eine große Krise in seiner Firma. Und ich auch. Ich musste erleben, wie ihm das Erreichte und seine Träume entglitten. Ich dachte, dass es das schlimmste Jahr meines Lebens wäre. Ich dachte, nichts könnte schlimmer sein als miterleben zu müssen, wie mein Mann jeden Tag um drei Uhr in der Frühe aufsteht, um bis 22 Uhr zu arbeiten und zu versuchen, etwas zu retten, das nicht mehr gerettet werden konnte. Er versuchte es aber und versuchte auch, dabei einigermaßen gesund zu bleiben. Aber nach eineinhalb Jahren nahm ich das Risiko und die Verantwortung auf mich, zu beenden, was beendet werden musste: Mitarbeiter zu entlassen, Kredite zu tilgen, zu verkaufen, was zu verkaufen war, zu verhandeln, was zu verhandeln war und ein Zuhause für uns zu finden, das bezahlbar war.

Ich war 27 Jahre alt und hatte das Gewicht schwerer Entscheidungen zu tragen.

***

Die Tage in Hamburg verliefen weitgehend gleich. Ich wachte auf, wenn die Krankenschwestern ins Zimmer kamen und wartete auf das Frühstück. Auf der Infektionsstation kommt sogar ein Zimmerservice! Nicht, dass es uns verboten war, das Zimmer zu verlassen, aber wir durften beispielsweise keine Speisen berühren. Hygienevorschriften. So bekamen wir unsere Mahlzeiten auf dem Zimmer serviert. Sogar ein Frühstücks- und Abendessenbuffet. Und mittags gab es eine warme Mahlzeit à la Carte.

Die Infrastruktur des Krankenhauses war fantastisch. Und genauso die Krankenschwestern und Pfleger. Alle sorgten sich rührend um mich und waren immer perfekt darüber informiert, was gerade passierte.

Ich lag in einer Universitätsklinik, und dies bedeutete, dass viele Studenten die Arztvisiten begleiteten. Weil ich ein sehr seltener Fall war, wurde ich mehrmals von Studentengruppen besucht. Anfangs fühlte ich mich richtig gut dabei. Wie eine Berühmtheit. Vermutlich war ich der einzige Leprafall, den sie im Laufe ihres Studiums zu Gesicht bekamen. Meine behandelnden Ärzte baten mich vorher immer um Erlaubnis und vereinbarten mit mir eine Uhrzeit für die Besuche. Sie kamen meistens zu zweit oder zu dritt. Ich sollte ihre Fragen beantworten, ohne meine Diagnose zu nennen. Das war ihre Aufgabe.

Keiner von ihnen kam auf die richtige Idee. Eine undenkbare Krankheit. Selbst in einer Universitätsklinik in Deutschland.

Am Ende dieser Tage war ich die ganze Fragerei leid und es machte mich psychisch fertig, zum achten oder neunten Mal die gleiche Geschichte erzählen zu müssen. Ich habe mich aber nicht beklagt, weil ich es richtig fand, meinen Teil beitragen zu können. Ich war geduldig und beantwortete alle Fragen so umfangreich und detailliert wie beim ersten Mal.

Über die Besuche der Studenten hinaus, erhielt ich auch Besuche von anderen Ärzten und Wissenschaftlern, die noch nie einen ähnlichen Fall gesehen hatten. Möglicherweise hatten sie ja schon einmal eine Lepra gesehen, aber wohl noch nie einen so schweren Fall.

Sie fragten immer: Wo glaubst Du, dass Du Dich angesteckt haben könntest? Und meine Antwort war immer die gleiche: Ich habe nicht die geringste Idee. Und ich weiß es wirklich nicht. Ich habe einen leichten Eindruck, dass es vor sieben Jahren durch einen Motoradunfall passiert sein könnte. Denn es war das einzige Mal, dass ich mit einer offenen Wunde in einem Krankenhaus war und Kontakt mit anderen Notfällen gehabt haben könnte. In öffentlichen Krankenhäusern in Brasilien herrschen andere Hygienebedingungen als in Deutschland. Und manchmal ähnelt eine Notfallaufnahme eher einem Schlachthaus. Es war an sich der einzige Moment, an den ich mich erinnere, in dem eine Tür für die Bakterien geöffnet war.

Die Ansteckung von Lepra ist anders als die einer Grippe und die Inkubationszeit bis zum Ausbruch kann Jahre betragen. Gleichwohl, es gibt so viele Theorien und so viele Möglichkeiten…

Seitdem ich meine Diagnose kenne, habe ich mir bei dem Versuch, die Situation zu verstehen, meinen Kopf gemartert. Ich überlegte, was ich im Laufe des Lebens falsch gemacht haben könnte, damit das Bakterium in meinen Körper eindringen konnte. Ich bin zu keinem Ergebnis gekommen. Ich habe aufgegeben darüber nachzudenken. Ich weiß nicht, wie ich mich angesteckt habe, und ich werde es niemals wissen. Nun heißt es zu versuchen, mit den Tatsachen zu leben. Im Krankenhaus versuchte ich, meine Tage so gut wie möglich zu gestalten und nicht mehr daran zu denken. Ich richtete meine Konzentration auf die Gegenwart.

Währenddessen wusste meine Familie in Brasilien nicht, dass ich das Krankenhaus gewechselt hatte. Und ebenso wenig, dass ich eine Leprareaktion des Typs II hatte. Was sie wussten, und was sie bis heute glauben, ist, dass ich unter den Nebenwirkungen der Medikamente litt und zur Beobachtung blieb. Für sie war der deutsche Perfektionismus »Schuld« daran, dass ich immer noch im Krankenhaus lag. Es war mir unmöglich, Ihnen über 8.000km Entfernung die Wahrheit zu erzählen. Nur mein Onkel kannte die halbe Wahrheit. So war es besser für alle. Vielleicht eines Tages, live…

***

Nachdem die Firma meines Mannes abgewickelt war, beschloss ich, mich selbständig zu machen und in meine eigene Karriere zu investieren. Im Jahr 2008 gründete ich ein Beratungsunternehmen für Nichtregierungsorganisationen. Diese Arbeit machte mir sehr viel Spaß und verschaffte mir große Befriedigung. Ich verdiente gutes Geld und konnte unseren Lebensunterhalt finanzieren.

In dieser Zeit kam ich zum ersten Mal für vier Wochen Urlaub nach Deutschland. Die Reise hatte die Familie meines Mannes bezahlt, um uns zu helfen, Mut zu finden, unser Leben zu ändern und das Land zu wechseln. Mein Mann konnte sich nicht vorstellen, aus Brasilien wegzuziehen, zumal seine Kinder dort bei ihrer Mutter lebten. Aber er brauchte ein neues Leben, eine neue Arbeit, eine neue Richtung, und deswegen war ich entschlossen, mit ihm nach Deutschland zu gehen. Mir war aber auch klar, dass die kommenden Jahre eine Menge Planung, Arbeit und Ungewissheit bedeuten würden, falls wir nach Deutschland gingen.

25. Tag (17. Februar 2012)

Ich versuche, mir einen halbwegs klaren Kopf und Humor zu bewahren. Aber immer, wenn ich mit den Ärzten rede, falle ich in ein Loch. Es ist deprimierend, ständig vom Arzt zu hören, dass es noch nicht zufriedenstellend sei oder dass mein Fall der komplizierteste sei, den sie je hatten.

Ich soll bis Montag warten, um zu sehen, ob eine Besserung eintritt, oder um eventuell eine alternative Behandlung anzufangen. Ich muss mich sehr zusammennehmen, aber es fällt mir nicht leicht.

Ich bin sehr angespannt und würde gerne etwas mehr Privatsphäre haben, um weinen zu können und meine Emotionen loszuwerden. Ich glaube, dass mein Zittern eher emotional bedingt ist als durch die Medikamente verursacht. Meine Bettnachbarin wurde heute entlassen, und ich hoffte, allein bleiben zu können, und wenn es nur für eine Nacht sei. Aber ich wurde sofort in ein anderes Zimmer verlegt.

Manchmal habe ich das Gefühl, im Kreis zu laufen. So viele Behandlungen und so wenig Fortschritte. Auch bin ich es leid, ständig über dasselbe Thema zu sprechen und zu versuchen, den Leuten begreiflich zu machen, was gerade in mir vorgeht. Auch wenn ich das Vorgehen der Ärzte nachvollziehen kann, fühle ich mich gleichzeitig verloren, weil ich keine konkreten Resultate sehe. Das Verlangen, nach Hause zu kommen und mein Leben wieder aufzunehmen, ist größer. Ich will gesund werden und ich weiß, dass es, früher oder später, der Fall sein wird. Aber einfach ist das nicht. Definitiv nicht!