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2Die Tibeter nennen den Mount Everest nicht Mount Everest, sondern Chomolungma. Übersetzt heißt das »Göttinmutter der Erde«. Es gibt jedoch auch die Übersetzung »Muttergöttin der Erde«, die mir persönlich besser gefällt. Wer auf ihrem Haupt stehen will, braucht Zeit. Viel, viel Zeit. Eine gute Akklimatisation dauert vier bis sechs Wochen und beginnt für uns schon in Lhasa, der tibetischen Hauptstadt, auch »die verbotene Stadt« genannt. Wir erreichen sie – nach einem Zwischenhalt in Kathmandu, der Hauptstadt Nepals – am 2. April 2001. Meine Akklimatisation kann beginnen.
Lhasa heißt übersetzt »der Ort der Götter«. Es ist ein heiliger Platz, der auf 3600 Metern über dem Meer liegt. Höher, auf 3700 Metern, liegt nur noch La Paz in Bolivien. Die dünne sauerstoffarme und vor allem trockene Luft löst bei mir einen starken Husten aus. Ich ignoriere ihn, so gut es geht, schließlich will ich nicht das Bett hüten, sondern auf den Markt gehen, mit Menschen sprechen und das Symbol der tibetischen Eigenständigkeit besuchen: den »Potala«. Ein unglaublich beeindruckendes Bauwerk, das, seit Brad Pitt als Heinrich Harrer im Film »Seven Years in Tibet« auf seinen Stufen stand, neue Popularität erlangt hat. Der Palast liegt auf dem »Roten Hügel« und ist in seiner vollkommenen Schönheit schwer zu beschreiben. 130 000 Quadratmeter groß, 117 Meter hoch, gebaut aus Stein und Holz, mit über tausend Räumen, unzähligen Fresken und Statuen, erhebt er sich hoch über die Stadt. Der Potala gilt als die offizielle Residenz des religiösen und weltlichen Oberhauptes der Tibeter, des Dalai-Lama. Der vierzehnte Dalai-Lama lebt infolge der chinesischen Besetzung jedoch nicht im Potala in Lhasa, sondern im Exil im nordindischen Dharamsala.
Im Morgenlicht erstrahlt der Palast in seiner ganzen märchenhaften Mystik, die nicht in Worte zu fassen ist. Ich schöpfe hier neue Kräfte – die Heilung meines Hustens allerdings hole ich mir aus dem Medikamentenschrank. Es ist wichtig, ihn loszuwerden, bevor die Luft noch trockener wird. Das Antibiotikum macht mich müde, aber es hilft. Ich fühle mich sehr viel besser, als wir uns mit dem Jeep in Richtung Basislager aufmachen. Als wir das Dorf Tingri passieren, sehe ich sie zum ersten Mal, die Muttergöttin der Erde. Ich schaue sie lange an, frage mich, ob sie mich wohl mögen oder abweisen wird – ich spüre Zuversicht.
Am 9. April 2001 erreichen wir nach einer äußerst unangenehmen Fahrt über Geröll und Eis Rongbuk, das höchstgelegene Kloster der Welt. Nun trennen uns noch fünfzehn Minuten Jeepfahrt vom Basislager, das auf 5200 Metern liegt.
Endlich! Es ist ein schönes Gefühl, im Basislager anzukommen und nicht mehr fahren zu müssen. Ich stelle mein Zelt auf und richte mich so gut wie möglich häuslich ein.
Es ist kalt hier oben. Der Wind bläst unablässig, die Gegend ist äußerst karg, eine Steinwüste. Kein Blümchen, kein Grün, nur Grau. Und immer kalte Füße. Ich frage mich, was ich hier tue. Und doch würde ich um kein Geld der Welt von hier wegwollen.
Für Russells Team wurden sieben Tonnen Material ins Basislager geschleppt. Mannschaftszelt, Küchenzelt, Nahrungsmittel für zehn Wochen, Satellitentelefon, Sauerstoff, Computer. Wir sind nicht die Einzigen im Basislager. Ich bin erstaunt, wie viele Expeditionen hier sind. Wir treffen auf Gruppen aus Indien, Venezuela, Russland, Frankreich, Kolumbien, Asien, Schottland und Spanien; auf einen bunt gemischten Haufen also. Wir erfahren, dass eine amerikanische Expedition, unter der Leitung von Dave Hahn, bereits in Richtung Lager II unterwegs ist. Dave Hahn und seine Leute sind wieder auf der Suche nach Spuren der 1924 am Mount Everest verschollenen Engländer George Mallory und Andrew Irvine.
Wir bleiben, wo wir sind, auf 5200 Metern. Unsere Körper brauchen Zeit für die komplexen Vorgänge der Akklimatisation. Unter vielem anderem geht es dabei auch darum, die Zahl der roten Blutkörperchen zu erhöhen, die den Sauerstoff von den Lungen in alle Körperteile transportieren.
Die Rechnung ist einfach: Je mehr rote Blutkörperchen das Blut enthält, desto mehr Sauerstoff kann im Körper gebunden werden. Ein gesunder erwachsener Körper verfügt über rund 25 000 Milliarden rote Blutkörperchen. In einer Höhe von 4500 Metern erhöht sich dieser Wert um circa zehn Prozent. Es ist erstaunlich, welche Fähigkeiten der menschliche Organismus besitzt, um sich an veränderte Bedingungen anzupassen.
Ich fühle mich abhängig. Die Sherpas schleppen für uns das Material, mein Körper sorgt dafür, dass ich zu mehr Sauerstoff komme, nur ich – ich kann nicht mehr tun als abwarten. Und ab und zu mit den andern in unserem Mannschaftszelt sitzen, einen Whisky trinken, schwatzen, zuhören. Erfahren, wer schon wie viele Male am Mount Everest war und wer schon wie oft gescheitert ist. Immerhin würde ich in zwei Tagen damit beginnen können, auf die umliegenden Sechstausender zu steigen, um mich an die dünne Luft zu gewöhnen.
Trotzdem ist die Akklimatisation eine Verbannung ins Nichtstun. Es ist schwer auszuhalten und erinnert mich an meine Schulzeit, als ich vor lauter Energie, die ich nicht zu kanalisieren wusste, immer überbordete. Keine Rauferei auf dem Pausenplatz, bei der nicht mindestens mein freches Mundwerk mit im Spiel gewesen wäre. Und im Schulzimmer interessierte mich das, was hinter oder neben mir geschah, viel mehr als das, was vorne, an der Wandtafel, erzählt wurde. Ich war unruhig. Eine Stunde still zu sitzen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Ich war nervig, und höchstwahrscheinlich war ich hyperaktiv. Dass all dies nicht nur für Lehrer und Eltern schwierig, sondern dass meine überschäumende Energie auch für mich selbst ein Problem war, das realisierte ich erst viel später.
Mein Körper allerdings reagierte schon früh. Auf einer unserer unzähligen sonntäglichen Familienwanderungen startete er durch. Mutter, Vater und Schwester gingen den Berg hinauf – ich jedoch, ich rannte. Das kam ganz plötzlich, ohne äußeren Anlass, aus einem inneren Antrieb heraus. Ich rannte und rannte, wurde nicht müde, rannte weiter. Und als ich oben war, fühlte ich mich ausgepumpt und vollkommen glücklich. Von da an rannte ich, wenn die andern wanderten. War ich oben angekommen, wartete ich.
Als ich ungefähr dreizehn war, wurde ich von Remo Zberg, dem Leiter des Turnvereins Hergiswil, gefragt, ob ich nicht in seinem Verein mitmachen wolle. Ich wollte. Und wie. Remo war der Leichtathletik sehr zugetan, war ein guter Läufer und verwandelte den Hergiswiler Turnverein bald schon in einen regional erfolgreichen Leichtathletik-Club.
Ich entschied mich für die Mittelstrecke, lief 800 Meter, und zwar so, dass ich im Ziel jeweils glaubte, sterben zu müssen. Das Rennen selbst war nicht sehr anstrengend, aber der Zieleinlauf überstieg das Erträgliche. Ich war jeweils einer Ohnmacht nahe, alles schmerzte, meine Muskeln waren total übersäuert, ich meinte, erbrechen zu müssen.
Nach mir traten noch zwei Mädchen in den Club ein, die Jungs akzeptierten uns. Ich fühlte mich aufgehoben, fand Kollegen, mit denen ich nicht nur in der Freizeit viel unternahm, sondern mit denen ich mich auch messen konnte. Nicht in sinnlosen Raufereien, sondern auf der Tartanbahn.
Remo Zberg war ein guter Trainer, voller Enthusiasmus und mit einer unglaublichen Fähigkeit, uns die Freude am Laufen zu vermitteln.
Um Schnelligkeit zu üben, rannten wir bergab. Auf einer Asphaltstraße. 200 Meter. Unten angekommen, joggten wir wieder hinauf. Das machten wir zwanzig Mal hintereinander. Immer mit dem einen Ziel, dass der letzte der zwanzig Läufe nicht langsamer war als der erste. Drill. Aber einer, der mir entsprach. Ich war das absolute Trainingstier. Endlich konnte ich meine Energie kanalisieren. Vier Jahre lang gab ich mein Bestes, nein, ich gab alles. Mehr noch, ich gab zu viel. Kriegte eine Knochenhautentzündung samt Achillessehnenentzündung und stieg am Morgen aus dem Bett wie eine sehr, sehr alte Frau, dabei war ich gerade mal achtzehn Jahre jung. Ich hatte Wasser in den Beinen, die Füße schmerzten, es vergingen Minuten, bis ich, ohne zu hinken, gehen konnte. Aber aufhören, das wollte ich auf keinen Fall. Unmöglich. Denn ohne Laufen war sie wieder da, die Unruhe.
Ich hatte damals einen Kollegen, der ruderte. Und zwar so gut, dass er an der Olympiade teilnehmen durfte. Neben dem Training arbeitete er als Schreiner. Seine Tage waren ausgefüllt mit Ausdauertraining, Rudertraining und Geldverdienen. Außer montags, da arbeitete er ausschließlich in der Schreinerei, machte nicht das geringste Training, sondern ruhte sich aus. Ich begriff nicht, wie man einen Tag durchstehen konnte, ohne körperlich etwas zu tun.
Auch heute fühle ich mich erst dann richtig wohl, wenn ich physisch ausgepumpt bin. Dann habe ich die Ameisen – die roten, nicht die schwarzen –, die mir durch Arme und Beine kribbeln, unter Kontrolle. Ohne »Auslauf« werde ich unausstehlich. Das ist wie bei einem Schlittenhund. Sperrt man den Husky einen Tag lang ein, kann man ihn am nächsten Tag nicht mehr bremsen. Zwei Tage hintereinander kein Auslauf, und er verliert das Feuer in den Augen. Dass ich mein Feuer behalten konnte, verdanke ich unter anderem Remo Zberg, der mir nicht nur Lauftechnik vermittelte, sondern auch die Philosophie des Laufens.
Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Er gab mir noch mehr. Er war für mich – ohne es zu wissen – ein Fallschirm. Seine Frage, ob ich im Verein mitmachen wolle, bedeutete mir unendlich viel. Ich wurde wahrgenommen. Da war einer, der glaubte, dass ich etwas leisten konnte.
Wäre Remo Zberg nicht gewesen, ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre. Ich war damals in einer unglaublich schwierigen Phase. Hochpubertär, wie ich war, wollte ich alles sein, bloß eines nicht: angepasst. Ich wollte nicht so ernsthaft, pflichtbewusst, organisiert und verplant sein wie die Erwachsenen. Ich wollte frei sein. Und frei sein bedeutete für mich nächtelang mit älteren Kollegen in dunklen Schuppen herumhängen, rauchen, trinken und Spielsalons aufsuchen. Letzteres war das Faszinierendste, weil ich – gerade mal dreizehn Jahre alt – dank meiner Größe überall problemlos reinkam. Meinen Eltern log ich in dieser Zeit das Blaue vom Himmel herunter. Und wurde dabei nicht mal rot. Sie glaubten, ich verbringe die Abende bei Freundinnen, um für die Schule zu lernen. Remo Zberg schenkte mir in einer Zeit der Orientierungslosigkeit nicht nur Vertrauen in mich selbst, er eröffnete mir auch Perspektiven und gab mir das Wichtigste überhaupt: Ziele.
Remo Zberg, Leichtathletik-Trainer
Evelyne fiel mir im Schulsport auf. Ein Mädchen, das immer in Bewegung war, selbst dann, wenn es nichts tat. Evelyne war die Unruhe selbst und darüber hinaus ein aufgestelltes, immer fröhliches Wesen, dessen Lachen aus dem Innersten kam. Sie war ein Mädchen, das man einfach gern haben musste. Ich hatte das Gefühl, sie passe in unseren Verein, und fragte sie, ob sie bei uns mitmachen wolle. Sie wollte. Und wie.
Ich hatte weder vorher noch nachher ein solch talentiertes junges Mädchen unter meinen Fittichen, keines, das so diszipliniert und trainingseifrig war wie sie. Evelyne war – zumindest anfangs – absolut unproblematisch und für ihr Alter von einer geradezu bemerkenswerten Zuverlässigkeit. Und erst noch äußerst kollegial.
Mit ihren Leistungen war sie nie zufrieden. Immer orientierte sie sich nach oben, wollte besser werden, wollte so gut sein wie die älteren Läuferinnen in der Elite.
Ich erkannte bald, dass sie keine explosive, schnell kräftige Athletin war, sondern eine, deren Stärke in der Ausdauer lag. Sie war die geborene Langstreckenläuferin, doch mit ihren dreizehn Jahren war sie dafür noch zu jung. Also trainierte ich sie auf der Mittelstrecke, auf 800, 1000 und 1500 Metern. Schließlich musste sie zuerst eine gewisse Schnelligkeitsbasis entwickeln.
Bald schon brillierte sie in ihrer Alterskategorie bei den Schweizer Meisterschaften und wurde – über 1500 Meter – sogar mal Fünfte. Ich bin mir sicher, ihr Potenzial hätte gereicht, um in die Weltspitze vorzudringen.
Sie setzte die Techniken, die ich ihr beibrachte, schnell um und begriff bereits in jungen Jahren, dass Leistung im Kopf beginnt. Allein mit Körperkraft und Ausdauer ist im Sport noch keiner groß geworden, der Geist, das Wollen, das Sich-zurücknehmen-Können in die Ruhe, kurz, das Mentale spielt eine sehr große Rolle. Man kann es auch anders ausdrücken: Einen langfristigen Erfolg haben nur Sportler, deren Geist und Körper harmonieren. Und das taten sie bei Evelyne von Anfang an. Dass aus ihr trotz dieser Voraussetzungen keine erfolgreiche Läuferin geworden ist, ist einzig und allein ihrem Bewegungsdrang zuzuschreiben. So seltsam es klingt, sie trainierte ganz einfach zu viel.
Evelyne genügte das Training, das ich für sie ausgearbeitet hatte, bald nicht mehr. Sie hielt keine Ruhepausen ein und machte mir dauernd Striche durch die Rechnung. Kaum hatte sie eine freie Minute, rannte sie auf alle möglichen und unmöglichen Berge, und zwar in einem, selbst für mich, Schwindel erregenden Tempo. Und weil ihr das noch immer nicht genügte, fuhr sie zusätzlich mit dem Bike.
Später, in der Lehre, die sie in Engelberg absolvierte, fuhr sie mit dem Fahrrad jeden Abend von Engelberg nach Hergiswil. Immerhin 26 Kilometer. Als ich ihr dies als »definitiv zu viel des Guten« ausreden wollte, erklärte sie, sie verzichte nicht auf diese Fahrten, schließlich sei sie mit dem Rennvelo schneller zu Hause als mit dem Zug. In der Lehre begann sie auch, im Winter exzessiv Ski zu fahren und im Sommer zu klettern. All das hat nicht dazu beigetragen, dass sie in der Mittelstrecke schneller geworden wäre. Falsches Training, weil unkontrolliert. Ihr Körper reagierte entsprechend, machte Entzündungen. Sie litt unter starken Schmerzen – doch nicht mal diese konnten sie bremsen.
1986 hatte ich genug davon, ich stellte sie vor die Entscheidung. Entweder sie trainiere wie eine Leichtathletin und würde eine Topsportlerin auf der Langstrecke, oder sie tue weiterhin, was sie wolle, und suche ihr Glück woanders.
Evelyne entschied sich für den Alpinismus, und ich versuchte, ihr meine Enttäuschung nicht allzu sehr zu zeigen. Ich wusste damals längst, dass sie ihren Weg gehen würde.
Jahre später, sie hatte bereits das Bergführerinnenpatent in der Tasche, organisierte der Schulrat Hergiswil einen Kletter-Event und fragte sie, ob sie uns an der Kletterwand betreuen würde. Als wir ein paar Wochen später wie die Fliegen an der Wand klebten, holte sie das Letzte aus uns heraus. Sie begeisterte alle. Ohne Ausnahme. Frauen genauso wie Männer.
Evelyne wurde zwar keine Spitzenläuferin, eine Ausnahmeerscheinung ist sie auf jeden Fall geblieben. Ihr Charisma ist einzigartig.
3Russells Bergführer sind die beiden Amerikaner Andy Lapkass und Chris Warner sowie der Däne Asmus Morreslet. Asmus war voriges Jahr zum ersten Mal auf dem Dach der Welt. Chris hat dem Mount Everest bisher andere Achttausender vorgezogen, und Andy stand schon zwei Mal auf dem Gipfel. Mit ihm verbindet mich eine herzliche Beziehung, die aber immer auch etwas distanziert ist. Mir gefällt dieses Reservierte. Zu viel Nähe halte ich nicht aus.
Das Leben im Basislager hat bereits seine Routine. Wie in einem kleinen Dorf kennt man die Leute der 22 Expeditionen, baut zu den einen eine stärkere Beziehung auf als zu andern – so wie in jeder Nachbarschaft.
Dass wir alle dasselbe Ziel verfolgen, stärkt unseren Gemeinschaftssinn sehr. Man besucht sich, sagt »salü«, trinkt Tee zusammen, unterstützt sich. Die, die ihr vorgeschobenes Basislager bereits eingerichtet haben, geben den andern Tipps. Es herrscht ein guter Zusammenhalt, der aber bei jedem Wetterwechsel in sich zusammenzubrechen droht.
Das Wetter ist das Zünglein an der Waage. Die Besteigung des Mount Everest ist nur an wenigen Tagen im Jahr möglich, immer dann, wenn sich die Winde verschieben. Wenn der Jetstream mit seinen unglaublichen Geschwindigkeiten von bis zu 300 Stundenkilometern den Monsunwinden Platz macht. Dieses Wetterfenster dauert in der Regel nur wenige Tage und entscheidet über Erfolg oder Misserfolg. Es gibt Jahre, in denen der Berg sein Fenster gar nicht öffnet.
Die Abhängigkeit vom Wetter und von seinen Launen wirft jeden auf sich selbst zurück. Jeder bleibt für sich. Ganz auf sich allein gestellt ist jedoch keiner. Nicht mal Russell und seine Bergführer Andy, Chris und Asmus. Wie wir alle werden auch sie behütet und betreut. Von den Sherpas. Ohne sie könnten die meisten gleich wieder zusammenpacken. Russell hat ein festes Team von Sherpas, für die er – genau wie für uns auch – in Tibet Bewilligungen einholen musste, damit sie von Nepal nach Rongbuk reisen durften.
Es sind die Sherpas, die die eigentliche Bergführeraufgabe übernehmen. Am Berg haben wir Westler im Vergleich zu ihnen nicht die geringste Chance. Weder in Bezug auf Leistung und Ausdauer noch in Bezug auf Mentalität und Hilfsbereitschaft. Wir sind viel zu egoistisch eingestellt, haben weder die Ruhe noch die Größe, um uns mit ihnen messen zu können. Es sind die Sherpas, die schon viele erfolgreiche Rettungen oberhalb von 8000 Metern vorgenommen haben. Dort also, wo es eigentlich keine Rettung mehr gibt. Ohne sie wären auch zwei von uns am Berg geblieben. Für immer.
Erzähle ich von den Sherpas, beobachte ich oft, dass viele Leute glauben, ein Sherpa sei ein Mann, der nicht viel redet, dafür aber umso mehr Material schleppt. Ein Lastesel eben. Dem ist nicht so.
Die Sherpas sind ein Volk, das geografisch zwar in Nepal, ethnisch aber nach tibetischer Kultur lebt. Die Sherpas kommen in der Höhe unglaublich gut zurecht. Dort, wo wir kaum mehr genügend Kraft für uns selbst aufbringen, geschweige denn für andere sorgen können, schleppen sie nicht nur schwere Lasten, sondern stellen Zelte auf, spannen Fixseile, schmelzen Schnee und gehen für uns immer wieder Gefahren ein.
Auch Robert und ich profitieren von ihrer Kraft und Ausdauer. Die Sherpas richten für uns die Lager ein und bringen einen Teil der Ausrüstung bis auf 8400 Meter. Leider gibt es Mount-Everest-Besteiger, für die Selbstverantwortung am Berg nicht existiert. Sie lassen sich von den Sherpas nicht nur am Seil auf den Gipfel begleiten, sondern geben ihnen auch noch den Rucksack zum Tragen.
Einen Sherpa kann man um sehr, sehr vieles bitten, denn ein Nein kommt ihm selten über die Lippen. Das liegt in seiner Religion, dem Buddhismus, begründet. Buddhisten glauben, dass sie durch eine Folge von Wiedergeburten eine geistige Vollkommenheit erreichen. Wie sie reinkarniert werden, bestimmt das Karma, das besagt, dass alle Handlungen in diesem Leben einen Einfluss haben auf das nächste.
Schlagzeilen machen die Sherpas fast nie, wir sind es, über die geschrieben wird. Für die Sherpas gibt es höchstens mal eine kleine Pressenotiz, dann zum Beispiel, wenn einer von ihnen sein Leben am Mount Everest gelassen hat.
Eine Ausnahme war Sherpa Tensing Norgay, der Mann, der am 29. Mai 1953 zusammen mit dem Neuseeländer Edmund Hillary als erster Mensch auf dem Dach der Welt stand und internationale Berühmtheit erlangte.
Fast dreißig Jahre zuvor, 1924, schrieben George Leigh Mallory und Andrew Irvine Everest-Geschichte. Noch immer ist nicht geklärt, ob die beiden Engländer auf dem Weg nach oben verschwanden oder aber auf dem Weg nach unten, was bedeuten würde, dass Sherpa Tensing und Hillary nicht die Ersten waren, die auf dem Gipfel standen. Was Hillary allerdings egal zu sein scheint. »Es kann gut sein, dass ich nicht der erste Mensch war, der oben stand, ich war aber unter Garantie der Erste, der wieder zurückkam«, meinte er einmal.
Was mit Mallory und Irvine wirklich geschehen ist, darüber wird heute noch heftig spekuliert. Am 1. Mai 1999 machte eine amerikanisch-deutsche Expedition auf 8250 Metern eine fantastische Entdeckung: Mallorys Körper – konserviert von Eis und Kälte. Neben ihm seine Ausrüstung. Leider fehlte die Kamera, die die Engländer bei sich hatten und von der man sich schlüssige Beweise darüber erhoffte, ob die beiden beim Aufstieg oder aber beim Abstieg ums Leben gekommen sind. Nach Irvine und der Kamera sucht man noch immer.
Irvine sollte auch bei unserer Expedition von Bedeutung sein. Andy, der den Mount Everest schon zweimal erfolgreich von der Südseite her bestiegen hat, erzählt mir von ihm. Nicht am Anfang, sondern erst am Ende unserer Expedition. Andy liegt in seinem Zelt. Er könnte ebenso gut tot sein. Er erzählt mir, dass ihn seit Jahren der immer selbe Traum verfolge. Eigentlich, sagt er, träume er eine Fotografie, ein Standbild. Er träume vom letzten Grat vor dem Gipfel, sehe dessen weiche, schneebedeckten Wölbungen und wisse, er müsse nochmals rauf und wieder rauf, so lange rauf, bis er den Traum nicht mehr träume. Dann spricht er von Irvine. Sagt, er habe das Gefühl, es sei der Geist Irvines, der ihn antreibe, es auch von der Nordseite her zu versuchen. Er glaube, dass er für Irvine den letzten Grat bis zum Gipfel des Mount Everest hinaufsteigen müsse, das letzte Stück der Route, das Irvine wahrscheinlich nicht gegangen ist. Er fühle zwei Kräfte in sich, die eine, die ihn noch einmal auf den Gipfel treibe, die andere, die mit dem Mount Everest abschließen und endlich heiraten wolle. Das Reden bereitet ihm große Mühe, er fragt, ob ich ihn verstehe. Statt einfach Ja zu sagen und weil ich sehe, wie sehr ihn das Sprechen ermüdet, erzähle ich ihm eine Geschichte. Ich erzähle ihm meine Geschichte von Patagonien.