Читать книгу: «Tatort Bodensee», страница 3

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Horst blickte seinen Kollegen verwundert an. Thomas, den er bisher nur als die Leutseligkeit in Person gekannt hatte, schien mit einem Mal ein ganz anderer geworden zu sein. Nervös, fahrig, sich ständig hastig umblickend, kratzend, polternd: So hatte er den Kriminalkommissar aus Meersburg noch nie erlebt! Er beugte sich leicht vor und sah Thomas direkt ins Gesicht: »Sag mal, ist alles in Ordnung mit dir? Du bist so nervös, wie ich dich noch nie vorher gesehen habe! Stimmt irgendetwas nicht?«

Thomas schoss erkennbar die Röte ins Gesicht. Verlegen schaute er zur Seite, senkte den Kopf und sagte gar nichts. Horst spürte, dass da etwas war, mit dem Thomas innerlich kämpfte. Am besten, er wartete ab und ließ ihn den Kampf mit sich allein ausfechten. Erst nach einer ganzen Weile hob Thomas den Kopf und öffnete zögernd den Mund. »Ja also, weißt du, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen …«

Doch gerade in diesem Augenblick kam die Bedienung mit zwei Gläsern Wein und unterbrach die Unterhal­-

tung. »Bitte schön, zwei Kaiserstühler Gutedel. Sehr zum Wohl!«

Verwundert blickten die beiden erst sich, dann die Bedienung an. Horst fand als erster die Sprache wieder: »Wer hat denn hier Weißwein bestellt?«

»Na, der Herr da neben Ihnen!« Für die Bedienung schien alles glasklar zu sein. Sie deutete mit dem Zeigefinger auf Thomas.

Der reagierte mit einem zornigen Schnauben. »Also, jetzt glaub ich das auch noch! Ich und Weißwein, und dann noch«, er nahm einen vorsichtigen Schluck aus dem Glas. »Dachte ich’s mir doch! Honigsüß! Also, dass das klar ist!« Mit strengem Blick fixierte er die nun schon deutlich eingeschüchterte Bedienung. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch kein Glas lieblichen Weißwein getrunken, und schon gar keinen Gutedel. Das kann ich also in hundert Jahren nicht bestellt haben. So – nehmen Sie also das Gesöff wieder mit«, damit griff er sich die beiden Gläser und stellte sie energisch zurück aufs Tablett, »und dann bringen Sie mir das, was ich auch bestellt habe: nämlich zwei Gläser Weißherbst, trocken natürlich. Und zwar Überlinger, Überlinger Spitalweingut! Und falls Sie das nicht haben, dann einen Birnauer oder einen Hagnauer oder meinetwegen einen Meersburger! Aber bitte: Weißherbst, trocken und kühl – Okay? Okay!« Mit einer energischen Handbewegung schob er die verdatterte Bedienung samt ihrer zwei vollen Weißweingläser zurück in Richtung Lokal und lehnte sich mit einem resignierten Seufzer zurück. »Ich sag’s ja: die Bedienungen am See! Es gibt Tage, da kommt wirklich alles zusammen!«

Horst wunderte sich aufs Neue über die Aggressivität, die Thomas heute an den Tag legte. Beruhigend legte er seine Hand auf die Linke seines Gegenübers. »Na komm, ist doch kein Beinbruch! Kann doch mal passieren! Und wenn du es richtig betrachtest: Du hast doch nur das leere Glas gehoben und drauf gedeutet – da kann man doch schon mal im Eifer des Gefechts was verwechseln, oder?«

»Fall du mir ruhig auch noch in den Rücken! Einer mehr oder weniger, das spielt ja allmählich auch keine Rolle mehr!« Bitter zog Thomas die Mundwinkel he­runter und starrte auf den Boden.

»Aber jetzt halt mal langsam die Luft an! Keiner ist gegen dich! Ich zumindest nicht! Jetzt spuck aber endlich mal aus, wo denn eigentlich der Schuh drückt!« Horst stand auf und zupfte seinen Kollegen am Hemdsärmel. »Wir gehen aber besser rein, denn ich glaube, es dauert nimmer lang, und dann wütet es hier draußen wirklich!«

Mittlerweile hatte sich das anfänglich so laue Som­mer­abendlüftchen in einen unangenehm blasenden Wind verwandelt, der auf dem See draußen für die ersten Schaumkronen auf den Wellen sorgte. Es war dämmrig geworden und der gerade eben noch so romantisch-friedlich schimmernde See hatte eine unschöne schwarzgraue Farbe angenommen. Das Alpenpanorama war wie mit einem Schlag verschwunden und dunkle Gewitterwolken verdeckten die Berge. Die orangenen Lichter an der Uferlinie blinkten mittlerweile hektischer – genau 90 Mal in der Minute: Sturmwarnung!

5

Der nächste Morgen war grauenhaft – im wahrsten Sinn des Wortes. Dröhnende Kopfschmerzen hatten dazu geführt, dass Horst bereits um 6 Uhr in der Frühe aufgewacht war, an Weiterschlafen war überhaupt nicht mehr zu denken! Ein Blick aus dem Wohnwagenfenster ließ ihn zusätzlich schaudern: dunkelgraue schwere Regenwolken zogen in schneller Folge über den Himmel, ein ekelhaft-feiner Nieselregen strömte wie an unsichtbaren Fäden auf die Erde. Eine unangenehme Kälte machte sich im Wohnwagen breit und bemächtigte sich aller Glieder. Horst versuchte erst gar nicht, einen Blick durch die Hecke auf den knapp hundert Meter entfernten See zu werfen – er konnte sich auch so nur zu gut vorstellen, wie es da draußen jetzt aussehen mochte. Das waren die Tage, an denen er Campingurlaub am Bodensee genauso hasste, wie er sonst glücklich und zufrieden auf dem grünen Rasen am Strandbad die Sonne genoss und sich nichts Schöneres vorstellen konnte als einen legeren Sommerurlaub am See!

Mit Sicherheit würden die dunklen Wolken über dem Wasser nicht einmal die Sicht zum höchstens zweieinhalb Kilometer entfernten gegenüberliegenden Ufer bei Din­gels­dorf ermöglichen, dunkelgrau-schmutziges Wasser würde aus den Wellen steigen und den paar Unverzagten, die sich draußen herumtrieben, die kalte Gischt begleitet von einem permanent-böigen Wind ins Gesicht blasen. Nein – kein Wetter für Wassersport! Die gestern knapp erreichten 20 Grad Wassertemperatur, die der Bademeister im Ostbad in ein Meter Tiefe gemessen hatte, waren erfahrungsgemäß durch den Wellengang und die unruhige Strömung auf höchstens 16 Grad zurückgefallen, zu wenig, um auch nur den großen Zeh ins Wasser zu strecken.

Andererseits: Für ihr Vorhaben spielte das so gut wie keine Rolle, denn Thomas und Horst wollten es heute dennoch angehen, koste es, was es wolle! Der Tauchgang an die vor fast 140 Jahren in der Nähe von Bottighofen versunkene »Jura« würde heute Nachmittag stattfinden – so oder so! Und schließlich spielte die Oberflächentemperatur in einer Tiefe von 38 Metern, wo das ganze Jahr über sowieso nie mehr als 6 Grad herrschten, eh keine Rolle mehr. So schön es auch gewesen wäre, sich anschließend, wenn man nass und klamm aus dem Wasser stieg, von der Sonne wärmen zu lassen anstatt von einem Glas heißen Tees mit Rum aus der Thermoskanne – mitten im Hochsommer!

Aber das Wetter war, wie es eben war: nichts zu machen! Horst fluchte leise und fasste sich an die schmerzende Stirn. Bei der vergangenen Nacht im Wohnwagen hatte es sich um einen einzigen Horrortrip gehandelt! Spät in der Nacht erst war er von Überlingen und seinem Treffen mit Thomas auf den Platz zurückgekehrt, nachdem so manches zusätzliche Glas Weißherbst von den beiden geleert worden war. Horst durfte gar nicht daran denken, was passiert wäre, wenn er mit seinem Promillegehalt einer Polizeikontrolle in die Arme geraten wäre! Völlig idiotisch hatte er sich benommen, an dieser Erkenntnis führte kein Weg vorbei. Zum Glück würde Claudia davon nichts mitbekommen, denn die hätte ihm sonst mit tödlicher Sicherheit – und zudem auch noch absolut zu Recht – kräftigst den Kopf gewaschen!

Und als er dann – glücklicherweise unbehelligt – am Wohnwagen angekommen war, da hatte er die Bescherung gesehen! Das Klappfenster neben der Tür war weg! Einfach verschwunden! Ein dunkles schwarzes Loch aus dem der rotbraune Vorhang des Vehikels wehte und zwei verbogene Metallstangen: das war alles, was vom Fenster noch übrig war! Einbrecher, die das Fenster aufgestemmt hatten und dann hineingeklettert waren – ausgerechnet auch das noch! Horst fingerte hektisch den Schlüssel aus der Hosentasche, zitterte ihn ins Schloss, riss die Türe auf und stürmte in den Wagen. Dort freilich war von einem Einbruch nicht das Geringste zu merken: Alle Gegenstände lagen noch am selben Ort, an dem sie Horst zurückgelassen hatte, bevor er nach Überlingen fuhr. Kein durch­wühl­ter Koffer, kein auf den Kopf gestellter Schrank – nichts! Allmählich hatte es dann begonnen, bei ihm zu dämmern. Da waren keine Einbrecher am Werk gewe­-

sen, das hatte er selbst fabriziert! Ganz eindeutig: eigene Schuld! Er hatte schlichtweg beim Wegfahren das Fenster ausgeklappt gelassen, um das schwül-hitzige Klima im Wohnwagen wenigstens etwas auf einigermaßen erträgliche Schlaftemperatur herunterzuschrauben. Als nun am Abend der Sturm aufgekommen war, da hatte eine Bö ganz offensichtlich einen derartigen Druck entwickelt, dass sie das sowieso schon recht wacklige Plastikfenster regelrecht weggeblasen hatte. Und Horst, der ahnungslos mit Thomas im »Faulen Pelz« sitzend den Überlinger Weinvorräten den Kampf angesagt hatte, war natürlich nicht im Entferntesten auf den Gedanken gekommen, eventuell einmal am Wohnwagen nach dem Rechten zu sehen und das Fenster zu schließen!

Mist verfluchter! Denn das mit dem Fenster war noch nicht alles gewesen! Der heftige Wind hatte den Regen durch die Fensteröffnung ins Innere des Wohnwagens geweht. Dass sich die Schlafcouch aber auch direkt unter dem Fenster befinden musste! Und so war Horst bei seiner mitternächtlichen Rückkehr schließlich nichts anderes übrig geblieben, als den Rest der Nacht fluchend auf dem nackten harten Boden des Gefährts zu verbringen – notdürftig bedeckt mit seiner Regenjacke. Alles andere, also Bett, Decke und Schlafsack, war nämlich derart von Feuchtigkeit durchtränkt worden, dass an eine normale Nachtruhe auf keinen Fall mehr zu denken war!

Klar, dass die Nacht auf dem Wohnwagenboden alles andere als gemütlich verlaufen war – schon beim bloßen Gedanken daran schmerzten Horst sämtliche Knochen im Leib. Dazu kam noch dieser pochende Kopfschmerz! Ihm war speiübel! Nie mehr wieder würde er etwas anderes zu sich nehmen als seinen bewährten Heilbronner Lem­berger, doch auch beim bloßen Gedanken daran breitete sich ein unerträgliches Drücken im Magen aus.

In diesem Moment dröhnte ein unangenehm-schrilles Geräusch durch Horsts gemartertes Großhirn: das Handy! Um diese Uhrzeit! Das konnte doch nur ein Verrückter sein!

Mit einer ärgerlichen Handbewegung schnappte er sich das Telefon und bellte wütend hinein: »Es ist 6.30 Uhr am Morgen und ich habe Urlaub!« Bevor er weitersprechen konnte, durchzuckte von Neuem ein stechender Schmerz seinen Schädel – Gelegenheit für den Ruhestörer am anderen Ende der Leitung, sich nun selbst zu Wort zu melden.

»Na, das kommt davon, wenn man seine Freunde ver­gisst!«

Protnik! Wer auch sonst?! »Sputnik!«, stöhnte Horst in das Mikrofon. »Was in drei Teufels Namen reitet dich denn für ein Gespenst …«

»Gespenst?«, unterbrach ihn sein Gegenüber am Telefon. »Den ganzen Abend hab ich das Handy eingeschaltet gelassen und auf deinen Anruf gewartet, wegen unserer Verabredung heute! Das ist vielleicht ein doofes Gefühl, wenn du da in einer Wirtschaft sitzt und das blöde Ding da klingelt! Die Blicke, die sie einem da zuwerfen …«

»Völlig zu Recht – man geht auch nicht mit eingeschaltetem Handy zum Essen – nicht mal in Russland!« Ein gezielter Schuss auf Protniks Herkunft aus den Tiefen des längst zerbröselten sowjetischen Riesenreichs!

»Ja ja – hau du nur wieder drauf auf die Aussiedler! Einmal Russe, immer Russe! Und jetzt fehlt bloß noch der Spruch mit dem deutschen Schäferhund …« Die Stimme am andere Ende klang deutlich gekränkt.

Aber Horst konnte seinen Treffer nicht richtig auskosten, denn immer mehr stieg nun die kurzzeitig verdrängte Übelkeit in ihm auf. Ungeduldig unterbrach er seinen Kollegen: »Also, Protnik, jetzt sag schon, was los ist – wieso du zu nachtschlafender Zeit Telefonterror betreibst. Auf geht’s – komm zur Sache!«

»Telefonterror! Hat man da noch Töne! Du hast mir doch gestern versprochen, mich am Abend anzurufen, weil wir uns morgen treffen wollten, oder etwa nicht? Und wer hat nicht angerufen – du oder ich?« Jetzt war der andere aber ganz eindeutig eingeschnappt! Und zu allem Über­fluss hatte er auch noch recht: Horst hatte den Anruf bei Protnik total verschwitzt!

»Okay, stimmt. Tut mir leid! Habe ich wirklich vergessen gestern Abend! Aber ich bin auch wirklich nicht dazu gekommen!«

Die Mimose kostete ihren Triumph augenblicklich bis zur Neige aus. »Aus den Augen, aus dem Sinn! So schnell haben einen die lieben Kollegen vergessen!«

»Blödsinn – lass den Quatsch! Und tu mir einen Gefallen und gib mir noch zwei Stunden Zeit. Mir geht’s nämlich grade nicht so besonders gut! Ich versprech dir, ich ruf dich dann ganz sicher an. Aber jetzt – du ich muss auflegen! Also bis später!« Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte Horst auf den roten Knopf des Handys und warf es anschließend mit mürrischem Brummen auf die Liege. Gleichzeitig entriegelte er hastig die Tür des Wohn­wagens und rannte so schnell er konnte in Richtung Hecke …

6

Eine halbe Stunde später saß Horst trübsinnig vor sich hinstierend vor einer Tasse Pfefferminztee am Wohn­wagentisch. Ihn fröstelte, ihm war kalt – durch die fehlende Scheibe des Wagens wehte ein unangenehm kühler, feuchter Wind. Aber das passte im Grunde genommen genau zu seinen Gedanken, die so gar nicht zu der Urlaubsstimmung dazugehören wollten, auf die er sich doch so sehr gefreut hatte.

Immer wieder grübelte er darüber nach, was ihm an dem gestrigen Abend nicht gefallen hatte. War es die ungewohnt aggressive Verhaltensweise, die Thomas Grund­ler der Bedienung gegenüber an den Tag gelegt hatte, waren es die trübsinnig-pessimistischen Gedanken, die Thomas gegen Ende des Abends geäußert hatte? Oder machte ihm Kummer zu erfahren, dass es mit der Ehe seines Kollegen nicht zum Besten stand, dass man offensichtlich im Hause Grundler mittlerweile getrennte Wege ging. So manche unschöne Szene war da in den letzten Wochen anscheinend zwischen Thomas und seiner Frau Susanne passiert und so, wie es Thomas geschildert hatte, standen die beiden nun vor den Trümmern ihrer Beziehung. Dazu kam – ausgerechnet – auch noch ein heftiger Streit mit dem Nachbarn der Grundlers, einem ewig nörgelnden Privatier und Besserwisser namens Helmut Speiser, der anscheinend den lieben langen Tag nichts Besseres zu tun hatte, als die Straße vor seinem Haus zu kontrollieren und jeden Fahrzeuglenker, der seinen Wagen vor dem Speiser’schen Haus geparkt hatte, mit aggressiven Gesten zu vertreiben. Der Platz vor dem Haus (auf der öffentlichen Straße!) gehöre ganz allein zu seinem Anwesen und niemand sonst hätte hier etwas zu suchen. Thomas hatte es anscheinend schon mehrfach im Guten versucht, aber vergeblich: Der Nachbar hatte sich nicht von seinem Herr-auf-der-Straße-Standpunkt abbringen lassen, ganz im Ge­gen­teil sogar. Der Kerl hatte ihn sogar vor zwei Wochen angezeigt, wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr und versuchter Körperverletzung. Thomas sei neulich beim Einparken mit seinem Wagen absichtlich schnell, mit aufheulendem Motor und schleifender Kupplung auf den Nachbarn zugerast, sodass dieser sich nur noch durch einen Sprung über den Gartenzaun habe in Sicherheit bringen können. »Völliger Blödsinn natürlich, der Kerl lügt wie gedruckt, da ist kein Fünkchen Wahrheit dran an dieser Story – aber ich habe jetzt den Salat!«, hatte Thomas gemeint und dabei sorgenvoll die Stirn in Falten gelegt. »Das hat der mit vollster Berechnung angezettelt, der Spinner! Kannst du dir vorstellen, wie das am nächsten Tag auf der Direktion war, als mich der Striebel«, dabei handelte es sich um den Chef der Polizeidirektion, »plötzlich zu sich zitiert und mir eröffnet hat, es läge eine Anzeige wegen Körperverletzung gegen mich vor? Und als ich gelacht habe, wo er mir erzählt hat, um was es sich handelt, da hat er gemeint, ich solle die Sache ja nicht auf die leichte Schulter nehmen! Im Gegensatz zu diesem Psychopathen nämlich habe ich keine Zeugen, die meine Unschuld beweisen könnten, während der seine ganze Familie gegen mich hat aussagen lassen! Du – das kann ein Disziplinarverfahren von der übelsten Sorte geben, das sag ich dir! Und das alles wegen diesem Penner! Ich hätte da schon lange etwas unternehmen sollen, der wird ganz allmählich nämlich zu einer Gefahr für die Allgemeinheit, das ist ganz langsam immer schlimmer geworden mit dem, den müsste man mal auf seinen Geisteszustand hin überprüfen, aber das hab ich verschlafen, das kann ich jetzt grade natürlich nicht mehr bringen – jetzt bin ich in der Defensive! Mist!«

Horst hatte nur allzu gut verstanden. Das war tatsächlich eine bescheuerte Situation für einen Polizeibeamten: Thomas war eindeutig in der Defensive und seine Verteidigung stand ohne Zeugen für seine Unschuld auf ganz wackligen Füßen. Und überdies: Egal, wie die Geschichte ausgehen würde – ganz ohne Blessuren würde Thomas da auf keinen Fall herauskommen –, der Nachbar würde jetzt natürlich auf dem Fundament des über Thomas errungenen Sieges erst recht weitermachen mit seinen Schikanen! Wenn es sich bei dem tatsächlich um einen Psychopathen handelte, na dann – Prost Nachbarschaft!

Dies alles – Nachbarschaftsstreit, Anzeige, Ehekrise – waren aber nur die privaten Probleme, mit denen Thomas Grundler momentan schwer genug zu kämpfen hatte. Dazu gesellte sich noch eine offenbar furchtbar verzwackte Er­mittlungsgeschichte in seinem eigentlichen Arbeitsfeld, dem Wirtschaftskontrolldienst. Er war da im Laufe des Frühjahrs auf die Spur einer Umweltschweinerei allererster Güte geraten, und je mehr er in dieser Richtung recherchiert hatte, desto größere Kreise hatte sie gezogen. Und das Schlimme dabei war, das hatte er recht bald erkennen müssen, dass sich das Problem als ungeheuer vielschichtig darstellte und dass die Strippenzieher im Hintergrund offenbar über glänzende Kontakte bis in die Kommunal- und Landespolitik hinein verfügten, ja sogar in der Polizeidirektion selbst schienen Leute zu sitzen, die – zumindest in diesem Fall – die Fronten gewechselt hatten!

»Ja, komm schon, jetzt spuck’s schon aus, wo du da dran bist!«, hatte Horst seinen Kollegen aufgefordert, nachdem der ihm endlich sein Herz ausgeschüttet und die Ursache aufgezeigt hatte, weshalb er auf sein Gegenüber so merkwürdig gedrückt und verändert gewirkt hatte.

»So ein bisschen im Nebel rumstochern und da ein Wort fallen zu lassen und dort was anzudeuten, das bringt doch nix! Du brauchst doch ganz eindeutig Hilfe und solltest die ganze Geschichte mal richtig durchsprechen, und zwar von A bis Z, sonst kommst du da nie auf einen grünen Zweig. Und nachdem du in der Direktion keinem mehr traust, ja, da ist es sowieso vielleicht ganz gut, wenn du das mit einem Außenstehenden mal durchkaust, der einen völlig unverstellten Blick in dieser ganzen Chose hat. Also komm – schieß los!«

Doch Thomas hatte nur traurig gelächelt und andeutungsweise den Kopf geschüttelt. »Du hast doch Urlaub, Hotte! Ich will dir doch deine paar schönen Tage am See nicht versauen – und außerdem glaube ich irgendwie, dass es besser wäre, wenn ich dich nicht da mit reinreite!«

»Blödsinn!«, hatte Horst geantwortet. »So weit kommt’s noch, dass wir den Beamten raushängen lassen und unser Hirn abends an der Pforte abgeben! Du sagst mir jetzt, was Sache ist, oder es setzt was!«

Zögernd hatte der Hauptkommissar danach einige Fakten angedeutet. Und wenn von den Vermutungen und Anhaltspunkten, die Thomas Grundler mit seiner gewohnt sorgfältigen und vorsichtigen Arbeitsweise in den letzten Monaten gesammelt hatte, auch nur die Hälfte zutraf, dann hatte er offensichtlich einen Volltreffer gelandet. Horst hatte staunend die Luft eingesogen und sich nachdenklich zurückgelehnt: »Dann stehst du ja praktisch mit beiden Beinen mitten auf dem Wespennest! Mein lieber Mann, das gibt aber ein mittleres Erdbeben, wenn du die Geschichte erst mal wasserdicht gemacht hast!« Und mit einem sorgenvollen Blick auf Thomas fügte er leise hinzu: »Da muss man bloß gewaltig aufpassen, dass man von den Wespen vorher nicht gestochen wird!«

Wie recht er doch mit dieser Feststellung behalten sollte …

7

»Also – alles roger? Ja?« Thomas warf einen weiteren prüfend-skeptischen Blick auf Horsts Ausrüstung.

Horst nickte. »Alles okay! Alles an Bord: Flasche, Anzug, Flossen, Maske, Handschuhe, Lampe, Blei. Und auf geht’s!«

Thomas warf den Kopf ins Genick und verdrehte vielsagend die Augen. »Also gut. Nur sag ja nicht hinterher, es hätte dich keiner gewarnt! Also ich an deiner Stelle würde schlichtweg erfrieren, ohne Trockentauchanzug. Und selbst mit dem Trocki ist es noch lausig kalt. Und da nimmst du den 7-mm-Nasstauchanzug, also ich weiß nicht! Lass dir’s noch mal sagen: Da unten ist es stockdunkel und es hat grade mal 6 Grad – wenn’s hoch kommt!«

Horst zuckte wegwerfend die Schultern. »Weiß ich doch! Haben wir jetzt doch schon 150 Mal durchgekaut! Du weißt doch: Ich bin ein Warmblüter – das klappt schon! Im Baggersee war ich mit meiner Ausrüstung auch schon auf 25 Metern – da kommt’s auf die paar Meter mehr oder weniger auch nicht mehr an!«

Thomas deutete auf Horsts Flossen: »Aber was ist damit? Das ist doch wohl nicht dein Ernst, mit den Dingern da runterzutauchen?«

»Natürlich ist es das! Jetzt zerbrich dir mal nicht meinen Kopf!« Horst fühlte sich allmählich wie im Kindergarten. »Ich bin schließlich alt genug und hundert Tauchgänge habe ich auch auf dem Buckel. Genug, um einschätzen zu können, was geht und was nicht geht!«

Thomas unternahm einen weiteren Anlauf: »Aber der Bodensee ist anders als irgendein popeliger Baggersee. Der Bodensee ist der Bodensee!«

Horst spielte den Überraschten. »Was du nicht sagst!«

»Jetzt werd nicht läppisch! Ich meine es ernst! Ich hab schon Dinger erlebt, sag ich dir … Also komm – jetzt probier wenigstens, ob dir meine gebrauchten Füßlinge mit den Flossen passen. Ich geb sie dir gerne. Also – ich habe Schuhgröße 40/41, das müsste eigentlich gehen.« Prüfend musterte er Horsts Füße.

»Na gut – dann hat die arme Seele Ruh! Ich hab zwar Größe 43, aber bitte schön, quetsch ich halt meine Zehen in deine Fußpilzbomber rein! Zu Risiken und Nebenwirkungen beklagen Sie sich bei ihrem Freund und Tauchpartner!« Insgeheim musste er zugeben: die Hartnäckigkeit von Thomas war in diesem Fall durchaus angebracht. Denn auch Horst schauderte es ehrlich gesagt bei der bloßen Vorstellung, ohne Neoprenfüßlinge mit quasi bloßen Füßen sich in eiskaltem 6-Grad-Wasser auf fast 40 Meter Tiefe hinunterzuzittern. Aber der Schwabe in ihm hatte mal wieder die Oberhand über alle taucherischen Vernunftmaßregeln gewonnen: Um nichts in der Welt hätte er sich im Vorfeld dazu bewegen lassen, sich in einem der zahlreichen Tauchshops am Bodensee mit Füßlingen und dazu passenden offenen Flossen einzudecken. Das hätte ja immerhin runde 200 Mark gekostet – nein danke! Zu viel war eben zu viel!

Bei diesem Stand der Diskussion – und sie hatten sie im Vorfeld bereits mehr als nur einmal miteinander geführt – hatte Thomas wie immer in einer Geste der schieren Verzweiflung die Hände zusammengeschlagen und den Blick in stummer Verzweiflung gen Himmel gerichtet: »Nicht zu fassen! Deutschland, deine Schwaben!!«

Und Horsts Replik war programmgemäß so gekommen, wie sie in jenen Gesprächen pflichtschuldigst immer kam: »Wir sind halt Schwaben und keine solchen Verschwender wie ihr Badenser! Der Schwabe als solcher …«

»… lebt, um zu arbeiten, während der Badener arbeitet, um zu leben!«, wurde er an dieser Stelle – wie immer – von Thomas unterbrochen.

»Eben – sag ich doch! Was würdet ihr auch anstellen, ohne unser Geld aus Stuttgart! Typisch Badenser: Immer über uns schimpfen, aber unser Geld, das nehmt ihr, ohne Danke zu sagen!«

»Ist ja auch immer noch zu wenig«, hieb Thomas weiter in seine Anti-Schwaben-Kerbe. »Aber dafür bekommt ihr ja schließlich unser Bodensee-Wasser. Ganz Stuttgart würde ja auf dem Trockenen sitzen, wenn wir euch nicht das gute Bodensee-Trinkwasser liefern würden, in das wir vorher noch mal schnell reinpinkeln! Aber für die Schwaben langt’s auch so: Hauptsache, viel, und Hauptsache, billig!«

In der Zwischenzeit hatte sich Horst in die ausrangierten Füßlinge von Thomas gezwängt und ihm zu verstehen gegeben, dass sie zwar mehr schlecht als recht, aber ihm dennoch irgendwie passten. Das war das Zeichen zum Aufbruch. Thomas, der sich parallel zu ihrem üblichen Baden-kontra-Württemberg-Disput seinen fast noch nagelneuen Trockentauchanzug übergestreift hatte (ein Teil, das sich Horst, davon war er felsenfest überzeugt, niemals anschaffen würde – gut und gerne 2.000 Mark hatte das Ding mit allem Drum und Dran gekostet!), zog die Starterleine am Außenborder ihres Leihbootes und schon nach dem zweiten Versuch gab der Motor nach ein, zwei holprig spuckenden Stottergeräuschen ein tiefes gleichmäßiges Brummen von sich.

Ein zufriedenes Lächeln zeigte sich auf Thomas’ Gesicht. Horst atmete innerlich durch: Wenigstens am heutigen Nachmittag schien sein Kollege deutlich ruhiger und ausgeglichener als am Abend zuvor. So ein Gespräch, bei dem man einem Freund endlich mal das Herz ausschütten konnte, war offenbar doch immer noch Gold wert. Also dann – Horst blickte über die im diffusen Licht der letzten sich gerade verziehenden Regenwolken ­schwarzgraublau schimmernde Fläche des Bodensees hinüber in Richtung Meersburg. Immer wieder eine schöne Kulisse, dieses Meersburg mit der alten Burg, dem riesigen Schloss, dem Fährhafen und der Schifflände – selbst vom relativ weit entfernten Schweizer Ufer bei Bottighofen aus.

Sanft schaukelte das Boot mit den beiden Tauchern, als sie ablegten. Rund einen Kilometer in Richtung Nordosten würden sie zurücklegen müssen, bis sie an der Stelle Anker werfen konnten, an der im Februar des Jahres 1864 der Raddampfer »Jura« im dichten Nebel von der »Stadt Zürich« gerammt und in den eisigen Fluten des Bodensees versenkt worden war. In wenigen Minuten würden sie ankommen und sich dann so schnell wie möglich auf die gut 36 Meter Tiefe »fallen lassen«, in der die »Jura« seit fast 140 Jahren im Schlick des Bodensee-Untergrunds ihr dunkles Grab gefunden hatte. Das Abenteuer konnte beginnen!

1 250,47 ₽
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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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824 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783734994845
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