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Zwei Alpenhelden

Interesse verdient allerdings auch die erwähnte Tatsache, dass dieser aufklärerische Alpendiskurs in geografischer Hinsicht ausgesprochen selektiv war. Die Reisenden kamen vor allem aus den Zentren des wirtschaftlichen und kulturellen Aufbruchs im nördlichen Europa, namentlich England, Frankreich und Deutschland. Und das besonders gepriesene und bereiste Gebiet war eng begrenzt. Es reichte etwa von Luzern bis Chamonix, Orte, die in Luftlinie knapp 170 Kilometer auseinanderliegen, während der ganze Alpenbogen etwa 1200 Kilometer misst. In diesem Buch interessiert die Frage, wie es mit dem Diskurs weiterging und wie auch andere, bisher wenig beachtete Teile des Alpenraums einbezogen wurden. Im Folgenden wollen wir Aspekte des politischen Images und seiner Entwicklung zunächst anhand zweier Alpenhelden beobachten. Der erste war eine fiktive Gestalt, die im späten 15. Jahrhundert erstmals erschien und im vorrevolutionären und revolutionären Zeitalter eine grosse internationale Karriere als Held der schweizerischen Freiheit und Republik machte: Wilhelm Tell. Der zweite stellte sich im Jahr 1809 an die Spitze des Tiroler Aufstands gegen das napoleonische Regime der Bayern und Franzosen, wurde darauf hingerichtet und so erst recht zu einem Helden der tirolischen Freiheit und der österreichischen Monarchie: Andreas Hofer. Tell hielt man in der breiten Bevölkerung bis ins 20. Jahrhundert mehrheitlich für eine historische Gestalt, und bei Hofer interessiert hier weniger seine Realität als seine Rezeption. Inwiefern kann man den gesellschaftlichen Umgang mit den beiden Figuren als Sonde für die Entwicklung des politischen Klimas verwenden?


Abb. 6: «Hofer, the Tell of the Tyrol». Titelblatt der englischen Adaption der Oper «Guillaume Tell» von Gioachino Rossini, London 1830.

Einen aufschlussreichen Stimmungstest im romantischen Zeitalter gibt zunächst die Oper Guillaume Tell von Gioachino Rossini. In bestimmten Aufführungen trafen die beiden Alpenhelden aufeinander und erwiesen sich als austauschbar. Wie in der Einleitung ausgeführt, fand die englische Premiere der Oper im Mai 1830 statt, ein halbes Jahr nach der Uraufführung in Paris. Für die Londoner Vorstellung wurde das Libretto jedoch nicht übersetzt, sondern auf den Tiroler Helden umgeschrieben. Das Werk hiess hier Hofer, the Tell of the Tyrol. Diese «Grand Historical Opera» erzählte die Geschichte vom Tiroler Aufstand mit einleitenden Passagen, die noch recht nahe am Original waren: «Schön wie eine Braut wacht der Morgen auf, von Gold bedeckt glühet der Gletscher». Inmitten dieser romantischen, alpinen Szenerie werden in einem Dorf des tirolischen Pustertals Vorbereitungen für eine Hochzeit getroffen, bevor Fremdherrschaft und Befreiungskampf auf der Bühne in Erscheinung treten.28 Bei Rossinis Tell beginnt die Oper ebenfalls mit Hochzeitsvorbereitungen in alpiner Umgebung, hier im schweizerischen Uri und laut Szenenanweisung mit einem Gebirgsbach und dem Vierwaldstättersee. Doch dann gehen die beiden Erzählungen stark auseinander: Bei Rossini tötet Tell zum Schluss den habsburgischen Vogt und Unterdrücker Gessler mit der Armbrust, was vom Volk begeistert gefeiert wird: «Freiheit, steig wieder vom Himmel herunter, Dein Reich möge neu beginnen!» In der englischen Hofer-Version singt der Chor gerade umgekehrt: «Heil dem Hause Habsburg! Freude dem Hause Habsburg! Tirol ist der Krone zurückgegeben!»29

Der Librettist der englischen Oper begründete den Austausch der Helden mit den vielfältigen bereits gezeigten Dramatisierungen von Tell und mit dem Umstand, dass der Tiroler wie der Schweizer Held sein Land von Fremdherrschaft befreit habe. Tatsächlich war es auf britischen Bühnen in den Jahrzehnten vor 1830 zu einem auffallenden Tell-Boom gekommen, der auch auf Belustigung abzielte, etwa mit Titeln wie Tell and the Harlequin. Zudem lag die Verbindung Tell–Hofer im Vereinigten Königreich mit seiner dezidiert antinapoleonischen Haltung näher als anderswo und war von bekannten Autoren so ins Gespräch gebracht worden. Ein oft genanntes Beispiel war das Gedicht Hôffer von William Wordsworth, das den Tiroler von «Tell’s great Spirit» beseelt sah.30

Anders verhielt es sich in Berlin, wo Rossinis Tell im Herbst 1830 ebenfalls im Gewand von Hofer aufgeführt wurde, allerdings in einer gegenüber der englischen abgewandelten Version. Die komischen Elemente waren daraus entfernt worden, und die Loyalität des Tirols zur Krone diente hier als allgemeines Exempel der Untertanentreue. Der (ohnehin faktenwidrige) Sieg der Aufständischen wurde nicht als Selbstbefreiung des Landes dargestellt, sondern von österreichischen Truppen herbeigeführt, und zum Schluss erhielt der Freiheitsheld einen Orden aus den Händen des kaiserlichen Generals. Die Berliner Aufführung war Teil der Vermählungsfeier eines Sohns des Preussenkönigs Friedrich Wilhelm III. und wurde von den Berliner Nachrichten folgendermassen geschildert:

«Am 18. d. (Oktober), dem für Deutschlands Heil so hoch denkwürdigen Tage, begingen die Bewohner hiesiger Residenz ein herrliches Fest der innigsten, treuesten Unterthanen-Liebe und wahrer Verehrung des Allerhöchsten Königlichen Hauses im großen festlich erleuchteten Operntheater.»

Zuerst zeigte sich das junge Ehepaar in der königlichen Mittelloge, nachher trat der König auf, was die Anwesenden – laut Bericht – zu einem aus tiefster Brust einstimmig gesungenen «Heil Dir im Siegerkranz» veranlasste. Nachdem die stundenlange Oper dann vorbei war, unterblieben Beifallsbezeugungen für die Künstler, denn hier galt die Verehrung und Liebe nur einem Adressaten: «Heil dem König! Heil seinem ganzen Hause! Heil Preußen Dir!»31

Der König von Preussen bildete damals zusammen mit dem habsburgischen Kaiser in Wien und dem russischen Zaren den Kern der Heiligen Allianz. Im Sommer und Herbst 1830 war die politische Situation äusserst gespannt, nachdem die blutig ausgetragene, antimonarchische Julirevolution in Paris die liberalen Kräfte an vielen Orten Europas zu Aufständen animiert hatte. Die stramm antirepublikanische Inszenierung von Rossinis Tell-Oper muss vor diesem Hintergrund gesehen werden. Viel Erfolg war ihr jedoch nicht beschieden; sie verschwand nach wenigen Vorstellungen von der Bühne. Privat äusserte man sich von Anfang an auch anders als die Berliner Nachrichten. Carl Friedrich Zelter, ein einflussreicher Musiker und Kulturpolitiker in Berlin, teilte seinem Duzfreund Goethe brieflich mit, im Hause Hohenzollern sei das Opernoriginal wegen revolutionären Inhalts auf Widerstand gestossen.

«So haben sie einen ganz neuen andern Text in die Musik hofirt, und die Oper heißt nun: Andreas Hofer. Das soll nun keiner merken. Sind sie doch wie die kleinen Kinder, die sich einbilden man riecht’s nicht wenn sie die Augen zuhalten.» Den Schluss mit der Ordensverleihung fand Zelter besonders lächerlich: «Zuletzt erscheint ein Graf Hugniatti [der kaiserliche General] und bringt ein Stückchen weißes Blech, etwas größer als ein Kopfstück, hängt es dem guten Hofer um den Hals und geht still wieder ab.»32

Rossini gehörte zu den erfolgreichsten Komponisten seiner Zeit. Die Pariser Oper von 1829 wurde bald auf vielen Bühnen in Europa und darüber hinaus aufgeführt. Lokale Stoffanpassungen waren eine gängige Praxis. Im Falle von Guillaume Tell überstiegen sie das übliche Mass jedoch bei Weitem. In London und Berlin verwandelte sich Tell, wie gesagt, in Andreas Hofer. In St. Petersburg mutierte er zum Burgunderherzog Karl dem Kühnen, in verschiedenen italienischen Städten zum jüdischen Freiheitskämpfer Judas Makkabäus und zu den schottischen Helden William Wallace oder Rudolf von Sterling, die offenbar im Mittelalter gegen England gekämpft hatten. In der Mailänder Scala scheint die Premiere des Guglielmo Valace ein Pfeifkonzert des aufgebrachten Publikums ausgelöst zu haben.33 An jedem Aufführungsort spielten besondere Umstände und politisch-kulturelle Erwägungen eine Rolle. Allgemein legen die Wiedergaben und Mutationen von Rossinis Tell nahe, dass die internationalen Verflechtungen politischer Bewegungen und die Internationalität der Opernkultur miteinander zusammenhingen. Konkret wurde dieser Zusammenhang in den Theatersälen selbst, in denen die Eliten und teilweise eine breitere Bevölkerung Unterhaltungsbedürfnisse, politische Meinungen und Machtbeziehungen öffentlich machten – nicht immer im Sinn der existierenden Hierarchie. Um 1830 war Tell weitherum Zündstoff und damit ein Seismograf gesellschaftlicher Sensibilitäten.34 Begonnen hatte diese wahrhaft internationale Karriere in den 1760er-Jahren.

Wilhelm Tell, Ehrenbürger der Französischen Revolution

«Nein! vor dem aufgestekten Hut, Du Mörderangesicht! Bükt sich kein Mann voll Heldenmuth, Bükt Wilhelm Tell sich nicht!» So reimte Johann Kaspar Lavater in einem der ersten Schweizerlieder von 1767. Es umfasste gegen zwanzig Strophen und schilderte alle wichtigen Stationen der Tell-Geschichte mit dem Apfelschuss, dem patriotischen Tyrannenmord und dem hoffnungsfrohen Finale: «Die Freyheit seines Vaterlands, Steht auf mit Geßlers Fall, Und bald verbreitet sich ihr Glanz, Bald strahlt sie überall». Entstanden war das Lied in der vor Kurzem gegründeten Helvetischen Gesellschaft, die erstmals Mitglieder und Besucher aus den meisten Teilen der Eidgenossenschaft und ihren zugewandten Orten zu jährlichen Veranstaltungen zusammenführte. Der gemeinsame Gesang wurde bald zu einem wichtigen Element der Sozietätskultur. Mit einer hölzernen Tell-Statuette kam später ein weiteres Element dazu. Sie sollte ein «sinnlicher Gegenstand unserer allgemeinen Vaterlandsliebe» sein und stand fortan in der Mitte des Festsaals. Hinter der Figur war eine Halterung angebracht für einen «eidgenössischen Freundschafts-Pocal», in den man «Schweizerblut» (Wein) goss, bevor der Becher in der Versammlung die Runde machte. Der Tell-Kult stützte sich auf eine etwa 300-jährige Tradition, während welcher der Held mit unterschiedlicher Nachhaltigkeit in regionalen Kontexten erschienen war. In der gesamteidgenössisch gedachten Form der Helvetischen Gesellschaft kann man diesen Kult jedoch als neu bezeichnen.35

Für seine internationale Laufbahn war entscheidend, dass Tell fast gleichzeitig in Frankreich an Bedeutung gewann, wo einige die Figur ebenfalls seit Langem gekannt hatten. Das Königreich war das bevölkerungsreichste Land Europas, und in der revolutionären Phase geriet Tell hier in das Zentrum einer politischen Explosion von globaler Ausstrahlung. Die kleine, von ihrem westlichen Nachbarn abhängige Eidgenossenschaft war der Imaginationsraum, doch die kommunikative Macht lag in Paris. Diese französisch-helvetische Achse bildete das Sprungbrett für den alpinen Freiheitshelden. Seinen ersten Auftritt auf einer Theaterbühne der französischen Hauptstadt hatte Guillaume Tell am 17. Dezember 1766 mit einem Stück aus der Feder von Antoine-Marin Lemierre, einem Meister der didaktischen Dichtung, der später in die Académie française aufstieg. Der Erfolg scheint mässig gewesen zu sein, doch seit den späten 1780er-Jahren erlangte das Drama die Gunst der Wortführer und Anhänger der Revolution. Nach dem Bastillesturm wurde es regelmässig aufgeführt. Im August 1793 (die Republik war kaum einjährig und der König vor sechs Monaten hingerichtet) dekretierte der Nationalkonvent, dass Tell zusammen mit Brutus und einem anderen Tyrannenmörder für eine bestimmte Zeit dreimal wöchentlich gezeigt werden sollte. Im Mai 1794 (die Jakobiner waren an der Macht, Verhaftungen und Hinrichtungen an der Tagesordnung) erhielt das Stück den Titel Les Sans-Culottes suisses (die schweizerischen Revolutionäre). Bei den Aufführungen durfte jetzt offenbar die militärisch aufgeladene Marseillaise nicht fehlen. Seit zwei Jahren befand man sich im Krieg mit Österreich und der übrigen antirevolutionären Koalition. Dass sich Tells legendäres Geschoss gegen Habsburg gerichtet hatte, passte da bestens.36

Beim dramatischen Höhepunkt der Revolution eroberte der Schweizer Held neben der Bühne weitere Schauplätze der Hauptstadt, häufig zusammen mit Lucius Iunius Brutus, der im alten Rom den König gestürzt, die Republik hergestellt und dabei sogar zwei Söhne der politischen Tugend geopfert haben soll. An einem feierlichen Umzug zu Ehren der «Liberté» konnte die Menschenmenge im April 1792 zum Beispiel Tell und seinen Apfelschuss auf der Längsseite des grossen, von 24 Schimmeln gezogenen Triumphwagens bestaunen. Während den verbreiteten Umbenennungen der folgenden Zeit vervielfältigte sich der Name: Die rue Saint-George in Paris hiess jetzt rue Guillaume Tell, und drei Ortschaften in verschiedenen französischen Departementen wollten nach dem Schweizer benannt werden. Einige Revolutionäre tauften ihre Söhne gar nach dem Alpenhelden, denn die üblichen Vornamen stammten in ihren Augen von der «unmoralischen Legende des Christentums». Besonders intensiv wurde der Tell-Kult im Pariser Wahlbezirk Mail, der im Dezember 1793 die Freiheitsgestalt zum Schutzpatron erhob und als «Section Guillaume Tell» Tugendpredigten in einer zum «Temple de la morale» umfunktionierten Kirche veranstaltete. Später pflanzte die Sektion einen Freiheitsbaum und sang dazu patriotische Lieder zu Ehren der «Geissel der Tyrannen». Im April 1794 beschaffte man sich auch noch eine Tell-Büste, eine Kopie der neuen Büste im Jakobinerklub der Hauptstadt. Mit einem Festakt wurde sie im Moraltempel zu Füssen der Freiheitsstatue postiert, worauf ein Redner erklärte: «Hier ist er also in seiner Familie, dieser tugendhafte Gründer der helvetischen Freiheit, dieser wirkliche Patriarch aller Sans-Culottes.»37


Abb. 7: Mitgliederkarte der Section Guillaume Tell in Paris 1793/94. Antikisierende Darstellung von Tells Apfelschuss mit den Devisen der Französischen Revolution.

Seit den 1760er-Jahren machte die Tell-Geschichte auch Karriere in der politisch aufgewühlten Neuen Welt, und mit der Propagandaschlacht der Französischen Revolution und ihrer siegreichen Armeen war sie schliesslich fast allgegenwärtig. Am 16. März 1802 schrieb Friedrich Schiller, berühmt durch sein kämpferisches Freiheitsdrama Die Räuber, an seinen Verleger, er habe so oft das falsche Gerücht gehört, dass er an einer Dramatisierung von Tell arbeite, dass er schliesslich auf den Stoff aufmerksam geworden sei und sich jetzt wirklich an Quellenstudien mache. Zwei Jahre später war sein Wilhelm Tell bühnenreif. Die fünfeinhalb Stunden dauernde Uraufführung in Weimar wurde zu einem Triumph für den schwäbischen Dichter. Obwohl das Stück kontrovers war (oder vielleicht gerade deswegen), entwickelte es sich zu einem der berühmtesten Schauspiele des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Tells Tyrannenmord, der im revolutionären Paris bejubelt worden war, erhielt bei Schiller eine Gegenfigur, die zeigen sollte, dass es daneben auch verbrecherische Tyrannenmorde gebe.38 In den folgenden Jahrzehnten blieb das Thema politisch virulent, wie wir an der Rezeption der Tell-Oper von Gioachino Rossini im Gefolge der Julirevolution von 1830 gesehen haben. Nachher scheint die Assoziation zu Fragen der Legitimität von gewaltsamen Umstürzen aber langsam verblasst zu sein. Zwar wurde die Figur sehr häufig angerufen, doch mit anderen Erwartungen. Tell hatte seine intensive, revolutionäre Phase mehrheitlich hinter sich.

Dies zeigte sich auch in der Schweiz, wo der Alpenheld infolge seiner Lokalisation und Tradition weitere Identitätsangebote bereitstellte. In der von Frankreich dominierten Helvetik (1798–1803) wurde das gesamte Land mit Tell-Symbolik eingedeckt. Ältere und neuere Vorstellungen verwickelten sich dabei in heftige Kontroversen. Nach 1830 und mehr noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Tell dann aber zu einer relativ überparteilichen nationalen Integrationsfigur. Das lässt sich an der Rezeption von Schillers Tell und an der Häufigkeit von Tell-Verwendungen bei offiziellen, politischen Anlässen zeigen. Auch die Geschichte der Denkmäler ist ein deutlicher Hinweis. Sie begann schon vor 1800. Das berühmteste, jetzt auch vom Bund subventionierte Tell-Denkmal im Urner Hauptort Altdorf stammt aber erst von 1895. Bald danach begannen die jährlichen Tell-Schauspiele in Altdorf und später im touristischen Interlaken. Vor dem Ersten Weltkrieg kam Tell noch auf eine Briefmarke und auf eine Banknote, die bisher der Helvetia vorbehalten gewesen waren. Er wurde Teil der modernen staatlichen Infrastruktur.39

Mehr Leidenschaften vermochte jetzt unsere zweite, jüngere Alpenfigur zu wecken: Andreas Hofer, Anführer und bald Symbol des Tiroler Aufstands von 1809 gegen die bayerisch-napoleonische Besetzung, 1810 in Mantua wegen Insurrektion hingerichtet. Die Rezeption macht ihn nicht nur zu einem Freiheitshelden, sondern auch zum Märtyrer, ja fast zu einem Heiligen.

Andreas Hofer, Märtyrer des antinapoleonischen Aufstands

Als Tiroler Kaiserjäger 1823 kurzfristig in Mantua stationiert waren, nutzten einige Offiziere die Gelegenheit, um in der Nacht vom 8. auf den 9. Januar die sterblichen Überreste von Andreas Hofer heimlich auszugraben und nach Trient zu bringen. Dort wurden die Knochen von einem Arzt geordnet und eingesargt, um sie nach Innsbruck zu transportieren. Schon zwei Mal hatte man vergeblich beim Herrscherhaus in Wien um Erlaubnis für eine Überführung nachgesucht. Die Offiziere handelten sich für ihre Eigenmächtigkeit eine kriegsgerichtliche Untersuchung ein, angeordnet per Handbillet von Kaiser Franz I. Die österreichische Machtzentrale hatte kein Interesse an einem Märtyrer für den tirolischen Patriotismus. Die gefürstete Grafschaft Tirol – bestehend aus den heutigen Ländern und Provinzen Nordtirol, Vorarlberg, Südtirol und Trentino – war 1814 nach neunjähriger Herrschaft vom bayerischen, mit Napoleon verbündeten König an Österreich zurückerstattet worden. Die Zentralisierungs- und Modernisierungsversuche der Bayern waren ein Grund für den zuerst erfolgreichen, schliesslich aber gescheiterten Aufstand von 1809 gewesen. Wiens Politik in der nachnapoleonischen Zeit unterschied sich davon nicht grundsätzlich. Die Gebeine von Andreas Hofer wurden daher in Innsbruck ohne besondere Vorbereitungen bestattet. Nachher liess der Kaiserhof unter beständiger Überwachung ein Denkmal erstellen und 1834 einweihen. Wie der britisch-österreichische Historiker Laurence Cole in seinen detaillierten Studien feststellt, erfuhr die Symbolik für die Freiheiten und Rechte Tirols dabei keine Würdigung. Stattdessen wurde Hofer «in einen rigiden religiös-patriotischen Kontext dynastischer Loyalitäten» eingebunden. Schon vor der unbewilligten Exhumation hatte man den Aufstandsanführer posthum in den Adelsstand erhoben, sodass sich die Nachfahren im Passeiertal «Edle von Hofer» nennen konnten.40

Die tirolische Bevölkerung scheint nach dem Aufstand mehrheitlich desillusioniert gewesen zu sein und zeigte wenig Interesse an einer Person, die für viele mit unerfüllten Hoffnungen und schweren Krisenjahren verbunden war. Begeisterung hatte dieser Aufstand dagegen bei Gegnern Napoleons in Deutschland und Grossbritannien ausgelöst. Er wurde dort schnell als «Freiheitskampf» bezeichnet, während die Protagonisten 1809 von «Insurrektion» und «Landesverteidigung» gesprochen hatten.41 Auf dem sogenannten Sandhof im Passeiertal in der Nähe von Meran, wo Hofer zu Lebzeiten als Wirt, Wein- und Viehhändler gelebt hatte, trafen nun immer mehr Reisende oder «Wallfahrer» ein, wie man bald sagte. Sie verbrachten meist einen Tag am Ort, um mit den Angehörigen zu sprechen und sich persönliche Sachen von Hofer zeigen zu lassen. Die Familie hatte ein Hofer-Zimmer eingerichtet mit seinem Abschiedsbrief, einer von ihm getragenen Tracht, einer kurzen Lederhose, einem breiten Hut, seinem alten Rosenkranz und weiteren Gegenständen zur Vergegenwärtigung des Helden. Seit 1835 führte man im Sandhof ein Fremdenbuch für Einträge der Besucher. Im Vorspann fand sich eine kurze Schilderung von Hofers Leben und vom Aufstand in deutscher, französischer, italienischer und englischer Sprache. Als Erster trug sich Erzherzog Johann ein, der seit Kindstagen eine nationalromantische Idee von den Alpen und speziell vom Tirol pflegte. Noch im selben Jahr verstarb sein älterer Bruder Kaiser Franz I. Für den Herrscherwechsel liess man den Sandhof käuflich erwerben, «um der Nachwelt ein ehrendes Andenken des für das a. h. [allerhöchste] Kaiserhaus und für sein Vaterland Tirol hochverdienten Andreas Hofer zu überliefern». Am Huldigungstag belehnte ein Stellvertreter des Kaisers die Angehörigen Hofers dann wieder mit ihrem verkauften Hof, womit diese in ein unmittelbares Lehensverhältnis zum Monarchen traten.42

In jener Periode verbesserte sich Andreas Hofers Ruf in weiten Kreisen der deutschsprachigen Bevölkerung Tirols. Zuerst wurde Hofer vor allem von nationalliberalen Kreisen aufgegriffen, später dezidiert von der konservativen Seite. Dadurch entwickelte sich die Figur nach der Jahrhundertmitte mehr und mehr zu einem Abgrenzungssymbol gegen den italienischsprachigen Landesteil im Süden. Sehr wichtig war die Verbindung mit dem Aufstieg des politischen Katholizismus im Zeichen des Kulturkampfs. 1866 beschloss ein Komitee aus lokalen Honoratioren, Klerikern und zwei Landtagsabgeordneten, eine Hofer-Gedächtniskapelle unweit vom Sandhof zu errichten.43 Im Spendenaufruf für die Kapelle wurde er 1866 als «christlicher Held» und «unerschrockener Martyrer» bezeichnet. Der Aufstand von 1809 habe gezeigt, «daß die Gebirgssöhne Tirols auch damals wie immer ein freiheitsliebendes Volk waren, daß in ihrer alten Verfassung ihr zeitliches Wohl und der weltbekannte Patriotismus begründet sei[en], daß nur durch Anerkennung der Eigenthümlichkeiten des Landes das tirolische Alpenland eine werthvolle Perle in der Kaiserkrone sei». Diese autonomistische Spitze gegen Wien könnte ein Grund für die sehr lange Bauverzögerung gewesen sein. Als die Gedächtniskapelle im September 1899 endlich eingeweiht werden konnte, waren die konservativen Kräfte aber vereint. Kaiser Franz Joseph und drei Erzherzöge nahmen persönlich an den Feierlichkeiten in Meran und im Passeiertal teil.44


Abb. 8: «Andreas Hofer’s Tod in Mantua, am 20. Februar 1810». Fresko von 1899 in der Herz-Jesu-Kapelle im Passeiertal, Südtirol.

Um die Jahrhundertwende kam es zu einem Crescendo solcher Feierlichkeiten. Schon drei Jahre vor dem Kapellenbau hatte der Kaiser auf dem Berg Isel bei Innsbruck, wo die meisten Schlachten von 1809 stattgefunden hatten, ein Hofer-Denkmal feierlich enthüllt. Den Höhepunkt bildete aber die Landesjahrhundertfeier von 1909. Während frühere Jubiläumsmöglichkeiten (die 50. oder 75. Jährung des Aufstands) unbeachtet geblieben waren, plante man jetzt mit enormem Mitteleinsatz eine Masseninszenierung und grossmassstäbliche Huldigungszeremonie nach der Devise «Für Gott, Kaiser und Vaterland». Höhepunkte waren die Ankunft des Kaisers in Innsbruck, die Messe auf dem Berg Isel und der grosse Schützenumzug in der Stadt. Mit den Worten «Namens des Landes gelobe ich Eurer Majestät unwandelbare Treue und Ergebenheit» erneuerte der Landeshauptmann den hundertjährigen Schwur Hofers. Insgesamt sollen um die 30 000 Personen am Fest teilgenommen haben, und in fast allen kleineren und grösseren Ortschaften Tirols wurden weitere lokale Feiern abgehalten. Die Andreas-Hofer-Verehrung verschmolz an diesem Anlass mit dem modernen Kult um die Person von Franz Joseph, der als guter, väterlicher Kaiser galt und Habsburg ein populäres Image gab, wie es bisher nie da gewesen war.45

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