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Читать книгу: «Reichsgräfin Gisela», страница 4

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Jutta hatte sich bis dahin, starr vor Entsetzen, in eine dunkle Fensternische gedrückt. Der Mann dort mit der königlichen unanfechtbaren Haltung war der gefürchtete, allmächtige Minister des Landes. Sie hatte ihn nie gesehen, allein sie wußte, daß ein Federstrich seiner Hand, ein Wort aus seinem Munde genügte, über das Wohl und Wehe Tausender, wie über das des einzelnen unwiderruflich zu entscheiden; der konstitutionellen Staatseinrichtung zum Hohn regierte er mit der ganzen Rücksichtslosigkeit und Energie des Selbstherrschers – und ihn wagte die alte blinde Frau von ihrer Schwelle zu weisen, ihn überschüttete sie mit den bittersten Schmähungen, die er ruhig und hoheitsvoll hinnahm, solange sie ihm persönlich galten! Alle Gefühle des jungen Mädchens empörten sich gegen die Mutter; es fiel ihr nicht ein, zu erwägen, inwiefern die leidenschaftliche alte Frau in ihrem Rechte sein könne – für gewisse Naturen sind die Mächtigen stets in ihrem Recht, sie bekämpfen jede Auflehnung dagegen meist mit Erbitterung als das Unrecht, und daß die Naturen in der Mehrzahl sind, beweist uns die Weltgeschichte schlagend in der oft bis zur äußersten Grenze gehenden Duldsamkeit der Völker.

Diesem Zuge folgte denn auch die junge Dame, indem sie aus ihrer Ecke huschte und die Hand des beleidigten Mannes erfaßte. Welch ein verführerischer Zauber ergoß sich über die jugendliche Gestalt, als sie, das ideal schöne Haupt in den Nacken zurückgeworfen, angstvoll zu dem Geschmähten aufsah und seine Hand flehend gegen ihre Brust zog!... Die gehobene Rechte des Ministers sank bei dieser Berührung sofort nieder, er wandte den Kopf und hob die langen, schläfrigen Lider – welch ein Blick!... Er fiel wie ein Feuerregen in die Seele des jungen Mädchens. Diese glutvollen, für einen Moment völlig entschleierten Augen mit einem rätselhaften Ausdruck fest auf das erglühende Mädchengesicht geheftet, lächelte Baron Fleury und zog langsam die bebenden kleinen weißen Hände an seine Lippen.

Und daneben saß die blinde Mutter und erwartete in atemloser Spannung eine erbitterte Antwort, einen endlichen Ausbruch der Gereiztheit und mit ihm die Genugtuung, ihren Todfeind verwundet zu haben – umsonst, nicht ein Wort erfolgte; und er stand doch neben ihr, sie hörte, wie er sich bewegte, ja, sie hatte soeben mit Abscheu seinen über ihr Gesicht hinwehenden Atem gefühlt – dieses beharrliche, verächtliche Schweigen versetzte sie in eine unglaubliche Aufregung.

»Ja, ja, die Fleury haben die Macht des Wechsels in seiner ganzen Höhe und Tiefe durchgekostet!« hob sie nach einer momentanen Pause bitter auflachend wieder an. »Durch viele Generationen hindurch werden sie zu denen gezählt, die mittels aristokratischer Fußtritte und Peitschenhiebe das französische Volk allmählich zur Revolution getrieben haben... Und nach so viel Grausamkeit und unzerstörbarem Übermut feige Flucht über den Rhein! Und der letzte gerettete Rest des Vermögens, alle am Hofe zu Versailles gelernte Beredsamkeit wird aufgeboten, um das Nachbarvolk gegen die eigene Nation zu hetzen – fremde Hände sollten das Opfer knebeln und binden, damit es wieder geduldig und widerstandslos zu den Füßen der Herren liege – Schmach über diese edlen Patrioten!« –

»Bleiben Sie bei der Sache, gnädige Frau!« unterbrach der Minister die Sprechende mit kalter Ruhe. »Ich habe Ihnen Zeit und Muße gelassen, einen persönlichen Haß, den Sie gegen mich zu hegen scheinen, zu begründen – statt dessen verirren Sie sich auf das Gebiet kleinlicher Rache, indem Sie meine schuldlose Familie schmähen... Wollen Sie die Gewogenheit haben, mir zu erklären, was Sie berechtigt, eine solche Sprache gegen mich zu führen!«

»Gerechter Gott, er fragt auch noch!« schrie die Blinde auf. »Als ob es nicht seine Hand gewesen wäre, die geholfen hat, den Unglücklichen in den Abgrund hinabzustoßen!« Sie suchte sich zu bezwingen. Tief Atem schöpfend und den siechen Körper noch einmal gewaltsam aufrichtend, hob und senkte sie die ausgestreckte Rechte mit einer fast feierlichen Bewegung und fuhr fort: »Leugnen Sie denn, daß das Vermögen der Zweiflingen auf dem grünen Tisch zerschmolzen ist, dem Seine Exzellenz, der jetzige Minister, einst präsidierte!... Leugnen Sie, daß der Reitknecht des Baron Fleury heimlich jenem Verblendeten die Billetdoux der Gräfin Völdern überbrachte, wenn er, bewegt durch die inständigen Bitten und namenlosen Leiden seiner unglücklichen Frau, Miene machte, den Weg der Treulosigkeit und des Verderbens zu verlassen!... Leugnen Sie, daß er einen frühen Tod finden mußte, weil er die Ehre verloren und zu spät seine Verführer erkannte!... Leugnen Sie dies alles – Sie haben die Stirne dazu, und eine Anzahl feiger Seelen wird es dem allmächtigen Minister nachbeten; aber ich, ich klage Sie an mit meinem letzten Atemzug – und es gibt einen Gott im Himmel!«

Wohl waren die weißen Wangen des Ministers um einen Schein fahler geworden, aber das war auch das einzige Anzeichen innerer Bewegung. Die Lider lagen längst wieder über den Augen und machten sie glanzlos und undurchdringlich, mit der schlanken, feingegliederten Hand nachlässig über den glänzend schwarzen Kinnbart gleitend, machte er weit eher den Eindruck, als höre er den ermüdenden Bericht eines Bittstellers, nicht aber eine so furchtbare Anklage.

»Sie sind krank, gnädige Frau«, sagte er so mild, als spräche er zu einem Kinde, während sie erschöpft schwieg; »dieser Umstand entschuldigt Ihre maßlose Bitterkeit in meinen Augen vollständig – ich werde sie zu vergessen suchen... Es würde mir ein leichtes sein, Ihre Beschuldigungen sofort schlagend zu widerlegen und vieles, was da geschehen sein mag, auf die eigentliche Quelle, die schrankenloseste weibliche Eifersucht zurückzuführen« – bei den letzten, mit großem Nachdruck betonten Worten verschärfte sich seine sonore Stimme und wurde spitz wie ein Dolch –, »allein nichts wird mich vermögen, im Beisein dieser jungen Dame hier Dinge zu erörtern, die ihr kindliches Gefühl schwer verletzen dürften.«

Die Blinde stieß ein bitteres Hohngelächter aus.

»O welche Zartheit!« rief sie. »Ich mache Ihnen mein Kompliment für diese brillante diplomatische Wendung!« fügte sie schneidend hinzu. »Übrigens sprechen Sie ohne Scheu – was Sie auch vorbringen mögen, es wird immer geeignet sein, häßliche Schlaglichter auf jene Sphäre zu werfen, die eben diese junge Dame hier in ihren kindischen Träumen ›das Paradies‹ zu nennen pflegt... ein Paradies – diese trügerische Decke über bodenlosen Abgründen!... Mit dem letzten Rest von Energie und Kraft, der meiner gebrochenen Seele geblieben ist, habe ich dies Kind dem Boden, dem es durch die Geburt angehört, entfremdet, ja entrissen, in treuer Fürsorge um sein Glück, aber auch – aus Rache für mich!... Die letzte Zweiflingen tritt in bürgerliche Verhältnisse, wo ich weiß, daß man sie auf Händen trägt, aber die Welt wird auch sagen: ›Da seht, welch elender Scheinen der Nimbus des Namens ist, wenn der Besitz fehlt!‹ – ein willkommener Beleg für die moderne Anschauungsweise, die einen Stein nach dem anderen aus dem Fundament der Aristokratie reißt!«

Sie brach zusammen.

»Und nun entfernen Sie sich!« gebot sie mit erlöschender Stimme. »Es würde der bitterste Schluß meines zertretenen Lebens sein, wenn ich verurteilt wäre – in Ihrer Gegenwart zu sterben!«

Einen Moment noch blieb der Minister zögernd stehen; allein es breitete sich ein Etwas über das aschfarbene Gesicht der Kranken, das, wenn auch oft in seinen Anfängen noch unverstanden, doch der Umgebung eine unwillkürliche Scheu einflößt: das Siegel des Todes!... Während Jutta, einen gewöhnlichen Krampfanfall der Leidenden voraussetzend, mit zitternden Händen Medizin in einen Löffel goß, schritt Baron Fleury geräuschlos nach der Tür. Auf der Schwelle blieb er stehen und wandte den Kopf zurück nach dem jungen Mädchen – noch einmal begegneten sich die vier Augen –, Jutta ließ erbebend den Löffel sinken, und die dunkeln Arzneitropfen ergossen sich über das weiße Tischtuch... Der Mann dort an der Tür lächelte und verschwand. Auch draußen über die hallenden Steinfliesen glitt sein erst so fest und gebieterisch auftretender Fuß fast unhörbar. Er schritt nicht nach der Haustür, über deren Schwelle die Herrin des Waldhauses unerbittlich ihn verwiesen hatte – der Sturm heulte grimmiger als je da draußen und rüttelte an den eichenen Bohlen der Tür, als verlange er ein heraustretendes Opfer, um es zerschmetternd gegen die Stämme der Waldbäume schleudern zu können... Der Minister wartete in Sieverts wohlgeheizter Stube, bis der alte Soldat, der bei den Pferden geblieben war, zurückkehrte. Mit ihm kamen einige Lakaien aus Arnsberg; sie trugen große Laternen, um vorausschreitend die schmale, gefahrvolle Waldstraße zu erhellen: Mittels frischer Pferde hatte man den Wagen bereits aus den Geleisen gehoben – und fünf Minuten später lag das ungastliche Haus wieder einsam und verlassen inmitten der brausenden Waldwipfel...

Noch vor Mitternacht schritten zwei Boten durch den beschneiten, aber nun totenstillen Wald nach dem Orte Greinsfeld, um den dortigen Arzt zu holen – ein Arbeiter vom Hüttenwerk und Sievert. In der Hüttenmeisterwohnung tobte der junge Bertold Ehrhardt in rasenden Fieberphantasien – er wehrte unter Verwünschungen unausgesetzt die weißen, bittend gefalteten Hände der Gräfin Völdern von sich ab, die er vor sich auf dem Boden liegen sah mit dem lang nachschleppenden gelben Haar und dem feinen Blutbächlein, das von der Schläfe herab über den schneeigen Hals und Busen rieselte. Im Waldhause aber lag eine, für die der Gang durch den Wald umsonst gemacht wurde. Sie kämpfte den letzten schweren Kampf fast mühelos. Die erkälteten Hände lagen unbeweglich im Schoße; in immer längeren Zwischenräumen säuselte ein fast unhörbarer Atemzug über die Lippen, und die halb zugesunkenen Lider zuckten und zitterten im letzten leisen Krampf – um den Mund aber zog sich bereits jenes stille Lächeln, das wir so gern als das Merkmal süßen Ausruhens und innigster Befriedigung bezeichnen... Wo war die Seele, die vor wenigen Stunden noch mit allen ihren Wunden, und noch einmal auf den Gipfel emporbrausender Leidenschaft sich erhebend, aus den nun gebrochenen Augen gefunkelt hatte?...

Jutta lag am Boden und preßte die Stirne auf das Knie der Sterbenden. In den dunkeln Locken hingen noch die Tazetten, die welkend ihre weißen Blätter falteten, und die prachtvolle blaue Seidenrobe floß über die groben Dielen – sie mahnte mit jedem leisen Knistern und Rauschen grausam an den letzten Schmerz, den die Tochter dem mütterlichen Herzen zugefügt hatte und der sich nicht mehr abbitten, nicht mehr sühnen ließ.

4

Auf dem kleinen, von einer halbzerfallenen Lehmmauer eingefriedigten Kirchhof zu Neuenfeld waren Frau von Zweiflingens sterbliche Überreste vor wenigen Tagen eingesenkt worden. Hier sah man freilich nicht ein einziges jener graubemoosten Zeichen, wie sie in aristokratischen Familiengrüften mit steinerner Zunge reden von ewigen Vorrechten und unübersteiglichen Schranken zwischen den Menschenkindern. Ganz entgegengesetzt dem Zwecke dieses Bilderschmuckes, der selbst angesichts der zerfallenen Erdenherrlichkeit noch Ehrfurcht für das moderne Geschlecht erzwingen will, denken wir nur daran, daß die armen Seelen unverhüllt und maskenlos in Gottes Hand zurückkehren mußten, in der sie anders wiegen als auf dem kleinen Erdenball, wo die Mitwelt götzendienerisch genug ist, weltlichen Besitz und ein Wappenschild in die Wagschale zu werfen...

Jetzt freilich breitete sich die Schneedecke alles einhüllend über die wenigen Hügelreihen des armseligen Dorfkirchhofs, in ihrer weißen Eintönigkeit nur selten unterbrochen durch ein vom Wind halb umgeblasenes schwarzes, schmuckloses Holzkreuz, den Ruheplatz einsamer Krähen – im Sommer aber, da kamen Waldesschatten und Waldesduft über die Mauer, die bergansteigend hart an die letzten Buchen stieß. Da floß und flutete Leben in dem fetten Grün des Haseldickichts, das in den vier Mauerecken wucherte, in den Adern der flinken Grasmücken und Rotkehlchen, die in dem Gebüsch ungestört nisteten, in den Brombeerranken, deren lange Arme vom Waldboden herüber lustig durch die Breschen der zerbröckelten Lehmwand krochen und eine ganze Last saftstrotzender, schwarzer Beeren auf die einsame, gemiedene Rasendecke legten; und der Sonnenstrahl lief emsig hin und her und zog ein buntes Blumenhaupt nach dem anderen aus der Saat des Todes – da klang das majestätische Auferstehen überzeugender als in den Mausoleen, wo Verwesung und Moder die Herren sind...

Vielleicht dieser Gedanke, noch mehr aber wohl der glühende Haß gegen ihre Standesgenossen hatten Frau von Zweiflingen dieses einsame Grab wünschen lassen.

Noch an demselben Tage, an dem das dunkle Erdreich sich über dem ausgeglühten Herzen der Blinden schloß, hatte Jutta am Arm des Hüttenmeisters das Waldhaus verlassen und war in die Neuenfelder Pfarre übergesiedelt; dort sollte sie bleiben bis zu dem Augenblick, wo sie als junge Frau in die Hüttenmeisterwohnung einziehen konnte... So furchtbar auch die Gegenwart auf dem jungen Manne lastete – daheim lag sein Bruder, den er Tag und Nacht allein pflegte, fast hoffnungslos am Nervenfieber, und die Frau, die ihm mütterlich zugetan gewesen war, lebte nicht mehr – bei dem Gang durch den Wald hatte dennoch ein Gefühl unaussprechlichen Glückes alles Leid, alle Sorgen verdrängt. Das blasse Mädchen an seiner Seite, der Abgott aller seiner Gedanken, hatte auf der weiten Gotteswelt nun niemand mehr als ihn, und wenn sie auch schweigend, mit tiefgesenkten Wimpern neben ihm her geschritten war, so still und in sich gekehrt, wie sie ihm nie erschienen, wenn auch die sonst so unruhige, flinke Hand bewegungslos, wie von Marmor, auf seinem Arm gelegen hatte, all dies scheinbar Fremde und Neue in ihrem Wesen hatte ja doch nur den einen Grund, der sie sogar mit einem neuen Nimbus umgab: das Leid um die tote Mutter... Er wußte ja, daß sie an seinem Herzen den starren, tränenlosen Schmerz endlich ausweinen würde, daß ihre junge Seele allmählich jene Frische und übersprudelnde Lebendigkeit wieder erlangen müsse, die ihn, den ernsten, schweigsamen Mann, so unwiderstehlich bestrickten. Wie wollte er sie hegen und behüten!... Er glaubte an sein Glück so unerschütterlich wie an die Tatsache, daß die Sonne über ihm scheine. Hatte ihm Jutta nicht unzähligemal beteuert, daß sie ihn »unendlich liebe« und daß sie sich kindisch darauf freue, als seine kleine Frau im Hüttenhause schalten und walten zu dürfen?...

Die Pfarrerin hatte der jungen Dame das einzige heiz- und bewohnbare Stübchen im oberen Stockwerk des uralten, sehr baufälligen Pfarrhauses eingeräumt. Einige Möbel und das Klavier waren aus dem Waldhause herübergeschafft worden; denn bei »Pfarrers« gab es nicht ein einziges überflüssiges Stück Hausgerät – sie waren mittellos, wie nur je der bescheidene Seelsorger eines armen Thüringer Walddorfes, der als unbemittelter Kandidat ein noch ärmeres Mädchen geliebt und es nach Erlangung der ersten heißgewünschten Pfarrstelle frischweg geheiratet hat... Die kostbaren Möbel aus dem düsteren Turmzimmer mußten sich somit eine abermalige Degradierung gefallen lassen, denn sie standen an weißgetünchten Kalkwänden; allein diese eintönigen Wandflächen waren von einem zarten Gespinst langer Immergrünranken überzogen, und jeder Strahl der Wintersonne, der draußen durch die Schneewolken lugte, kam durch eines der Eckfenster herein und legte goldglänzende Streifen über den lustig grünenden Wandschmuck und die rissigen Dielen des Fußbodens. Freilich lag die köstliche Waldlandschaft vor den Fenstern jetzt unter Schnee und Eis; allein die im Sommer den Blick sehr beschränkenden Laubmassen waren auch unter den Winterstürmen gesunken und ließen manches auftauchen, was sonst wie verschollen hinter grünen Wänden steckte. Dorf Neuenfeld und vor allem das Eckstübchen im Pfarrhause hatten deshalb zur Abendzeit ein selten gesehenes Schauspiel.

Sobald die Sonne erloschen war, dämmerten drüben in dem ziemlich entfernt liegenden und seit Jahren nicht bewohnten Schloß Arnsberg die Lichter auf, und je dunkler die Nacht hereinbrach, desto höher erglühten die Fensterreihen. In den langen Korridoren brannten mächtige, an der Decke schwebende Kugellampen, die mit ihrem weißen Licht auch die entlegensten Winkel und Ecken durchfluteten – so war selbst zu Prinz Heinrichs Lebzeiten nicht beleuchtet worden. Ebenso durchströmte eine wohldurchwärmte Luft den mächtigen, alten Bau von der Mansarde bis zum weiten, hallenden Vestibül herab, und auf den Treppen und Vorplätzen, wohin der Fuß auch treten mochte, lagen weiche, warme Teppiche. Aus dem Treibhause hatte man die wohlbehütete Orangerie in das Schloß herübergeschafft, und die hohen Orangen-, Myrten- und Oleanderbäume, einst Prinz Heinrichs Stolz und der Gegenstand seiner fast zärtlichen Sorgfalt, standen jetzt wie diensttuende Lakaien an der Mündung der Treppen und in den Vorsälen, um einen leichten Traum von Sommergrün und Sonnenwärme zu erwecken – und das alles um eines Kindes, eines kleinen schwächlichen, verwöhnten Mädchens willen!

Baron Fleury hütete die kleine Gisela wie seinen Augapfel; man hätte fast meinen können, sein ganzes Denken und Sinnen bewegte sich einzig um dies zarte Geschöpfchen und sein Gedeihen. Die Welt schlug ihm diese zärtliche Fürsorge um so höher an, als Gisela nicht sein Kind war... Wie wir wissen, hatte die Gräfin Völdern eine einzige Tochter, die in erster Ehe mit dem Grafen Sturm verheiratet war. Man erzählte sich allgemein, diese Ehe, die aus gegenseitiger glühender Neigung und, wie man wußte, eigentlich gegen den Willen der Gräfin Völdern geschlossen worden war, sei eine sehr unglückliche gewesen und die junge Gräfin habe keine Ursache gehabt, den entsetzlichen Sturz mit dem Pferde zu beweinen, an dessen Folgen ihr Gemahl nach zehnjähriger Ehe starb. Die Gräfin hatte drei Kinder geboren, von denen nur das jüngste, die kleine Gisela, am Leben blieb... Zu derselben Zeit, wo Graf Sturm aus der Welt ging, wurde Baron Fleury fürstlich A.scher Minister. Man munkelte ferner, Seine Exzellenz habe bereits zu Lebzeiten des Gemahls eine heimliche Neigung für die schöne Gräfin gehabt, und diese Behauptung wurde insofern bestätigt, als der Baron nach Ablauf des Trauerjahres um die Hand der Witwe warb und sie auch erhielt. Die boshafte Welt flüsterte freilich, die Bevorzugung verdanke er weniger seinen persönlichen Eigenschaften, als seinem Einfluß am Hofe zu A., durch den sich die Gräfin Völdern den Zutritt habe wiederverschaffen wollen; denn, einmal als die Freundin des Prinzen Heinrich und später erst recht als dessen beglückte Universalerbin, hatte sie lange in Bann und Acht leben müssen... Sie erreichte übrigens durch die zweite Heirat der Tochter ihren Zweck vollkommen, und die Zeit, wo sie am A.schen Hofe wieder erscheinen durfte, galt noch in späteren Jahren in den Augen der Hofschranzen für »eine himmlische«.

Sie hatte einen niegesehenen Glanz um sich verbreitet durch ihre noch immer bezaubernde Erscheinung und ihre Reichtümer, die sie mit vollen Händen ausstreute, um den schlüpfrigen Boden unter ihren Füßen zu befestigen... Diese Triumphe genoß sie indes nicht lange. Die Baronin Fleury starb, nachdem sie einen toten Knaben geboren hatte, im Wochenbett, und drei Jahre später verschied die Gräfin Völdern – »leicht und selig wie eine Gerechte« – sagte der Volksmund und mit ihm Sievert. Sie war nur zwei Tage krank gewesen, hatte, als gläubige Katholikin, regelrecht, in aller Form die letzte Ölung empfangen und war hinübergeschlummert mit einem fast kinderhaft unschuldigen Lächeln, und von nah und fern kamen die Leute, um das engelschöne Wachsbild im Sarge zu sehen, die Frau, die so viel gesündigt und nie – gelitten hatte... Die fünfjährige, nun völlig verwaiste Gräfin Gisela blieb im Hause ihres Stiefvaters und war alleinige Erbin der sämtlichen gräflich Völdernschen Besitzungen, mit Ausnahme von Arnsberg, das sich schon längst nicht mehr im Besitze der Gräfin Völdern befand. Zum großen Erstaunen der Welt hatte nämlich die Universalerbin wenige Monate nach Antritt ihrer Erbschaft das Schloß mit dem dazu gehörigen Areal an Wald und Feld dem ihr damals noch völlig fernstehenden Baron Fleury um die Summe von dreißigtausend Talern, und zwar unter dem allgemein belächelten, sehr empfindsam klingenden Vorwande verkauft, daß ihr diese Besitzung als der Sterbeort ihres Freundes, des Prinzen, allzu schmerzliche Erinnerungen wecke.

Das reichsgräfliche Kind erschien demnach auf seiner Flucht vor dem Nervenfieber nicht als Herrin, sondern als Gast des Stiefvaters in Schloß Arnsberg. Letzterer hatte übrigens Sieverts Voraussetzung nicht wahr gemacht; nach nur zweitägigem Aufenthalt war er abgereist, um sich zu seinem Fürsten zu begeben, der fern von A. auf einem Jagdschloß verweilte... Jutta hatte den Minister nicht wiedergesehen. Am Tage nach dem Hinscheiden der Blinden war Frau von Herbeck in das Waldhaus gekommen, um im Namen Seiner Exzellenz zu kondolieren, und das prachtvolle Bukett, das bei der Beerdigung zu Füßen der Toten lag, stammte aus dem Arnsberger Treibhause – wer der Unglücklichen in ihren letzten Lebensstunden gesagt hätte, daß ein Blumengeschenk von seiner Hand mit ihr in ein und demselben Totenschrein modern würde!...

Inzwischen war das Weihnachtsfest herangekommen. Im klingenden Eispanzer, den Saum des schwer nachschleppenden Schneemantels bis an die Fenstersimse der niedrigen Bauernhütten werfend, schritt es über den Thüringer Wald hin; froststarre Tränen hingen an seinen Wimpern, und das Wehen seines Atems scheuchte alles warme Leben hinter die schützenden Türen und Mauern; aber die Tannenkrone über seinem lieben Heiligengesicht blitzte wie ein Königsdiadem – die kalte Wintersonne stand unverhüllt am klarblauen Himmel und weckte bleiche Funken in jedem Eiszapfen – und mit bezeichnendem Finger streifte es hier und da über eine einzelne junge Fichte im Schlag; sie stand da und träumte im dämmernden Winterschlaf von Wachsen und Großwerden, von der Zeit, wo ihr schlanker Stamm sich hoch in die blauen Lüfte hinaufrecken und mit seiner Spitze an die goldenen Sterne rühren würde, von den purpurnen Blüten, die dereinst droben zwischen den Ästen aufglühen und, vom Sonnenlicht umkost, ihre hochgetragene Schönheit in die weite, weite Welt hinausleuchten sollten – und sie erwacht plötzlich, von milder, warmer Luft geweckt; ihr kleiner Wipfel ragt nicht in den Himmel, und die roten Blüten schlummern unverschlossen weiter, wohl aber sind die Sterne von droben herabgesunken und flammen auf den kleinen Zweigen, und das arme, erschrockene Fichtenbäumlein ist selbst zur Blume geworden, zur strahlenden Wunderblume des Winters – o du süße, selige Weihnachtszeit!...

Auch auf dem blühenden Gesicht der Pfarrerin von Neuenfeld lag es wie wahrer Sonnenschein. Diese etwas derben, aber sehr regelmäßigen Züge trugen zwar immer das köstliche Gepräge ungetrübter, fast schelmischer Heiterkeit; allein jetzt lachte auch etwas wie verheimlichte Freude heraus. Die Frau hatte ja sieben Kinder, und diese sieben abgöttisch geliebten Blondköpfchen sollte sie in glückseliger Überraschung unter dem Weihnachtsbaum sehen... Es war diesmal keine leichte Aufgabe gewesen, die Christbescherung zu beschaffen – die Kartoffeln waren nicht geraten, und der Herr Pfarrer hatte einen neuen Winterrock unbedingt nötig gehabt – indes, ein viermaliger Gänsebraten auf dem Tisch eines armen Thüringer Landgeistlichen war sündhafter Luxus, und deshalb ließ die Pfarrerin drei Stück ihrer vier fetten, wohlgeratenen Gänse leichten Herzens gen A. ziehen, wo sie gut bezahlt wurden. Die einzige Kuh im Stalle des Pfarrhauses lieferte zwar nach wie vor dieselbe Menge Milch; dennoch kam jetzt wöchentlich ein Pfund der berühmten Neuenfelder »Pfarrbutter« mehr auf den Markt; die Pastorin aß seit Monaten ihr Frühstücksbrot und die Abendkartoffeln nur mit Salz, und Rosamunde, die alte Magd, übte sich tapfer mit bei diesem Enthaltungssystem. Und endlich kam der Tag, wo die mühsam ersparten Groschen und Pfennige in Gestalt von verschiedenen Paketen nach dem Pfarrhause zurückwanderten. Während die alte, halberfrorene Botenfrau hinter der verriegelten Küchentür mit verklommenen Fingern Stück um Stück der weit hergeschleppten Schätze aus ihrem Tragkorb holte, kauerten drei kleine Mädchen mäuschenstill draußen auf der uralten, ausgehöhlten Schwelle. Die dicken Blondzöpfe fest an die Türritzen gedrückt und ihre kleinen, frierenden Hände unter die Schürze steckend, horchten sie nach echter Evaweise, indes drei wilde Jungen, das Erfolglose des Schlüssellochguckens endlich einsehend, den Genuß der beharrlichen Schwestern durch Zupfen an den Kleidern und Zöpfen zu verkümmern suchten. Da fiel ein Etwas mit leise schmetterndem Geräusch auf den Backsteinfußboden der Küche und rollte weiter. – »Eine Nuß!« jubelte der Chor selbstverräterisch auf, und die Pfarrerin öffnete leise lachend ein Paket und hielt es geräuschlos an die Türspalte – ach, Pfefferkuchen! – Wo wäre eine Kinderseele, die sein Duft nicht sofort in die Welt der Weihnachtswunder versenkte!

Von diesem fröhlichen, geheimnisvollen Treiben im unteren Stockwerk wurde Jutta nicht im entferntesten berührt. Sie kam nur zur Tischzeit in die Familienstube. Das neue schwarze Wollkleid mit den Kreppstreifen um den Halsausschnitt fiel in weichen Falten, eine lange Schleppe bildend, auf den Boden nieder und verlieh der Gestalt, die plötzlich sehr beherrschte, hoheitsvolle Bewegungen angenommen hatte, eine Art von stiller Majestät. Dieser Eindruck wurde erhöht durch das lilienweiße Gesicht mit den meist festgeschlossenen Lippen – die reizenden Grübchen, die das Lächeln in den Wangen des jungen Mädchens vertiefte, hatten die Bewohner des Pfarrhauses noch nicht gesehen – und die Sorgfalt, mit der ihre zarten, leuchtendweißen Hände den nachschleppenden Kleidersaum beim Eintritt in die Wohnstube aufnahmen, galt nicht allein dem sandbestreuten Fußboden, es war zugleich ein zwar graziös, aber auch sehr bestimmt ausgedrücktes »Rühr mich nicht an!« für die Kinderschar. Die Kleinen blickten denn auch verschüchtert nach dem stummen, ernsten Tischgast hinüber; das lustige Geklapper der Löffel und Gabeln klang gemäßigter, und die allzeit rührigen Mäulchen schwiegen gedrückt und verlegen.

Der Pfarrer ehrte Juttas »tiefe, wortlose Trauer«, er begegnete ihr um derentwillen mit erhöhter Achtung und Rücksicht; der Blick einer Frau und Mutter dagegen ist schärfer – die Pfarrerin sah oft verstohlen und prüfend von ihrem Teller auf –, das war nicht Seelenschmerz, was dem Gesicht dort das Gepräge vornehmer Unnahbarkeit aufdrückte und den Blick der jungen Dame eisig kalt und teilnahmslos über die doch gewiß unwiderstehliche Lieblichkeit der kleinen, blonden Lieblinge hingleiten ließ; die »stille, wortlose Trauer« flieht auch bang und scheu jedes lautere Geräusch – Jutta aber hatte bereits ihre Klavierübungen wieder aufgenommen und »raste« oft stundenlang über die Tasten. Indes, der echte, brave Frauencharakter sucht stets nach einem Entschuldigungsgrund für mißfällige Wahrnehmungen am eigenen Geschlecht, und demgemäß folgerte die Pfarrerin, Jutta sei verzeihlicherweise verstimmt, weil sie den Bräutigam fast gar nicht sehen durfte. Der junge Bertold schwebte noch zwischen Leben und Tod, und wenn auch Sievert die Pflege mit übernommen hatte und Tag und Nacht nicht aus dem Hüttenhause wich, so hielt doch die Besorgnis, den Ansteckungsstoff weiter zu tragen, den Hüttenmeister von häufigen Besuchen in der Pfarre zurück – er war bis jetzt nur einmal gekommen, allein erst, nachdem er in der Gießerei den Anzug gewechselt hatte und stundenlang im Freien umhergelaufen war.

Dagegen suchte Frau von Herbeck in Begleitung des gräflichen Kindes fast täglich die Trauernde in der Eckstube auf. Im unteren Stockwerk kehrte sie nie ein, aber sie erlaubte der kleinen Gisela, wenn auch nur für Augenblicke, hier und da in die Kinderstube zu gehen, während sie in unermüdlicher Plauderei bis zur einbrechenden Nacht bei Jutta saß.

Nun war der Heilige Abend da. Die harten, unvermischten Farbentöne, die den klaren Wintertag charakterisieren, rannen allmählich in das matte Grau der Dämmerung zusammen. Es war sehr kalt; der lebendige Atem wurde zur Dampfsäule in der strengen Luft, und der hartgefrorene Schnee krachte unter den Wagenrädern und Menschentritten. Trotzdem war Frau von Herbeck mit der kleinen Gräfin in die Pfarre gekommen – Gisela wollte den Christbaum brennen sehen; der ihrige sollte erst am morgenden Feiertag angezündet werden.

Im kleinen eisernen Ofen des Eckstübchens trommelte und brauste ein wohlunterhaltenes Feuer. Einige Körner feinen Rauchpulvers lösten sich auf der heißen Platte, und ihre Dunstwölkchen mischten sich mit dem starken Aroma, das aus der auf dem Sofatisch stehenden kleinen Kaffeemaschine strömte. Noch brannte kein Licht. Die dichten Kattunvorhänge ließen den letzten ungewissen Schein des vergehenden Tages nur als schmalen, bleichen Streifen auf die Dielen fallen, während an den Wänden hin tiefe Schatten huschten. Aber aus dem Zugloch und der schlechtverschlossenen Tür des Ofens floß ein intensiver Glutschein und hauchte rötliche Tinten auf das elegante Klavier und das weiße Atlasgewand des darüber hängenden mütterlichen Bildes. Ein fraulicherer Raum als diese in Winterluft und Abendschatten hineinragende Ecke ließ sich wohl nicht denken.

Die kleine Gisela kniete auf einem Stuhl am Fenster. Sie konnte noch nicht in die Kinderstube, weil die Kleinen gebadet wurden. Einstweilen begnügte sie sich, einen hungrigen Raben zu beobachten, der auf einem nahen Birnbaum umherhüpfte und mit seinen schwarzen, hängenden Flügeln ganze Schneeladungen von den Ästen stieß. Auf dem kleinen, unschönen Gesicht lag jedoch keineswegs jenes oberflächliche Interesse, mit dem das gewöhnliche Kinderauge lediglich der raschen Beweglichkeit eines Vogels folgt. Dieser junge Kopf verbarg unverkennbar den Keim zur nachdenklichen Grübelei, zu jenem Insichversenken, das mit leidenschaftlicher Hartnäckigkeit dem Ursprung und Ausgangspunkt aller Dinge nachgeht und dabei für Augenblicke alle Beziehung zur Außenwelt verliert. Die Kleine mit dem tiefnachdenklichen Blick hörte demnach sicher nicht ein Wort von dem Geplauder der beiden Damen, die hinter ihr auf dem Sofa saßen.

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