Читать книгу: «Das Heideprinzesschen», страница 6

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8.

Der einsame Dierkhof hatte just seine schönste Zeit; er lag mitten in einem pfirsichfarbenen Bett – die Heide fing an zu blühen, und die Bienenschwärme, die bis dahin auf den goldenen Rübsamenfeldern und in der Buchweizenblüte geschwelgt hatten, breiteten sich nun wonnetrunken über den unabsehbaren, honigtriefenden Flächen aus ... Nun summte sie wieder bestrickend und einlullend um das traute Dach, die uralte eintönige Heidemelodie! Aus den Lüften taumelten meine Lieblinge, die blauen Schmetterlinge, so massenhaft nieder, als sei der strahlende Sommerhimmel droben in Stückchen zerflattert; über die Sandblößen schlüpften goldflimmernde Laufkäfer, und an den Wiesen- und Gartenblumen hingen Perlmuttervögel, der prächtige Admiral und das Pfauenauge.

Sonst war ich den Schmetterlingen nachgelaufen, hatte sie eingefangen, mich ergötzt an dem wunderbaren Farbenspiel der Flügel, und sie dann wieder davonfliegen lassen – so hatte ich oft halbe Tage lang die Heide durchschwärmt; das war jetzt anders geworden. Ich hielt mich viel im Zimmer meiner Großmutter auf, das mit seinen altertümlichen, aus dem Judenhause stammenden Möbeln einen geheimnisvollen Reiz auf mich ausübte. Es lag und stand da alles an seinem alten Platze, nicht ein Gerät war verrückt worden, die große Uhr wurde wieder pünktlich aufgezogen, und damit nichts fehle, was den Glauben erwecken konnte, die Verstorbene walte noch in dem Raume, hatte Ilse die niedergebrannten Kerzen auf dem Silberleuchter durch neue ersetzt.

Sie schloß mir auch da und dort eine Truhe oder ein Spind auf: die Fächer waren meist leer – meine Großmutter hatte bei ihrer Flucht aus der Welt allen Ballast von sich geworfen. Dafür war mir aber auch jedes beschriebene Papierblättchen, jeder zerstäubende Blumenrest ein interessanter Fund.

In einem Schranke hingen auch noch verschiedene Kleidungsstücke, die meine Großmutter aber nie in der Heide getragen hatte. Eines Tages nahm Ilse ein schwarzes, wollenes Kleid aus dem Schranke, zertrennte es und fing an, zuzuschneiden – sie hatte in der Stadt schneidern gelernt, und das war ihr Stolz ... Ich war sehr erschrocken, als sie mich aufforderte, zur Anprobe in das Werk ihrer Hände zu schlüpfen – das Ding sah aus wie ein Küraß.

»Ilse, nur das nicht,« protestierte ich schaudernd und zerrte ängstlich an dem pressenden Halsausschnitt, der mir dicht an der Kehle saß, und mein Ellbogen gab sich insgeheim alle Mühe, die enge, drückende Aermelnaht zu zersprengen.

»Ei was – wirst dich schon dran gewöhnen!« sagte sie kaltblütig und schneiderte weiter.

Wir saßen im Baumhof unter den Eichen, wohin ich einen Tisch und Stühle getragen hatte. Draußen über der Ebene brütete die flimmernde Nachmittagssonnenhitze; aber hier war es schattig kühl und still; nur die Bienen summten, und droben im Nest schrieen die jungen Elstern. Ich hatte den übergroßen, runden, braunen Strohhut unter den Händen, den mir Ilse vor circa fünf Sommern aus der Stadt hatte kommen lassen, und trennte auf ihr Geheiß das Rosaband herunter, das die Wonne meiner Augen gewesen war.

Da kam Heinz aus dem nächsten Dorfe zurück und legte einen Brief vor Ilse hin.

Mein Vater hatte auf die ihm telegraphisch mitgeteilte Nachricht vom Ableben meiner Großmutter hin geschrieben und sein Nichterscheinen bei der Beerdigung mit ernstlichem Kranksein entschuldigt. Seitdem war die Korrespondenz zwischen ihm und Ilse eine ziemlich lebhafte geworden; um was es sich handelte, wußte ich nicht, ich bekam keine Zeile zu sehen; aber so viel war mir bekannt, daß zwischen Ilses letztem Schreiben und der Antwort meines Vaters, die sie da eben vor meinen Augen überlas, kaum fünf Tage lagen.

»Nichts da!« sagte sie und steckte den Brief in die Tasche. »Uebermorgen reisen wir – dabei bleibt's!«

Hut und Schere fielen mir aus den Händen.

»Reisen wir!« wiederholte ich mit stockendem Atem. »Du willst mit Heinz fort? ... Ihr wollt mich mutterseelenallein auf dem Dierkhofe lassen?«

»O je, da wär' er gut aufgehoben, der arme Dierkhof!« rief sie, und zum erstenmal wieder seit dem Tode meiner Großmutter flog ein schwaches Lächeln über ihre Züge. »Närrisches Ding, du sollst fort!«

Ich stand auf und warf meinen Stuhl so heftig zurück, daß er polternd hinten über fiel.

»Ich? – wohin denn?« stieß ich hervor.

»In die Stadt,« lautete die lakonische Antwort.

Das ganze sonnige Heideland draußen und die urkräftigen, rauschenden Eichen über mir versanken – die entsetzliche, dunkle Hinterstube umfing mich, und ich sah in das feuchte, karge Gärtchen inmitten der vier grünangelaufenen Häuserwände.

»Und was soll ich in der Stadt?« preßte ich heraus.

»Lernen. –«

»Ich gehe nicht mit, Ilse, darauf kannst du dich verlassen!« erklärte ich entschieden, während ich mit den bitteren, heißen Thränen rang. »Mache mit mir, was du willst – aber du sollst sehen, ich klammere mich in der letzten Stunde draußen am Hausthorpfosten an ... Ob du das Herz hast, mich fortzuschleppen?« Ich schüttelte Heinz, der wie eine Bildsäule mit offenem Munde dastand, verzweiflungsvoll am Aermel. »Hörst du denn nicht – fort soll ich! ... Wirst du das leiden, Heinz!«

»Ist's denn wirklich wahr, Ilse?« fragte er beklommen und faltete die ungeschlachten Hände ineinander.

»Nun sehe mir einer die zwei Kinder hier an – thun sie doch wirklich, als sollte der Kleinen der Hals abgeschnitten werden!« schalt sie, aber ich sah recht gut, daß ihr gar nicht wohl zu Mute war bei meiner ausbrechenden Heftigkeit. »Meinst du denn, es kann das ganze Leben lang so fortgehen, Heinz, daß das Kind wie ein Heide den ganzen lieben Tag über draußen herumtobt und mir Abends barfuß, mit Schuhen und Strümpfen in der Hand, heimkommt? ... Sie kann nichts und versteht nichts und läuft fort wie eine wilde Katze, wenn ihr ein fremdes Gesicht über den Weg geht! ... Wo soll's endlich hinaus? ... Das ist immer mein stiller Kummer gewesen, und ich hab' manchmal vor Angst nicht einschlafen können; aber so lange die Großmutter lebte, konnte ich nicht fort – das ist vorbei, und nun halten mich keine zehn Pferde mehr! Sei vernünftig, Kind!« sagte sie zu mir und zog mich wie ein kleines Kind auf ihre Kniee. »Ich bringe dich zu deinem Vater – nur zwei Jahre bleibe draußen und lerne was Rechtes, und wenn es dir durchaus nicht gefallen will, so kommst du wieder heim auf den Dierkhof, und nachher bleiben wir zusammen, gelt?«

Zwei Jahre! Das war ja eine ganze Ewigkeit! ... Zweimal sollte die Heide blühen, sollten die Störche fortziehen und wiederkommen, und ich war nicht auf dem Dierkhof; ich steckte zwischen vier dumpfen Wänden und knebelte am verhaßten Strickstrumpf, oder mußte wohl gar Schreibübungen halten und neue Bibelsprüche auswendig lernen! ... Ich schauderte und schüttelte mich, und jede Fiber in mir stählte sich zum Aufruhr und energischem Widerstand.

»Ilse, da lasse mich nur gleich drüben auf dem Gottesacker einscharren!« sagte ich trotzig. »In die entsetzliche Hinterstube bringst du mich nicht –«

»Dummes Zeug!« unterbrach sie mich. »Glaubst du denn, dein Vater kann sie im Koffer mitnehmen? ... Er ist ja fortgezogen, und Vieles ist anders geworden – nun wohnt er ja in K.«

Husch, da war der braune Lockenkopf mit der blendend weißen Stirn wieder und sah mich mit spöttischen Augen an – er kam immer so unversehens und erschreckte mich jedesmal so heftig, daß mir das Blut heiß nach den Schläfen schoß!

»Mein Vater will mich ja nicht!« sagte ich und steckte das Gesicht in Ilses Halstuch.

»Das wollen wir sehen!« versetzte sie mit einem schlecht unterdrückten Seufzer; aber sie warf herausfordernd den Kopf zurück und schob mich von sich.

»Muß es wirklich sein? ... Ach, Ilse –«

»Es muß sein, Kind! ... Und nun sei still und mache mir das Leben nicht schwer! Denke an deine Großmutter – die hat's auch so gewollt!«

Sie nähte mit verdoppeltem Eifer den zweiten Aermel in das schwarze Kleid; Heinz aber schob die kaltgewordene Pfeife in die Tasche und schlich fort. Gegen Abend sah ich ihn drüben auf dem großen Hünenbett sitzen; er hatte die Arme um die Kniee gelegt und sah unverwandt hinaus ins Weite ... Ich lief hinüber und setzte mich zu ihm, und nun flossen die Thränen unaufhaltsam, die sich in Ilses strenger Gegenwart nicht hervorgewagt hatten. Ein so tiefes Trennungsweh hatte das blaue Stück Himmel über uns wohl lange nicht gesehen!

Am andern Tage sah die Wohnstube schrecklich aus. Eine große hölzerne Truhe stand auf den Dielen, und Ilse packte ein.

»Da sieh her!« sagte sie und hielt mir ein Paket grober, buntgewürfelter Bettüberzüge hin. »Ist das nicht eine wahre Pracht! ... Ja, da ist Kern drin! ... Das Spinnwebenzeug, in dem die Großmutter schlief, ist mir von jeher ein Greuel gewesen!«

Sie schob einen Stoß außerordentlich feinen, mit Stickerei besetzten Leinenzeugs verächtlich auf die Seite. »Die neuen Ueberzüge bekommst du mit; die habe ich nach und nach für den Haushalt angeschafft, seit wir auf dem Dierkhof sind – halte sie ordentlich!«

Auch ein ganzes Regiment jener steifen, unförmlichen Strümpfe aus Heidschnuckenwolle wanderten in den Koffer und füllten einen beträchtlichen Raum. Ilse hatte jahrelang beträchtliche Vorräte für mich aufgespeichert, die nun draußen in der Welt »Staat machen« sollten ... Dann wurden kolossale strotzende Federbetten zu einem Ballen geknetet und in Sackzeug eingenäht – ein riesiges Frachtstück!

Mir verursachten alle diese Vorbereitungen entsetzliches Herzweh, und doch gab es Augenblicke, wo meine junge Seele plötzlich schwoll, wo es über sie kam wie ein frohes Ahnen, eine schöne Hoffnung; aber das erschien und erlosch wie der Blitz, und – seltsame Gedankenverbindung – mein Blick huschte jedesmal scheu und prüfend über meine Schuhe hin. Sie waren jetzt recht hübsch ausgetreten und gewährten meinen Füßen in liberalster Weise Spielraum. Ich trat so stark auf, als ich vermochte, und suchte mein ängstliches Herz mit der unumstößlichen Gewißheit zu beruhigen, daß die Nägel doch bei Weitem nicht mehr so entsetzlich klapperten wie vor vier Wochen. Aber das half nicht immer, und so verstieg ich mich denn einmal in meiner Bedrängnis zu der schüchternen Bitte, Ilse möchte mir unterwegs ein Paar neue Schuhe kaufen. Aber da kam ich schön an. Sie zog mir einen Schuh aus und hielt ihn gegen das Licht.

»Solche Nähte und solche Sohlen, die kann man suchen!« sagte sie. »Das sind Schuhe, in denen du noch nach zwei Jahren zum Tanze gehen kannst! ... Brauchst keine neuen!«

Damit war die Sache erledigt.

Und er kam wirklich, der Morgen, da ich meinen geliebten Dierkhof verlassen sollte ... Früh vor vier Uhr lief ich schon durch die tautriefende Heide. Ich winkte mit ausgebreiteten Armen über die Millionen blütenbeschwerter Erikastengel hin und nach dem qualmenden Torfsumpf hinüber, und schüttelte die gute, alte Föhre im Abschiedsschmerz so heftig, daß die letzten dürren Nadeln vom vergangenen Winter auf mein flatterndes Haar herabrieselten ... Spitz war mitgelaufen und bellte und freute sich wie närrisch – er hielt alle meine heftigen Bewegungen für eitel Spaß und Kurzweil, die ich ihm machen wolle. Ich flocht einen bunten Kranz und legte ihn auf Miekes Hörner, die schlaftrunken aufblinzelte und zu bequem war, um mir auch nur mit einem leisen Brummen zu danken oder Adieu zu sagen.

Dann zog mir Ilse das neue, schwarze Kleid an und band eine schneeweiße, breite und faltenreiche Batistkrause aus dem Wäschespind der Großmutter um meinen Hals – mein schwarzbrauner Kopf lag darauf wie eine abgefallene Haselnuß auf einem kleinen Schneepolster. Darüber wölbte sich der umfangreiche, braune Strohhut, den Ilse mit einem schwarzen Band besteckt hatte. Ich mag wohl eine merkwürdige Reiseerscheinung gewesen sein, ähnlich wie die kleinen Waldpilze mit den großen Hutdeckeln, die ich immer so lächerlich fand.

Nach dem Kaffee, den ich unter Thränenströmen hinabgeschluckt hatte, brachte Ilse eine Schachtel und nahm feierlich, mit spitzen Fingern einen violetten Tafthut heraus.

»Das war mein Kirchenhut in Hannover,« sagte sie, vor den Spiegel tretend und setzte sich das wunderliche Seidenhaus vorsichtig auf den Scheitel. »In der Stadt darf man nicht ohne Hut ausgehen – es ist nun einmal so!«

Ich sah scheu zu ihr auf. Der Begriff »Mode« existierte natürlicherweise nicht für mich. Ich hatte keine Ahnung davon, daß es jenseits der Heide eine Macht gab, welcher sich der Mensch widerstandslos unterwirft, und von der er seine äußere Erscheinung in Formen treten und kneten läßt, wie sie gerade Lust und Laune hat. Deshalb wurde auch mein Respekt vor dem schnabelförmigen Gebäude selbst nicht im Geringsten geschmälert; aber es hatte während der zwanzigjährigen Rast in der Hutschachtel offenbar stark an Glanz und Nüance eingebüßt. Ilse schien das nicht zu finden. Sie zupfte die mißfarbenen Pensees über ihrer krausen, gelben Haarwolke zurecht, warf die offen herabhängenden Bindebänder in den Nacken zurück, schlug ein großes schwarzes Wolltuch um die Schultern, und fort ging es.

Heinz und ein Bauernknecht aus dem nächsten Dorfe fuhren das Gepäck. Sanft, aber unwiderstehlich schob mich Ilse aus dem Hausthor, auf dessen Schwelle meine Füße wie festgezaubert standen. Ich hörte hinter mir den Hausschlüssel umdrehen, dann scheuchte Ilse die Hühner und Enten zurück, die uns durchaus ins Freie begleiten wollten; sie schrieen und krakelten durcheinander, und dazwischen hinein brüllte die eingeschlossene Mieke von der Tenne her ... Auch das Gatterthor wurde hinter mir zugeschlagen und verrammelt, und nun wanderte ich hinaus aus dem Paradies meiner Kindheit auf demselben Wege, den einst Fräulein Streit gegangen war ...

Wie ich von Heinz fortgekommen bin, kann ich nicht sagen. Ueber den ganzen sonnigen Abschiedsmorgen breitet sich mir heute noch ein Thränenflor. Ich weiß nur, daß ich das gute, alte, weinende Menschenkind mit beiden Armen umschlungen und der schauderhaft breiten und steifen Hutkrempe zu Trotz mein Gesicht tief in seinen alten Drellrock eingewühlt habe, und daß er, umringt von gaffenden Bauernjungen, sein blaugewürfeltes Taschentuch vor die Augen hielt, während ich im Dorfe die Kalesche bestieg, in der wir fortrumpeln sollten nach der weitentfernten ersten Poststation.

9.

»Zu Herrn Doktor von Sassen!« sagte Ilse gebieterisch zu den zwei Männern, die unsere Habseligkeiten auf einen kleinen Wagen luden.

»Kenne ich nicht!« versetzte der Eine.

Ilse nannte die Hausnummer.

»Ah, das große Sämereigeschäft – Firma Claudius? ... Wohl, wohl!« sagte er ehrerbietig, und der Wagen rollte fort.

Eine erstickende Staubwolke empfing uns auf der Promenade, die sich zwischen der Stadt und dem Bahnhof hinzog, und auf den weiten Rasenplätzen ringsum und den kleinen hübschen Kastanien über unseren Häuptern lag es schwer und grau, als habe es Asche geschneit ... Hier flog doch wenigstens noch ein Luftzug auf; aber in den Straßen, die wir nun durchwandern mußten, herrschte bleierne, mephitisch dumpfe Schwüle. Dann und wann öffnete sich eine der engen Gassen, und wie eine eintönige, sonnenflimmernde Scheibe breitete sich ein weiter Platz draußen hin – mir war, als müßten dort die erhitzten Pflastersteine dampfen oder helle Funken zurücksprühen ... Ach, die rotblühende Ebene daheim mit dem erquickenden Heideduft und den kühlen, rauschenden Eichen um den Dierkhof!

»Das ist zum Sterben schrecklich, Ilse!« stöhnte ich, während sie meine Hand ergriff und mich hastig auf das Trottoir zog – eine Equipage raste um die Ecke.

Bis dahin waren uns nur wenige vorübereilende Menschen begegnet; die Mittagsglut machte die Straßen still und einsam. Nun aber scholl Trommeln und Pfeifen fern herüber.

»Die Wachtparade!« sagte Ilse aufhorchend mit einem wohlgefälligen Lächeln – alte, fünfundzwanzigjährige hannöversche Erinnerungen mochten wohl in ihr auftauchen.

Der Lärm kam rasch näher, und plötzlich flutete ein Menschenschwall in die Straße herein.

»Hu – guckt 'mal die an! Die hat hundert Jahre im Kleiderschrank gehangen!« schrie ein Junge und stellte sich vor Ilse hin. Er legte seine zwei Fäuste auf dem Kopf übereinander, um die Hutform anzudeuten, und schnitt eine Grimasse. Alles lachte und schrie durcheinander, und selbst unsere zwei Lastträger schmunzelten.

»Gassenjungen!« sagte Ilse verächtlich und hob steif den Kopf, während wir zu meiner Beruhigung gerade in eine stille Seitenstraße einbogen. »In Hannover sind die Leute doch manierlicher – da ist mir so was nie passiert!«

Jeder Nerv zitterte in mir, und die tiefste Niedergeschlagenheit überkam mich – Ilse, meine heilig respektierte Ilse war verhöhnt worden! ... Ich drückte ihre Rechte, die mich bis dahin geschützt und geleitet, leise tröstend und liebkosend an meine Wange und ließ meine müden, heißen Füße mechanisch weiterwandern.

Der Wachtparadenlärm hinter uns erlosch allmählich, und endlich hielten die Männer in einer abgelegenen, totenstillen, aber mit vornehmen Häusern besetzten Straße ... Wir standen vor einem düsteren Steinbau. Sämtliche Fenster im Erdgeschoß waren vergittert, und zu der hochgelegenen Hausthür führten Stufen mit einem schönen Eisengeländer. Das alte Haus mit seiner breiten, massiven Nordfront mochte wohl imposant sein; ich aber entsetzte mich vor den Fenstergittern, vor den geschwärzten Mauersteinen, auf die kein Sonnenschein fiel, und die reichgeschnitzte und verschnörkelte schwere Bohlentür mit dem ungeheuren, blitzenden Messingdrücker starrte mich an, wie ein dunkles, unheimliches Rätsel.

»Siehst du, Ilse, daß ich Recht hatte mit der Hinterstube?« rief ich verzweiflungsvoll. »Wir wollen umkehren!«

»Abwarten!« sagte sie und zog mich auf die Stufen hinauf. Die Lastträger nahmen das Gepäck auf die Schultern und traten hinter uns. Ilse klingelte. Gleich darauf wurde die Thür langsam zurückgeschlagen und ein alter Mann ließ uns eintreten. Eine ungewöhnlich hohe und weite Hausflur nahm uns auf. Wir standen auf einer glänzend polierten Steinmosaik – von Stein waren die breiten, gewundenen Treppen im Hintergrund und die zwei mächtigen Träger inmitten der Flur, die sich droben an der Decke in kühne Bogen spalteten. Diese Steinmassen hauchten eine köstliche Kühle aus, aber über sie hin breitete sich auch tiefer Schatten, ein kirchenartiges Dämmerlicht, das nicht einmal die über den Treppen hereinfallenden Sonnengluten zu durchströmen vermochten.

»Firma Claudius?« fragte Ilse.

Der Mann nickte steif, indem er mit sichtbarem Unwillen zurücktrat, um den beladenen Männern Raum zu geben.

»Hier wohnt Herr Doktor von Sassen?«

»Nein, hier nicht!« versetzte er rasch und trat nun mit vorgestreckten Armen den Leuten in den Weg. »Herr von Sassen wohnt in der Karolinenlust – da müssen Sie draußen rechts um die Straßenecke biegen –«

»O Herr Jesus, wir sollen wieder hinaus in die entsetzliche Hitze?« klagte Ilse mit einem Seitenblick auf mich.

»Thut mir leid,« sagte der Alte ungerührt und achselzuckend; »aber durch dieses Haus geht der Weg einmal nicht – und Ihr solltet doch wahrhaftig wissen, daß für dergleichen Dinge, für solch einen Huckepack, drüben in der Seitenstraße ein Thor ist!« fuhr er die Leute an und zeigte auf die Effekten.

In dem Augenblicke, wo er scheltend die Stimme erhob, fing auch im Hintergrund der Halle ein Hund an, zornig mitzukläffen. Dort führten Stufen zu einer Thür hinab. Auf diesen Stufen stand eine alte Dame in schwarzseidenem Kleide und buntbebändertem Häubchen und wischte einem zierlichen Pinscher, der jedenfalls eben von draußen hereingekommen war, mit einem Tuche sorgsam die kleinen Pfoten ab.

»Lassen Sie doch die Leute durchgehen, Erdmann!« rief sie freundlich herüber.

»Aber, Fräulein Fliedner, sehen Sie doch nur den Staub!« protestierte er so ängstlich, als hätten wir die ganze Asche des Vesuvs auf unseren Kleidern und Schuhen und könnten damit seinen sauber polierten Fußboden verschütten. »Und wenn nun gar Herr Claudius in der Hinterstube ist und die Leute über den Hof gehen sieht, so kann es Etwas geben, Fräulein Fliedner!«

»Ich schicke Dörte nachher gleich mit dem Besen herunter, und was die Schelte betrifft, so nehme ich sie auf mich,« beschwichtigte sie ihn. »Uebrigens ist Herr Claudius auf keinen Fall in der Hinterstube – binnen fünf Minuten will er ja nach Dorotheenthal fahren.«

Sie öffnete eigenhändig die Thür nach dem Hofe und winkte uns, durch die Halle zu kommen. Ein leises schelmisches Lächeln huschte über ihr feines Gesicht, als Ilse an ihr vorüberschritt und den betürmten Kopf dankend neigte; aber sie wandte sich rasch ab und stieg, den knurrenden Hund auf dem Arm, die Stufen wieder hinauf.

»Ein vernünftiges Frauenzimmer,« sagte Ilse befriedigt vor sich hin, als die Thür rasselnd hinter uns zugefallen war.

Das Wort »Hof« hatte mich förmlich elektrisiert – ich sah sofort das ganze Geflügel des Dierkhofes fröhlich aufflattern; aber davon war nichts zu sehen in dem großen kahlen Viereck, das wir betraten. Es wurde durch das Vorderhaus, zwei daranstoßende lange Seitenflügel und eine im Hintergrund hinlaufende Mauer gebildet. Den linken Flügel durchbrach ein großes weitoffenes Thor, in welches die Häuser der benachbarten Straße hereinsahen. Hohe Stöße neuer Kisten türmten sich auf dem reingefegten Pflaster, und die völlige Abwesenheit von Gardinen oder sonstigem Schmuck an den Fenstern der Hintergebäude ließ dieselben als das Geschäftslokal der Firma Claudius erkennen.

Eben, als wir in den Hof traten, zog ein Kutscher ein Paar feurige Pferde aus dem Stalle und führte sie nach einem hübschen hellausgeschlagenen Wagen, der vor der Remise stand.

Unsere Lastträger schritten schnurstracks auf eine inmitten der Mauer gelegene Thür zu, und wir folgten ihnen.

»Wohin wollen denn die Leute?« rief uns plötzlich eine Stimme in ziemlich kurzem Tone nach.

Ich zog meinen Hut noch tiefer in die Augen und hütete mich, den Kopf zu wenden – ich erkannte sofort die Stimme des alten Herrn im braunen Hut wieder, wenn sie auch jetzt nicht so weich klang, wie vor vier Wochen in der Heide ... Er war also doch in der Hinterstube, und jetzt »gab es Etwas«, wie der Alte in der Hausflur gesagt hatte ... Die zwei Männer blieben auch sofort wie auf militärisches Kommando stehen und wagten nicht, den Fuß weiter zu setzen. Nur Ilse wandte sich resolut um.

»Wir wollen zu Herrn von Sassen – ist's erlaubt, hier durchzugehen?« fragte sie höflich.

Es erfolgte keine Antwort; aber der Herr hatte jedenfalls mit der Hand zustimmend gewinkt, denn Ilse öffnete ohne Weiteres die Thür und ließ die Lastträger eintreten ... Diesmal mußte sie mich genau so, wie gestern Morgen auf dem Dierkhof, über die Schwelle schieben, denn ich stand wie versteinert ... Mein an das gleichförmige Graubraun und das ununterbrochenen Blütenrot der Heide gewöhntes Auge flog im ersten Augenblick völlig verständnislos über das Farbenmeer hin, das den weiten Plan da vor mir förmlich übergoß. Es war mir unmöglich, zu denken, daß diese tausendfarbig gemischten oder auch in scharf abgegrenzten Nüancen hinfließenden breiten Ströme Blumen, nichts als dicht aneinandergedrängte vielgestaltige Blumenkronen und Dolden sein könnten ... Jetzt erst begriff ich, wie menschliche Phantasie die Wunder der Märchenwelt hatte ersinnen mögen – wie eine ungeahnte einsame Zauberinsel schwamm dieses köstliche Blumenfeld inmitten der neuen Welt, die mir bis zu diesem Augenblicke so häßlich und graubestaubt erschienen war.

Neben meinen Füßen streckte sich ein Beet voll lilablauer Heliotropen hin; ihr starker Vanillenduft hing schwer in den Lüften und versetzte mich in eine Art von Rausch ... Vergessen waren die stauberfüllten heißen Straßen und die widerwärtigen Reiseeindrücke, vergessen der gräuliche Wachtparadenlärm, die höhnenden Gassenjungen und das Grauen vor der Hinterstube! Mein Hut saß nicht mehr wie festgemauert auf dem Kopfe – ich warf ihn hoch in die Luft.

»Ach, Ilse, ich möchte mich gleich mitten in die Blumen hineinwerfen, daß sie über mir zusammenschlügen,« jubelte ich auf.

»Ja, du wärst's imstande,« meinte sie trocken, fand es aber doch geraten, mich am Rockzipfel festzunehmen.

Das ununterbrochene Bienengesurr und das Rauschen eines fernen Gewässers ausgenommen, war es sehr still und einsam in dem Garten. Die Vögel hatten sich verstummend in das kühle Gebüsch zurückgezogen, und die Menschen hielten Mittagsrast. Nur ein ältlicher Mann, dem Arbeitskostüm nach ein Gärtner, trat aus einem Gewächshaus, als wir vorüberkamen, und zeigte den Trägern den nächsten Weg nach der »Karolinenlust«. Ilse dankte ihm.

»Schon recht, Madamchen!« sagte er mit einer eigentümlich sanften, gelassenen Stimme.

Das war zu viel für die grundehrliche Ilse.

»Sie müssen nicht denken, weil ich vielleicht einen hübschen Hut aufhabe, daß ich eine Dame sein will – ich bin aus der Heide, und mein Vater war ein Besenbinder,« sagte sie und ging weiter.

Wir kamen an einen Fluß, über den eine zierlich geschwungene Eisenbrücke führte. Er schnitt das ungeheure Blumenparterre ab; das jenseitige Ufer war mit dichtem Gebüsch bestanden, und wo es auseinanderriß, da sah man in das labende, grüne Düster unter dichtgescharten Baumgruppen hinein, auf sorgsam geschorene Rasenflächen und helle Kieswege.

Ich schrak zusammen und floh plötzlich hinter Ilse, als wir die Brücke überschritten hatten – ein Lachen scholl herüber, jenes harmonische Lachen, das ich vor vier Wochen am Hügel gehört hatte, und von welchem ich wußte, daß ich es nie bis an das Ende meiner Tage vergessen würde ... Trotzdem flüchtete ich, denn wo das Lachen, da waren ja auch die spöttischen Augen, vor denen ich mich entsetzlich fürchtete. Ilses breite, knochige Gestalt verdeckte meine kleine Person vollkommen; so rückten wir vorwärts durch dunkelschattige Alleen und kühle Boskette – laute Ausrufe, Gelächter und plaudernde Mädchenstimmen drangen immer deutlicher bis zu uns, und plötzlich sahen wir bunte Reifen über dem Kiesrund wirbeln, auf das wir eben heraustraten.

Einer der Reifen verirrte sich und flog in ein Boskett. Eine junge, zartgebaute Dame und ein schlanker Mann in hellem Sommeranzug verfolgten ihn mit hochgehobenen Armen und Stöcken und drangen tief in das Gebüsch ein, wo er verschwunden – der schlanke Mann war der junge Herr Claudius, und das Mädchen, das neben ihm hergelaufen mit den feinbeschuhten, flüchtigen Füßchen und dem offen wehenden, blonden Haar, erschien mir mit ihrem silberhellen Gelächter ganz unausstehlich, obgleich ich ihr Gesicht nicht einmal gesehen hatte ... Mir war seltsam zu Mute; ich grollte und wußte nicht weshalb, und atmete doch froh und erleichtert auf, weil ich nun vorüberschlüpfen konnte, ohne dem jungen Herrn begegnen zu müssen.

Ich lugte neben Ilse hervor und sah noch mehr junge Damen umherstehen, eine aber überragte sie alle, eine hohe, starkgegliederte Gestalt in weißem Kleide, über das sie ein feuerfarbenes, mit Gold gesticktes Jäckchen geworfen hatte ... Sie hatte etwas Kühnes in ihren Bewegungen, und doch auch wieder jene stolze Lässigkeit, die aus Kraftbewußtsein und großer innerer Sicherheit hervorgeht.

»Alle guten Geister!« rief sie in komischem Entsetzen und schlug die Hände zusammen, als Ilse, den Trägern voran, in ihren Gesichtskreis trat; dann brach sie rücksichtslos in ein mutwilliges Gelächter aus.

Ilse wandte sich verständnisvoll um und sah nach dem Bettenfrachtstück zurück, das ja so herausfordernd und lächerlich über dem Kopf des Trägers schaukelte.

Im Nu waren wir von den sämtlichen Damen umringt.

»O Herr Jesus, Leonore, was zerrst du mich denn immer und hängst mir am Rocke wie ein kleines Kind!« schalt Ilse unwillig; sie schüttelte mich ab und zog mich mit einem energischen Ruck an ihre Seite.

Wie schämte ich mich! In einer Hand hielt ich den Hut und in der anderen die große, weiße Halskrause, die sich, Gott weiß wie, von meinem Halse losgemacht hatte ... Hätte ich am Pranger stehen müssen, mein scheues Gefühl würde sich nicht mehr gekrümmt und gewunden haben, als jetzt unter allen diesen fremden, neugierigen Mädchenaugen!

»Ach, eine kleine Zigeunerin!« riefen zwei Stimmen auf einmal, als ich befangen den Kopf hob und die Augen aufschlug.

»Ei, warum nicht gar auch – ein Zigeunermädchen!« sagte Ilse tief beleidigt. »Es ist dem Herrn von Sassen sein leiblich Kind –«

»Wie, die Mumie hat auch Kinder?« unterbrach sie die große junge Dame überrascht, und um ihre roten Lippen zuckte es fortgesetzt in verhaltenem Unwillen. Die Anderen aber zogen sich ein wenig zurück und sahen mich auf einmal mit ganz anderen, ich möchte sagen, freundlich ehrerbietigen Blicken an.

In diesem Moment kam auch der junge Herr über den freien Platz her. Ich sah auf meine Schuhe, die ihre plumpen Spitzen keck über den hellen Kies hinstreckten, und unwillkürlich zog und zerrte ich an meinem schwarzen Rock, um ihn, wenn auch nur um einen halben Zoll, zu verlängern.

Der Herr warf den Reifen im Weiterschreiten hoch in die Luft und fing ihn stets mit einer sehr gewandten graziösen Bewegung wieder auf, so viel Mühe sich auch die junge Dame neben ihm geben mochte, das hübsche, bunte Ding mit ihren weißen Händen zu haschen ... Da fiel sein Blick auf mich – er stutzte und kniff die großen braunen Augen prüfend zusammen; dann kam er spornstreichs auf mich zu.

»Was, der Tausend – das ist ja das Heideprinzeßchen!« rief er erstaunt.

»Wer?« fragte die hochgewachsene junge Dame mit großen Augen.

»Ei, du weißt es ja, Charlotte – das Heideprinzeßchen! Ich habe dir doch von dem kleinen barfüßigen Wesen erzählt, das wie eine Eidechse durch die Heide schlüpfte – freilich eine Eidechse mit einem Prinzessinnenkrönchen!« Er lachte auf. »Wie in aller Welt kommt denn die kleine Perlenverkäuferin hierher?«

Die Rücksichtslosigkeit, mit der er in meiner Gegenwart mich kritisierte, und das unverhohlene Erstaunen des stolzen jungen Herrn über meine Anwesenheit in seinem Garten, schlugen den letzten Rest meines Selbstbewußtseins zu Boden; aber die Bezeichnung »Perlenverkäuferin« machte mir auch das Blut sieden.

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