Читать книгу: «Schmetterlingsscherben», страница 4

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Kapitel 6

«Oh mein Gott, hat sie wirklich ihren Teddy mit in die Schule genommen?!», rief Alissa aus meiner Klasse und lachte los.

«Das ist nicht irgendein Teddy!», hatte ich erwidert. «Das ist Georg, der kommt ursprünglich aus Australien und musste ewig hierher fliegen, obwohl er eigentlich total Flugangst hat. Und er wollte unbedingt meine Freunde kennen lernen.»

«Ja, Flugzeuge kann ich wirklich nicht ausstehen», seufzte Georg. «Aber jetzt bin ich ja hier.»

«Genau», grinste ich. «Und du musst auch nicht nochmal fliegen.»

«Die hat doch voll die Meise!», grölte irgendjemand anderes und alle lachten los. Lennard stand da und schwieg. Er sah mich nicht einmal an.

«Durchgeknallte Psychokuh!», brüllte jemand und schubste mich. Georg fiel auf den Boden und schlug sich hart den Kopf an.

«Pass auf, du tust ihm weh!», rief ich entsetzt. Einer der Jungen trat auf den Teddybären, der qualvoll aufstöhnte. Ich schrie los und stürzte mich auf ihn. «Lass ihn in Ruhe!»

«Du gehörst echt in `ne Anstalt!» Der Junge schubste mich und ich landete unsanft neben Georg auf dem Boden.

Hilfesuchend sah ich mich nach Lennard um, aber er hatte sich umgedreht und war einfach gegangen. Tränen stoben mir in die Augen und ich hob Georg vom Boden auf und drückte ihn an mich. Das Gelächter um mich herum wurde immer lauter, bis sich die Pausenaufsicht in den Kreis drängte.


Obwohl ich fast damit rechnete, tauchte Bodo der Clown vorerst nicht wieder in meinem Leben auf. Er lauerte nicht im Vorgarten und er verfolgte mich auch nicht auf dem Weg zur Schule. Offenbar hatte sich meine Wahnvorstellung dahingehend also verbessert.

Der Maskaron nervte weiterhin rum und Ramona war eigentlich ganz angenehm als Zimmergenossin, weil sie meistens die Klappe hielt.

Im Moment war mein Zustand also, soweit ich das jedenfalls beurteilen konnte, stabil. Ich fuhr zur Schule, ohne weitere Angstzustände erleiden zu müssen. Nach einigen Tagen dort hatte ich nämlich schnell feststellen können, dass mich Lenny Lennard in Gegenwart von Mitmenschen ignorierte. Das zeigte mir in gewisser Weise, dass er noch der gleiche Idiot war wie früher, brachte aber den Vorteil mit sich, dass ich mir keine weiteren Ausreden einfallen lassen musste, um zu Hause zu bleiben.

Mein Verhältnis zu Herrn Aschermann hatte sich nicht unbedingt gebessert. Meine ausfallenden Antworten hatte er wohl doch irgendwann persönlich genommen und seitdem behandelte er mich wie Dreck. Wenn er mich einfach ignoriert hätte, wäre es mir egal gewesen. Aber er nutzte jede Gelegenheit, um mich bloßzustellen.

«Louise!», rief er mit diesem diabolischen Lächeln auf dem Gesicht, als ich heute im Unterricht saß. «Würdest du die Freundlichkeit besitzen und uns verraten, was bei der Gleichung herauskommt?» Er beugte sich über sein Pult und starrte zu mir herüber, während ich an die Tafel glotzte und versuchte, mich zu konzentrieren.

Mathe war nie meine Stärke gewesen, aber seit ich wieder hier war, merkte ich erst, wie groß die Lücken waren, die das eine Jahr Auszeit und die eher mittelmäßige Bildung an einer Gesamtschule in Hannover hinterlassen hatten.

«Äh», machte ich und gab schließlich auf. «42 vielleicht?»

«Nein, weit davon entfernt», lachte er und schüttelte sich vor Spaß. Der schien das richtig zu genießen. Kranker Sadist. «Es ist wirklich ein Trauerspiel, wie schlecht du im Vergleich zum Klassendurchschnitt bist. Vielleicht solltest du dir Nachhilfe geben lassen, um deine Defizite aufzuarbeiten.»

«Vielleicht sollten Sie mal Ihre Defizite aufarbeiten!», fauchte ich. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. «Nachsitzen, heute nach der letzten Stunde.» Das schien ihm offenbar größtes Vergnügen zu bereiten und ich kreuzte bloß die Arme vor der Brust und starrte aus dem Fenster, weil ich wusste, dass weitere Erwiderungen bloß zu noch mehr Strafarbeiten führten. Genau das wollte er doch.

Dora musste noch mit einer Gruppe ein Referat vorbereiten, sodass ich mich alleine auf den Weg zum Schulhof machte. Lustlos fing ich an, dort den Müll aufzusammeln. Nicht, dass das wirklich von Nöten gewesen wäre. Die meisten Streber hier warfen alles artig in den Papierkorb.

«Hey, Louise!», rief jemand und ich zuckte erschrocken zusammen und befürchtete schon, Lennard sehen zu müssen. Aber es war Gott sei Dank bloß dieser Typ aus dem Kino. Gott, ich hatte seinen Namen schon wieder vergessen. War ja unangenehm.

«Musst du Strafarbeit leisten? Was hast du gemacht?!»

«Dem Aschermann gesagt, er solle seine Defizite aufarbeiten», grinste ich und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und unter die Kapuze. Der Junge lachte los. «Ziemlich vorlaut, aber ich find's super. Der hat sowieso eine totale Meise.» Er verdrehte die Augen. «Soll ich dir helfen?»

«Nein, danke», lächelte ich. «Ich krieg das schon alleine hin.»

«Wenn du einen Tipp willst: Tüte einfach etwas aus den vollen Mülleimern um, das merkt sowieso keiner und man kriegt den Beutel schneller voll.»

Ich lachte. «Danke, das werde ich mir merken.»

«Sag mal, gehst du Freitag zu Jennys Party?»

«Äh… Ich wurde nicht eingeladen, also denke ich eher nicht.»

«Du könntest mit mir hingehen», schlug er vor und beobachtete mich abwartend. Gott, der stand doch nicht etwa auf mich, oder?! Niemand wollte mit einer geistesgestörten Psychopathin ausgehen! So verzweifelt konnte er doch nicht sein.

«Äh, danke… äh…»

«Nils!», half er mir auf die Sprünge. Nils. Nein, da klingelte bei mir gar nichts. «Also Nils, ich kann eh nicht, Freitagabend. Tut mir leid.» Ich lächelte entschuldigend und er zuckte mit den Schultern. «Kein Problem, dann sehen wir uns vielleicht ein anderes Mal.»

Winkend verschwand er und drehte sich sogar nochmal zu mir um. Ich atmete erleichtert aus, als er um die Ecke verschwunden war. Kurz darauf kam Dora aus dem Schulgebäude und ließ sich auf der Tischtennisplatte nieder.

«Schon fertig?», fragte ich irritiert, weil sie keine halbe Stunde drin gewesen war. Sie nickte. «Wir haben nur die Aufgaben verteilt, ich kann eh am besten alleine arbeiten.»

«Na wenn du meinst», nickte ich und hob ein ekelig verschmiertes Eispapier mit der Greifzange auf, um es in den Beutel zu stopfen, den ich hinter mir her schleifte.

«Dieses Wochenende gibt Jennifer eine Kostümparty», grinste sie.

«Ich hab schon gehört», nickte ich, sah Dora aber trotzdem zweifelnd an. «Aber… eine Kostümparty?! So was macht man hier noch?»

«Na klar, Jenny macht jedes Jahr eine und an Karneval wird sich auch immer verkleidet!» Dora strahlte. «Das macht total Spaß.»

«Äh… Ja. Geht.» Ich spieß ein angegessenes Butterbrot auf.

«Gehst du mit mir hin?» Dora beäugte mich schräg und ich lachte los. «Auf keinen Fall.»

«Wieso nicht?!» Sie sah mich leicht verärgert an. Nicht, dass Dora jemals wirklich verärgert gewesen wäre. Es war mehr so ein trotziger Grimm, den man nicht wirklich ernst nehmen konnte.

«Weil ich weder Lust auf eine Party habe, noch weniger auf Verkleidung und schon gar nicht darauf, Leute aus unserer Schule auch noch privat treffen zu müssen.»

Dora verdrehte die Augen. «Lennard wird nicht da sein, falls es das ist, was dir Sorgen bereitet. Der ist das Wochenende über verreist.»

«Das ist mir völlig egal», antwortete ich. War es nicht. Aber ich wollte trotzdem nicht auf diese Party. Niemand wollte mich da haben und ich würde bestimmt nicht einfach ungebeten dort aufkreuzen. Mal abgesehen davon, dass ich Nils gerade eine Abfuhr deswegen erteilt hatte, was er bestimmt irgendwie falsch auffasste, wenn ich doch kam.

«Bitte, Lou! Da gehen alle hin! Das ist die größte Party des Jahres. Es fällt gar nicht auf, wenn da ein oder zwei Leute mehr sind, weil die meisten noch Kumpels von außerhalb mitbringen. Ich will da nicht alleine hin!»

«Wieso gehst du denn dann überhaupt?», fragte ich verständnislos und ließ die Zange sinken, um Dora besser ansehen zu können.

«Weil ich muss», murrte sie und scharrte mit dem Fuß auf dem Boden herum. «Meine Mutter hat von Jennys Mutter davon gehört, und weil unsere Eltern total gut befreundet sind, denken sie, das muss natürlich auch bei ihren Kindern der Fall sein. Also werde ich hingehen.»

«Das kann sie doch gar nicht kontrollieren», erwiderte ich blinzelnd. «Geh einfach abends aus dem Haus und tu so, als würdest du hingehen. Meinetwegen kannst du auch bei mir vorbeischauen.»

«Mama bringt mich direkt hin und holt mich wieder ab. Und sie hilft mir beim Kostüm. Also könnte ich entweder einige Stunden in einem dämlichen Koboldkostüm in der Wildnis herumlaufen, oder ich verdrück mich bei Jenny mit Knabberzeug und einem Glas Punsch in dem hintersten Teil ihres Gartens und sitze da die Zeit ab.» Sie schnitt eine Grimasse. «Da ist mir Letzteres immer noch lieber. Aber wenn du mitkommen würdest, dann wäre es bestimmt viel lustiger!»

«Dann säßen wir zu zweit im Garten rum», grinste ich. Dora zuckte mit den Schultern. «Ich könnte ein Kartenspiel einpacken.»

Ich seufzte laut auf. «Und als was soll ich mich verkleiden?! Ich hab blöderweise keine Zwangsjacke zu Hause rumliegen, obwohl das ein perfekter Witz wäre!»

Dora lachte los. «Du kannst ein Kostüm von mir haben, das ich vor zwei Jahren getragen habe! Das dürfte dir noch passen, du bist ja so klein und zierlich.»

«Und was ist das für ein Kostüm?», fragte ich spöttisch. «Prinzessin?»

«Ein Schmetterling!» Dora strahlte und ich verzog das Gesicht.

«Bitte, Lou Lou!», rief sie nun und setzte diesen fiesen Hundeblick auf, bei dem niemand Nein sagen konnte. Außerdem wollte ich nicht riskieren, dass sie den Spitznamen, den sie sich ausgedacht hatte, auch noch verdreifachte.

«Also fein», knurrte ich und fing an, ein paar Teile aus dem Mülleimer in meinen Beutel rüber zu schaufeln. Das klappte wirklich ganz hervorragend.

«Du bist die Beste!» Dora sprang strahlend von dem Tisch und drückte mich unerwartet an sich. «Am besten, du kommst Freitag gleich nach der Schule mit zu mir, meine Mutter macht freitags immer Nudelauflauf, der schmeckt phantastisch! Und dann kann sie uns mit den Kostümen helfen, falls noch was umgenäht werden muss oder so.»

«Alles klar», nickte ich und sammelte ein paar große Papierstücke auf, die auf dem Boden herumflogen.

«Wir sehen uns morgen in der Schule!» Damit verschwand sie in Richtung Haltestelle, um den Bus zu nehmen, der jetzt nach der achten Stunde fuhr. Kurz darauf ertönte auch bereits die Schulglocke und ein paar Schüler aus der Oberstufe kamen aus dem Gebäude, die länger Unterricht gehabt hatten.

Ein paar Idioten rempelten mich im Vorbeigehen mit voller Absicht an, was ich ignorierte.

«Du hast was übersehen, Psycho!», grinste einer von ihnen und warf mir einen Papierknäuel an den Kopf. Ich wollte gerade etwas erwidern, als jemand hinter mich trat und seine Hand auf meine Schulter legte. «Verzieh dich, Meyer», sagte Lennards ruhige Stimme und ich zuckte kaum merklich zusammen. Die Hand auf meiner Schulter war wahnsinnig warm und ich spürte sie so deutlich wie meine eigene Haut.

Die Jungen vor mir lachten nochmal und schubsten sich dann gegenseitig in Richtung Bus.

Ich fegte Lennards Hand von meiner Schulter und drehte mich zu ihm um. «Ich hab dir gesagt, dass du mich nicht anfassen sollst», knurrte ich. «Und ich brauche deine Hilfe nicht, also leb dein Samaritersyndrom an irgendjemand anderem aus!»

Er lachte los und hob abwehrend die Hände. «Was hast du angestellt?» Er hob den Papierball auf und warf ihn in meinen Beutel.

«Der Aschermann geht mir auf die Nerven», antwortete ich schulterzuckend. «Außerdem kann er mich nicht leiden.»

«Mich auch nicht.» Lennard grinste breit und ich sah ihn vielsagend an. «Na klar, sicher! Dich kann doch jeder leiden.»

«Mit Ausnahme von dir.» Er zwinkerte mir zu und ich hatte das starke Bedürfnis, ihm das Auge auszustechen.

«Weil ich nicht auf deine Schwiegersöhnchen-Vorzeigeschleimer-Masche hereinfalle.» Ich ging weiter Richtung Rasenfläche, um dort den liegengebliebenen Müll aufzusammeln. Dieser dämliche Müllsack war aber auch riesig. Er wollte einfach nicht voll werden.

«Ich glaube, du bist der einzige Mensch, der mich wirklich kennt», rief er mir hinterher und ich blieb abrupt stehen. Mein Herz schlug schneller, als ich seine Schritte hörte und ich seinem Schatten mit den Augen folgte, als er langsam näher kam. Ich hatte Angst vor dem, was jetzt kommen würde, also setzte ich auf einen Gegenangriff.

«Ich hab gehört, du fährst übers Wochenende weg? Wo soll's denn hingehen?» Ich drehte mich um und ging dabei gleichzeitig unauffällig ein paar Schritte zurück, um mehr Abstand zwischen uns zu bringen. Ich sammelte ein paar lose Glasscherben auf und warf sie in den Beutel.

«Äh, ja richtig.» Lennard schien verwirrt. «Ich bin in Hamburg, Familienbesuch. Und du? Verkriechst dich in deinem Zimmer und wartest, dass die Zeit vergeht?»

«Du kannst mich mal!», rief ich und schmiss die Mülltüte auf den Boden, weil sie allmählich schwer wurde. «Und nein, auch wenn ich nicht wüsste, was es dich angeht. Aber ich geh auf eine Party!»

Er wurde bleich. «Jennys Party?»

«Ich glaube kaum, dass hier gleichzeitig mehr als eine Party stattfinden würde, das wäre wirklich ungeheuerlich für dieses mickrige Nest», gab ich sarkastisch von mir und warf ein paar Äste und Steine in den Sack, damit er sich füllte.

«Und das willst du dir wirklich antun?», fragte er und sein Tonfall veränderte sich zu diesem überheblichen, arroganten Klang, den ich von Lenny Lennard gewohnt war. «Dir ist schon klar, dass du dich zum Gespött der Leute machst, oder?!»

«Ich geh da wegen Dora hin», sagte ich bockig und verknotete den Sack oben. «Ist mir scheißegal, was die Leute denken oder sagen.»

«An deiner Stelle würd ich mir nochmal überlegen, ob ich da hingehe. Das wird vermutlich ziemlich peinlich. Und hinterher heulst du wieder los und schlägst wie eine Furie um dich wie an deinem zwölften Geburtstag. Da dauert‘s nicht mehr lang, bis sie dich wieder wegschicken.» Damit drehte er sich um und ging in großen Schritten über den Schulhof entlang. Ich stand da und starrte ihm völlig fassungslos hinterher. Lennard drehte sich nicht nochmal um und ich spürte, wie die Übelkeit in mir wieder aufstieg. Das war Lenny Lennard, so wie ich ihn in Erinnerung hatte. Zutiefst demütigend, überheblich und verletzend. Und ich hasste mich selbst dafür, dass seine Worte immer noch so einen starken Einfluss auf mich hatten.

Ich ließ mich auf den Rasen fallen und vergrub den Kopf zwischen den Knien, in der Hoffnung, dass mir dann weniger schwindelig war und sich mein Magen wieder beruhigte. Das war nichts als das, was ich von ihm erwartet hätte. Ich atmete tief ein und wieder aus und versuchte, an etwas anderes zu denken, während sich mein Puls langsam wieder beruhigte und ich mit zittrigen Knien aufstand, um den blöden Müllsack ins Sekretariat zu bringen. Herr Aschermann war bereits nach Hause gefahren und ich musste die Sachen nur beim Hausmeister abgeben, ehe ich ebenfalls gehen konnte.

Der kühle Wind auf dem Rückweg verhalf mir zu einem klaren Kopf und ich erinnerte mich an meinen Stolz, den ich irgendwann in der letzten halben Stunde verloren hatte. Es war mir egal, was Lenny dachte. Und ich würde zu dieser dämlichen Party gehen, einfach nur, um ihm allein schon zu zeigen, dass ich es konnte. Dass es mir egal war, was er sagte. Und dass ich nicht losheulen würde, egal, was auch passierte. Ich war nicht mehr zwölf und ich war nicht mehr so angreifbar und verletzlich wie damals.

Seufzend sprang ich vom Rad und schob es in den Vorgarten, wo ich es an den Zaun kettete. Nicht, dass das hier wirklich von Nöten gewesen wäre. Aber ich hatte es mir in Hannover so angewohnt und sicher war sicher. Immerhin hatte mir hier ja auch jemand die Reifen aufgeschlitzt.

Ich kramte in meiner Tasche nach dem Haustürschlüssel herum, der irgendwo ganz unten vergraben war, als mein Handy klingelte und ich erschrocken zusammenzuckte und den Schlüssel fallen ließ.

Stirnrunzelnd ging ich ans Telefon und sah mich suchend nach dem Schlüssel um.

«Louise? Hier ist Papa!», rief Rüdiger am anderen Ende der Leitung. «Wo bist denn du?!»

«Äh… gleich zu Hause», sagte ich verständnislos.

«Ich hab mit dem Mittagessen auf dich gewartet, aber ich musste wieder in den Laden», erklärte er. «Ich wusste nicht, dass du später kommst.»

«Tut mir Leid, Paps», seufzte ich. «Ich… hab mich mit einem Freund verquatscht und ganz die Zeit vergessen.» Ich musste ihm ja nicht unbedingt auf die Nase binden, dass ich eine Strafarbeit aufgebrummt bekommen hatte.

«Macht ja nichts. Ich hab dir den Rest Pizza wieder in den Backofen geschoben. Wir sehen uns dann heute Abend, ja?»

«Ist gut. Bis später.» Ich legte auf, stopfte das Handy zurück in den Rucksack und drehte mich einmal um mich selbst, ohne den Schlüssel irgendwo zu sehen.

«Er ist dort drüben», rief der Maskaron. «Direkt unter dem Oleanderstrauch.»

Ich ging zum Blumenbeet und fischte den Schlüsselbund aus der Erde und schloss damit die Tür auf.

«Mich dünkt, ich hatte recht!», rief der Maskaron. «Du kannst mich fürwahr hören! Ich ahnte es die ganze Zeit über! Wie ist dein Name, junges Fräulein? Meine Wenigkeit nennt man Sir Janus von…» Mehr verstand ich nicht, weil ich einfach die Tür hinter mir zuwarf und ins Haus lief. Darüber schien er nicht sonderlich erfreut zu sein, weil er ziemlich laut herumtobte, während ich in die Küche ging und einen Blick in den Backofen warf. Sogar die Pizza wurde hier selbst gemacht und kam nicht vom Lieferservice oder aus der Tiefkühltruhe. Seufzend nahm ich mir ein Stück davon und verkrümelte mich damit in meinem Zimmer.

Kapitel 7

«Alissa sagt, dass meine Augen gruselig sind», schluchzte ich in weinerlichem Ton und vergrub das Gesicht in den Händen. Ich wollte nicht, dass er in meine Augen sehen musste. Sie waren schrecklich. Alle sagten das. Nicht nur Alissa.

«Alissa hat keine Ahnung», antwortete Lenny und nahm sanft meine Hände in seine, um sie wegzuziehen. «Du hast die tollsten Augen, die ich je gesehen habe, wirklich! Die sind… wie gebrochenes Eis! Wie der Winter selbst.» Er lächelte mich an. «Deswegen bist du doch meine Eisprinzessin, Ska!»


Die ganze Woche über ging ich Lenny Lennard aus dem Weg und war richtig erleichtert, als er Freitagnachmittag nach der Schule in sein Auto stieg und davonfuhr, während Dora und ich den Bus zu ihr nach Hause nahmen. Doras Moped hatte letzte Woche den Geist aufgegeben, weswegen sie vorerst auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen war.

Doras Mutter war in etwa so, wie ich sie in Erinnerung behalten hatte. Sie war total aufgedreht und überfröhlich und ich hatte ein bisschen das Gefühl, dass sie mich mästen wollte. Sie stopfte mich regelrecht mit ihrem Auflauf voll. Er schmeckte nicht schlecht, wirklich nicht. Aber nach anderthalb Portionen war mir schon beinahe schlecht von zu viel Essen und ich konnte gerade noch verhindern, dass sie mir nochmal einen Nachschlag auftat.

Eine Stunde später gab es dann selbstgebackene Muffins und Kakao und zum Abendessen brachte sie uns dick belegte Sandwiches aufs Zimmer. So viel hatte ich seit Jahren nicht mehr gegessen und ich hätte mich nicht gewundert, wenn ich nicht mehr in das wirklich kleine Schmetterlingskostüm gepasst hätte, das Dora aus ihrem Schrank gezogen hatte.

Es sah nicht so schlimm aus, wie ich erwartet hatte. Immerhin war es nicht rosa oder pink, sondern türkisfarben und bestand aus einem luftigen Kleid mit dazugehörigen, filigran gearbeiteten Flügeln. Ich passte sogar rein und bekam den Reißverschluss zu, ohne die Luft anzuhalten.

Doras Mutter schminkte mich und anschließend Dora und half danach ihrer Tochter in das wirklich lustige Koboldkostüm. Hanne war in gewisser Weise genau wie ihre Tochter. Das hatte den Vorteil, dass die beiden sich gegenseitig mit ihrem Gerede übertrafen und ich den Mund halten konnte, während sie sich an meine Haare machte und sie irgendwie hochsteckte. Ein Schmetterling fiel vor mir auf den Tisch und ich sah auf das türkisfarbene, wirklich wunderschöne Exemplar, das so furchtbar real wirkte.

Obwohl ich wusste, dass es nur aus Plastik war, sah es täuschend echt aus und ich stellte mir vor, wie die Gleichen seiner Art durch die Luft flogen und überall bewundernde Blicke auf sich lenkten.

Ich zuckte zurück, als der Schmetterling den Flügel bewegte und kurz darauf losflatterte. Ihm folgten zwei weitere seiner Art, die etwas kleiner waren. Da weder Dora noch Hanne irgendeine Reaktion zeigten, war ich mir sicher, dass ich nur halluzinierte. Ich versuchte also, dem Geflatter um meinen Kopf herum keine Aufmerksamkeit zu schenken und mich auf die Worte von Doras Mutter zu konzentrieren.

«So, fertig!», rief sie nun und stand auf. «Ihr seht einfach spitze aus! Und passt toll ins Motto.»

«Motto?», fragte ich irritiert. Dora lachte. «Ja, jedes Jahr gibt es ein anderes Motto. Dieses Jahr ist das Thema Märchengestalten.»

«Und wie passt da ein Schmetterling rein?» Stirnrunzelnd sah ich Dora an, die in ihrem Koboldkostüm gar nicht so schlecht aussah. Sie hatte überall glitzernde Kleeblätter im Haar und um die Augen herum verteilt und der grüne Zylinder stand ihr.

«Du gehst ohne Weiteres auch als Elfe durch», lachte Hanne. «Keine Sorge, so genau nimmt das auch keiner.»

Sie schob uns vor den großen Spiegel an Doras Kleiderschrank. Irritiert betrachtete ich mein Spiegelbild, in dem ich mich so gar nicht wieder erkannte. Vor mir stand ein Mädchen in einem märchenhaften Kleid, dessen eisblaue Augen aus dem hellen, glänzenden Gesicht hervorstachen, das von Schmetterlingen umrahmt war, von denen einer seine Flügel bewegte und zwei weitere Exemplare in einer Schleife um ihn herumflogen.

Ich sah hübsch aus, das tat ich wirklich. Aber ich fühlte mich albern und unwohl. Das war nicht ich. Und so würde ich auch nie sein. Aber für diesen Abend würde ich dieses Spiel mitspielen und Cinderella sein.

Es war total irritierend, dass sich ein Teil der Schmetterlinge auf meinem Kopf bewegte und sich ab und zu in die Lüfte erhob, um kurz darauf zu mir zurückgeflogen zu kommen. Ich versuchte das zu ignorieren, aber es gelang mir nur halbherzig.

«Sitzt die Frisur nicht richtig, Schätzchen?», fragte Doras Mutter, als wir im Auto saßen.

«Doch, alles super», antwortete ich. «Das ist nur so ungewohnt.»

Hanne lachte leise und dann fing sie wieder an zu erzählen, während ich aus dem Fenster sah.

Das Haus von Jennifers Eltern war riesig und lag meilenweit außerhalb. Selbst der komplette Vorgarten war hell erleuchtet und geschmückt worden und überall sah man Leute von unserer Schule herumlaufen. Es war wirklich richtig voll und ich schätzte, sie hatte so ziemlich die gesamte Oberstufe eingeladen. Unter den Gästen befanden sich auch viele Gesichter, die ich noch nie zuvor gesehen hatte und von denen mich einige neugierig anblickten. Auch von den bekannten Leuten starrten einige zu uns herüber, als wir das Haus betraten. Vermutlich, weil keiner damit gerechnet hatte, dass eine Irre wie ich hier aufkreuzen würde.

Laute Musik dröhnte durch das geräumige Wohnzimmer, in dem sogar eine Diskokugel aufgehängt worden war. Es gab jede Menge Prinzessinnen, ein paar Hexen, Ritter und Vampire, aber kein Kostüm war so kreativ wie das von Dora.

Diese begrüßte kurz Jennifer und spielte mit bei der geheuchelten Freundlichkeit, ehe sie in der Küche verschwand, um uns etwas zu trinken zu besorgen, mit dem wir uns in den Garten verziehen konnten.

Ich rieb mir unwohl über die Arme und starrte in die Runde, als Nils auf mich zukam. «Hey, Louise!», rief er gut gelaunt. «Du bist ja doch gekommen! Siehst ja toll aus!»

«Danke, äh…» Immerhin schien er nicht sauer zu sein. «Du auch.» Was wollte er denn darstellen? Und, oh mein Gott, er trug eine lila Weste und darunter war sein nackter Bauch zu sehen. Das wirkte leicht feminin.

Er grinste noch dümmlicher. «Cool, oder?! Hab schon voll viele Komplimente für mein Kostüm bekommen! Aber Aladin mag ja auch jeder.»

«Äh», machte ich erneut. Nach Aladin sah er wirklich nicht aus. Aber jetzt, wo er es sagte, erkannte ich zumindest den Sinn der weißen Pumphose. Das war wirklich nicht die geschickteste Wahl gewesen, weil er mit seinem blässlichen Teint und den rostroten Haaren eher aussah wie Ron Weasley, als wie jemand aus tausendundeiner Nacht.

«Und du hattest doch noch Zeit heute?!»

«Ja, meine Verabredung ist ins Wasser gefallen», log ich, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Er grinste. «Das tut mir leid! Aber ich freu mich, dass du gekommen bist.» Das schien er tatsächlich.

Glücklicherweise kam Dora zurück und wir schoben uns durch die Terrassentür und verschwanden in den Garten.

Hier war es etwas kühler, aber überall waren Heizstrahler aufgestellt worden und es gab sogar ein kleines Lagerfeuer im hinteren Teil des Gartens, sodass mir nicht kalt wurde. Meine Schmetterlinge flogen zu den Blumen hin und ließen sich darauf nieder oder drehten ein paar Runden, ehe sie zu mir zurückkamen. Die waren wirklich anhänglich. Aber sie entstammten ja auch meiner Fantasie, deswegen vermutlich.

Ich stürzte das Glas hinunter, das mir Dora gegeben hatte, und spürte den bitteren Nachgeschmack von Alkohol auf meiner Zunge. Irgendwie hatte ich gedacht, Dora wäre zu brav für Alkohol. Aber wir waren hier auf dem Dorf und hier trank quasi jeder, also sollte mich das vermutlich auch nicht wundern.

Seufzend ließ ich mich auf der Hollywoodschaukel nieder und schwang leicht vor und zurück. Dora ging irgendwann wieder rein, um uns Nachschub zu besorgen. Wir verbrachten einige Zeit auf der Schaukel und unterhielten uns über die Kostüme der anderen Gäste. Aladins Verkleidung war bei Weitem nicht die Schlimmste. Irgendeiner der Jungs hatte versucht sich als Wolf zu verkleiden und sah eher aus wie ein behaarter Teddybär, ein Mädchen war ganz kreativ als Rotkäppchen verkleidet und hatte sich einfach nur ein rotes Cape über ihre normalen Klamotten geschmissen.

Nach einigen Gläsern Punsch und einer Partie Karten wurde es mir dann doch allmählich zu kalt im Garten. «Wie wäre es, wenn wir ins Haus gehen und ein bisschen in den Räumen herumspionieren?», fragte ich gut gelaunt und stand auf. Ich spürte, wie der Alkohol sich in meinem Körper ausbreitete und mir leicht schwindelig wurde. Die Schmetterlinge, die vorher noch brav auf den Blumen gesessen hatten, kamen sofort angeflogen und ließen sich auf mir nieder.

«Oh ja, das wird super!», giggelte Dora, die noch wesentlich mehr getrunken hatte als ich. Wir betraten also wieder die beleuchtete Terrasse, auf der sich noch einige Gäste aufhielten, und wollten uns gerade durch die Tür ins Wohnzimmer schieben, als jemand meinen Namen rief. Irritiert drehte ich mich um und sah zwei großgewachsene, breitschultrige Jungen auf mich zukommen. Waren das nicht Lennards Gorillafreunde?

«Das ist ja ein wirklich schönes Kostüm», sagte der mit der platten Nase und den dunklen Haaren. Er lächelte nicht oder grinste blöde wie die anderen betrunkenen Idioten hier. Er sah total ernst aus und irgendwie machte er mir Angst.

«Ja, sehr elegant», stimmte der mit den hellbraunen Haaren und den buschigen Augenbrauen zu und griff an meinen Kopf. «Und diese vielen Schmetterlinge…» Er zupfte einen davon ab und hielt ihn zwischen zwei Fingern fest. Er hatte ausgerechnet den Türkisfarbenen erwischt, der jetzt hektisch zappelte und irgendwie versuchte, dem Griff zu entkommen.

«Danke», sagte ich kühl und streckte die Hand aus. «Ich hätte den gerne wieder.»

«Oh, ups!», rief er und mit einem Knacken brach der Schmetterling entzwei. «Tut mir leid, ich hab ihn kaputtgemacht.» Er ließ ihn fallen und ich starrte entsetzt auf den Schmetterling, dem einer der Flügel fehlte. Er zuckte nur noch einmal kurz und blieb dann reglos liegen.

«Macht ja nichts», sagte Dora fröhlich. «Du hast ja noch so viele.»

Aber das sah ich nicht so. Dieses Ding… hatte gelebt. Jedenfalls für mich. Und es fühlte sich an, als hätte er ein echtes Tier getötet. Vielleicht lag es am Alkohol, vielleicht war ich auch einfach nur melancholisch drauf, aber ich fand es so wahnsinnig traurig, dass mir fast die Tränen in die Augen stiegen.

«Kannst du nicht aufpassen?!», rief ich laut und funkelte den riesigen Jungen vor mir zornig an. Er war über einen Kopf größer als ich, aber das war mir egal. Meine Wut verdrängte meine Angst.

Er lachte los. «Mach keinen Aufstand, war doch nur so ein dämliches Plastikteil», sagte er, während sein Freund mich genauestens beobachtete. Als warteten sie geradezu nur darauf, dass ich wieder ausrastete und die Psychopathin herausließ.

«Heb ihn auf!», verlangte ich und stemmte die Hände in die Hüften. Der Junge hob seinen Fuß und setzte dazu an, den armen Schmetterling gänzlich zu zerquetschen, als hinter uns jemand auf die Terrasse raustrat. «Ich mach das schon. Alex. Martin.»

Die beiden sahen wie Jünger zu ihrem großen Anführer. «Bist du dir sicher, Neo?», fragte die Plattnase, ehe die beiden sich mürrisch verzogen.

«Ich bin mal die Toilette suchen», flötete Dora und ließ mich mit Lenny Lennard allein.

«Was machst du hier?!», fauchte ich, sobald wir nur noch zu zweit waren und er den blöden Schmetterling aufhob.

«Willst du sehen, wie ich mich zum Affen mache und zur Furie werde, oder mithelfen, damit es schneller geht?!» Ich starrte ihn wütend an und versuchte mich nicht von seinem Kostüm ablenken zu lassen. Er sah wirklich gut aus in dem altertümlichen Anzug mit grünem Samtfrack. Er hatte sogar einen bescheuerten Degen dabei. Vermutlich hätte er damit besser auf einen Maskenball gepasst, als auf eine Dorfkostümparty.

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