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Sie setzt ein mit einem durchaus geringeren Grad an Wirksamkeit, der jedoch alsbald zunimmt. Sie gewinnt historisch rasch an Stärke, und stetig erweitert sich ihre Kraft, das musikalische Material zu durchdringen.

Im 18. Jahrhundert entwickelt sich das aktiv-synthetische Hören Schritt für Schritt, um schließlich alle Bezirke der Musik zu umspannen. Um 1720 kannte man das Halbsatzthema mit vier Takten, wenn auch noch keineswegs als den Hauptthementyp. Aber die dort vorliegende Paarigkeit setzte sich beim Melodieaufbau mehr und mehr durch. […]

Der Halbsatz-Themenbau mit acht Takten, im Menuett üblich, wurde wohl in den Jahren um 1760 allgemein zur Norm. Damals erschien als Vertreter der jungen Generation Joseph Haydn […]. Auch der etwa gleichaltrige Johann Christian Bach, in Mailand ausgebildet und in London tätig, verwendet als Grundlage überall den Achttakter. Er gilt nun als der von der Natur gegebene Baustein, nicht nur für Themen, sondern für die gesamte Musik. Auf den Achttakter zielt nun auch die Synthesis beim Hören. Aber man hat keinen Namen für diese grundlegende Einheit. Das Wort »Periode« fehlt noch 1767 im »Dictionnaire de musique« von Jean Jacques Rousseau. […]

Die Synthesis beim Hören hat sich demnach zu solcher Kraft entwickelt, dass sie um 1780 acht Takte als Einheit umspannen und eine solche Achttaktperiode zu den übrigen in Beziehung setzen kann. 49

Die Geschichte des Taktrhythmus ist die Geschichte dieser Synthesis – und das Entstehen des Taktrhythmus notwendig ihr Entstehen. Es ist also keine »Erfindung«, kein Programm, kein Diskurs, was den Rhythmus revolutioniert, sondern das historische Aufkommen dieses Reflexes. Und deshalb muss der Übergang zum Taktrhythmus so lautlos vonstatten gehen, deshalb muss er sich vollziehen, ohne dass jemand von ihm weiß: weil dasjenige selbst unbewusst ist, was da neu aufkommt. Der veränderte Rhythmus verdankt sich keiner Idee, keiner objektiven Entwicklung der Musik, nicht der Leistung eines genialen Musikers, nicht der einer ganzen Gruppe von Meistern, er wird überhaupt nicht Gegenstand einer Reform, weil er nicht bewusster Gegenstand einer Entwicklung ist. Niemand weiß von dem Neuen, da niemand es bewusst zu leisten hat: dank der unwillkürlichen Synthesis. Niemand hat dies Neue zu entwickeln, da es sich von selbst macht: im Reflex. Niemand erkennt es als das Neue, da es sich unwillkürlich vorgibt: als bloße Natur. Deshalb hat da niemand bewusst einzugreifen, niemand etwas zu initiieren, deshalb bedarf es keines neuen Gregor, keines neuen Philippe de Vitry, können sich keine verfeindeten Kompositionsschulen darüber in die Haare geraten, kann keine Kirche Protest einlegen oder einen Prozess dagegen führen.

Der Bruch, der sich damals historisch vollzieht, reicht tief hinein in die Musik und durchschneidet ihre Geschichte, aber er geht nicht von ihr aus. Er vollzieht sich nicht bloß musikalisch, sondern liegt auf diese Weise sehr viel tiefer. Wenn also eine vergleichsweise geringfügige Veränderung wie die vom ambrosianischen zum gregorianischen Gesang sichtbar Epoche gemacht hat, dann tut es die ungleich radikalere zum Taktrhythmus eben deshalb nicht, weil sie sich so sehr viel tiefer vollzieht. Der Taktrhythmus macht so tiefgreifend Epoche, nicht obwohl es keiner bemerkt, sondern weil das, was den Bruch bewirkt, so tief reicht, dass ihn keiner bemerken kann.

Die taktrhythmische Synthesis ist das Neue und bewirkt das Neue. Der Taktrhythmus setzt sich so unwillkürlich durch, wie die Synthesis wirkt. Und so unwillkürlich sie als solche wirksam ist, so unwillkürlich muss sie auch beginnen, wirksam zu werden. Genausowenig, wie wir selbst üblicherweise etwas vom Wirken dieser Synthesis in uns wissen und ebensowenig davon, wann sie in uns zu wirken beginnt, so wenig wissen auch diejenigen davon, in denen es mit dieser Synthesis historisch überhaupt erst seinen Anfang nimmt. Das bedeutet aber, dass der Taktrhythmus von Anfang an nicht als das Neue empfunden wird, das er ist, sondern als ewige Natur: so, wie er inzwischen uns erscheint – hinauf bis in die potenzierte, für den Taktrhythmus so charakteristische Gruppenbildung:

Schon 1752 erklärte Joseph Riepel, ausgehend vom Menuett, eine Taktordnung nach Potenzen der Zahl 2 als die »natürliche«: »Denn 4, 8, 16 und wohl auch 32 Täcte sind diejenigen, welche unserer Natur dergestalt eingepflanzet, dass es uns schwer scheinet, eine andere Ordnung (mit Vergnügen) anzuhören«. 50

So wird Geschichte zu Natur.

1618, 1624

Und das nicht erst anderthalb Jahrhunderte nach Aufkommen des Taktreflexes, sondern vom ersten Augenblick an: schon bei demjenigen, der den Taktrhythmus als allererster beschreibt. Es ist kein Geringerer als René Descartes.

Als junger Mann, im Jahre 1618, verfasst er einen kleinen Traktat, sein Musicae Compendium, wo er in einem kurz gefassten Kapitel »De Numero vel Tempore in Sonis observando« die historisch erste Beschreibung des Taktrhythmus gibt.51 Sämtliche vergleichbaren Zeugnisse, die früher liegen, alle, die sich vor dem Compendium mit Rhythmus befasst haben, beschreiben ausnahmslos einen anderen, proportionalen, material gebundenen Rhythmus. Keine Schrift vorher kennt den neuzeitlichen Takt, ja mehr noch, selbst spätere Schriften, musikalische Traktate, die erst Jahrzehnte nach Descartes’ Compendium entstehen – es wird postum erst 1650 gedruckt –, behandeln Rhythmus noch immer in den Begriffen und nach den Verhältnissen von Mensur und Proportion, ohne ihn bereits nach der Taktlogik zu fassen.52

Das Compendium musicae entsteht also inmitten der Zeit des Übergangs zur neuzeitlich taktrhythmischen Rhythmuswahrnehmung. Ein kostbares Dokument: Es gewährt Einblick in das rhythmische Innenleben eben jener Zeit, zu der sich dieser Umschlag vollzieht, es dokumentiert, wie ein Zeitgenosse dieser Vorgänge Rhythmus empfindet. Und dafür ist nicht nur aufschlussreich, worüber dieser Zeitgenosse schreibt, sondern ebenso, wovon er schweigt.

Denn Descartes weiß nichts von einer Neuerung, weiß von keinem Übergang, weiß von keinem älteren Stand des Rhythmus: Er weiß nur noch vom Taktrhythmus. Eben erst, in eben diesen Jahren ist der Mensuralrhythmus dabei, abgelöst zu werden, noch ist er allenthalben präsent, und doch schreibt Descartes nichts von ihm, sondern schreibt, als gäbe es gar nichts mehr davon: Er kennt ihn nicht mehr. Die rhythmische Revolution, die sich zu seinen Lebzeiten vollzieht, für Descartes ist sie bereits vollzogen, vollendet und vergangen, und zwar so unvermerkt wie für jeden anderen. Descartes schreibt vom Rhythmus ohne jeden Hinweis, dass da etwas einzuführen wäre oder neu eingeführt worden sei, der Taktrhythmus ist für Descartes schon so bruchlos da, als hätte es immer nur diese Art Rhythmus gegeben. Schon Descartes schreibt von Rhythmus, wie später ein Gottfried Hermann, als von Rhythmus überhaupt; und doch ist das, was er so beschreibt, historisch zum ersten Mal Taktrhythmus.

Niemand vorher hat ihn beschrieben, auf niemanden kann sich die Darstellung berufen, niemandem folgt Descartes darin als sich selbst; er beschreibt also, was unmittelbar für ihn Rhythmus ist. Und daran ist bemerkenswert, nicht nur dass er den Taktrhythmus als erster, sondern dass er ihn sogleich vollständig beschreibt, in allen seinen Bestimmungen – noch bevor der Taktrhythmus in dieser Weise musikalisch vollständig durchgesetzt ist.

Descartes beginnt sein Compendium mit einer Handvoll praenotata, Axiomen über das Wesen der menschlichen Wahrnehmung. Aus ihnen, aus nicht mehr als dreien davon,53 leitet er dann kurzerhand das Wesen des Rhythmus ab, ohne einen Gedanken, dass Rhythmus jemals etwas Anderes sein könne und etwas Anderes war. Aber zum erstenmal – das ist bemerkenswert – geht eine Darstellung des Rhythmus nicht mehr vom Gegenstand der Wahrnehmung aus, einem für rhythmisch erachteten Ding oder Klang, sondern von der Wahrnehmung selbst. Ein bedeutend neues Vorgehen, so neu, wie es die neue, veränderte Wahrnehmung nun offenbar verlangt. Nach Descartes’ Axiomen bestimmt unsere Wahrnehmung aktiv über die Kriterien, nach denen sie etwas leicht und, wie später auch Riepel sagen wird, mit Vergnügen auffasst. Und zwar fasse sie ein Objekt umso leichter auf, erstens, je geringer der Unterschied seiner Teile sei; das heiße zweitens, wenn die Teile des Objekts in einem möglichst großen, und schließlich drittens, wenn sie in einem ganzzahligen Verhältnis zueinander stehen. Dies Verhältnis nennt Descartes noch immer selbstverständlich proportio, und wenn er nicht anders fortführe, könnte man seine Prinzipien noch immer auch mit dem proportionalen, mensuralen Rhythmus für verträglich halten. Descartes jedoch deutet sie so, dass sie ihm die taktrhythmischen Bestimmungen liefern. Diese ergeben sich also nicht stringent aus den praenotata, und trotzdem legt Descartes sie in einer Klarheit und Folgerichtigkeit dar, die des großen Denkers würdig ist.

Tempus in Sonis debet constare aequalibus partibus –

»Die Zeit muss bei den Tönen aus gleichen Teilen bestehen –«, so der Eingangssatz des Rhythmuskapitels und so auch die erste Bestimmung des Taktrhythmus: gleiche Zeiteinheiten als Grundlage.

vel partibus quae sint in proportione dupla vel tripla, nec ulterius fit progressio

»oder aus Teilen, die im doppelten oder dreifachen Verhältnis stehen, und darüber geht es nicht hinaus«. Das ist die Festlegung auf Zweier- und Dreier-Gruppe, 1:2 und 1:3, Einheiten aus zwei oder maximal drei gleichen Elementen; »und darüber geht es nicht hinaus«: Sie sind die einzigen elementaren Gruppen – des Taktrhythmus. Noch ließe sich die Zweier- und Dreier-Teilung an dieser Stelle mensural deuten, als imperfekte und perfekte Teilung, aber nicht mehr, wenn Descartes fortfährt:

Sed dices, possunt 4or notas contra unam ponere vel 8

»Aber du wirst sagen, man kann auch vier oder acht Noten gegen eine setzen.« Schon also geht es im Anschluss an die beiden elementaren Gruppen weiter mit der Reihe der Zweier-Potenzen, ein Spezifikum des Taktrhythmus, aber unmöglich unter den mensuralen Verhältnissen. Descartes erkennt darin sogar die Potenzierung der elementaren Gruppe, da er erklärt, für die Teilung durch vier oder acht werde kein neues Verhältnis eingeführt, sondern die Zweier-Teilung lediglich mit sich selbst multipliziert: »est tantum proportio dupla multiplicata«. Die potenzierte Gruppenbildung wird bei Descartes also, wie dann üblich, allein mit der Zweier-Teilung fortgesetzt und spart die Dreier-Teilung aus. Auf Zweier- und Dreier-Gruppe jedenfalls basieren die nur insgesamt zwei Taktarten, auf welche die Musik durch das Takt-Gesetz verpflichtet ist:

Ex his duobus proportionum generibus in tempore orta sunt duo genera mensurarum in Musica

Die Takte heißen noch immer mensurae, doch nunmehr erhalten sie etwas, was sie aufs entschiedenste vom mensuralen tactus trennt: die Hervorhebung bestimmter Taktteile, eine größere intensio, die sich laut Descartes so einstellt,

ut initio cujusque battutae distinctius sonus emittatur,

»dass der Ton am Anfang eines jeden Takts hervorgehoben wird«. Damit, mit der gesetzmäßigen Betonung bestimmter Zeiteinheiten, ist die spezifische Beschreibung des Taktrhythmus vollständig. Die Hervorhebung jeweils der ersten Zeiteinheit, von zweien im Zweier- oder von dreien im Dreier-Takt, das taktrhythmische Verlaufsgesetz des Betonungswechsels mit jeweils einer oder mit zwei Unbetonten: hier sind sie zum historisch ersten Mal beschrieben.

Für uns versteht sich dieses Abwechseln von betont und unbetont zutiefst von selbst. Und für Descartes? Schon ganz genauso:

quod naturaliter observant cantores et qui ludunt instrumentis

»Das beachten die Sänger und Instrumentalisten ganz natürlich«. Weshalb sie es beachten, dafür gibt es für Descartes keine andere Begründung als gegebene Natur: Es stellt sich »natürlich« ein, naturaliter. Bis wenige Jahre zuvor hatte es sich noch nie eingestellt, gerade erst ist es historisch aufgekommen, gerade erst setzt es sich an die Stelle vollständig anderer Verhältnisse und weiß doch von keinem Entstehen, weiß von keiner Veränderung, es scheint Natur von allem Anfang an. Es gibt sich Descartes, der dem geschichtlichen Hervortreten dieses eben deshalb nicht Naturgegebenen unmittelbar beiwohnt und also unendlich viel näher steht als wir, schon genauso vollständig und naturgegeben vor wie eben uns.

Und genauso wie wir, die deshalb blind davon überzeugt sind, der Rhythmus nach Takten läge in der Natur der Sache statt daran, wie uns die Wahrnehmung diese Sache vermittelt, kann es sich schon Descartes nicht mehr anders vorstellen, als dass der Rhythmus, den wir hören und empfinden, einfach objektiv im Klang läge, unabhängig von dem, der ihn hört. Descartes’ Erklärung dafür, dass Rhythmus »naturaliter« nach dem betont/unbetont verlaufe, heißt demnach:

Sicher ist nämlich, dass der Klang alle Körper ringsum in Erschütterung versetzt, wie man es bei Glocken und bei Donner feststellen kann; den Grund dafür zu suchen, überlasse ich den Naturgelehrten. Doch da dem offensichtlich so ist und da wie erwähnt der Ton am Anfang jedes Taktes hervorgehoben und stärker gespielt wird, so muss man sagen, dass auch er unser Gemüt stärker erschüttert, durch welches wir zur Bewegung angeregt werden. Daraus folgt, dass auch wilde Tiere nach dem Takt tanzen können, wenn sie es gelehrt und daran gewöhnt werden, weil es dazu nur eines natürlichen Antriebs bedarf.

Eine wilde Behauptung: Noch der am besten abgerichtete Tanzbär tanzt nicht nach Takten, und nicht einmal du, guter Kuckuck, wo es bei deinem Ruf doch so natürlich nahe läge, hältst den Takt fein innen, auch wenn es das schöne Lied aus des Knaben Wunderhorn der Fabel wegen behaupten muss. Immerhin: Anders als bei Canetti, wo die Menschen den Taktrhythmus von den Tieren lernen sollen, lässt ihn Descartes die Menschen umgekehrt den Tieren beibringen und bekennt damit ein, sowenig es sich mit seiner mechanischen Schalldruck-Erklärung verträgt, dass dort Menschen ihren Rhythmus erst auf die Tiere übertragen müssten, dass den Tieren die Takte also durchaus nicht – einfach mittels der klanglichen Erschütterung – »von Natur aus« eingehen.

Dass es mit dieser Erschütterung durch die Schallwellen, dass es mit der bloßen physikalischen Klangwirkung nicht getan ist, erkennt Descartes nämlich andererseits sehr wohl. Er, der erste, der den Taktrhythmus beschreibt, erkennt ja auch als erster, dass unsere Wahrnehmung daran aktiv beteiligt ist, dass da nicht einfach nur Klänge in unseren sensus fallen und ihn mehr oder weniger erschüttern, sondern dass dieser sensus selbst wirksam wird, eine Art imaginatio entfaltet, wie Descartes sagt, eine Einbildungskraft, die jene rhythmische Klangordnung »aktiv-synthetisch« herstellt. Descartes, der klare Denker auch hier, beschreibt in einer Genauigkeit, die ihm für Jahrhunderte keiner nachmachen wird, was wir beim taktrhythmischen Hören unwillkürlich leisten, zeichnet nach, wie wir jeweils zwei Zeiteinheiten zu einer Gruppe zusammenfassen und jeweils alle nachfolgenden Gruppen zurückbeziehen auf die früheren und mit diesen wiederum zu potenzierten Zweiergruppen verbinden, zu Perioden nach den Zweierpotenzen.

Diese so beschaffene Proportion [sc. der Zweier- und Dreier-Gruppe] wird aber sehr häufig in den Gliedern einer Melodie eingehalten, damit sie unsere Wahrnehmung so unterstützen kann, dass wir uns, während wir eben noch die letzte Zeiteinheit hören, dessen erinnern, was in der ersten war und was in der übrigen Melodie. Das geschieht, wenn die gesamte Melodie entweder aus 8, 16, 32 oder 64 Gliedern besteht, so dass also alle Teilungen von der zweifachen Proportion ausgehen. Während wir nämlich die zwei ersten Glieder hören, nehmen wir sie als Einheit wahr, und während wir noch das dritte Glied dazu hören, verbinden wir es mit jenen [zwei] ersten, so dass eine dreifache Proportion entsteht; daraufhin, während wir das vierte hören, verbinden wir dieses mit dem dritten, so dass wir sie als Einheit wahrnehmen; dann verbinden wir wiederum die zwei ersten mit den zwei letzten, so dass wir diese vier zugleich als Einheit wahrnehmen; und so schreitet unsere Einbildungskraft fort bis zum Ende, wo sie schließlich die ganze Melodie als eine einzige Einheit aus vielen gleichen Gliedern auffasst.

Wie staunenswert genau beschreibt Descartes hier die Wirksamkeit der Synthesis! Und wie nachdrücklich also belegt er, dass diese Synthesis in ihm wirksam ist. Durch sie wird ihm Rhythmus – vollständig und natürlich – Taktrhythmus. Die Musikwissenschaft nämlich hat mit Erstaunen quittiert, dass Descartes bereits von einer Periodenbildung spricht, die bis zur Zweierpotenz 64 reicht, lange bevor in der Musik ähnlich weitgestreckte Perioden verwirklicht wurden. Es ist aber kein Wunder: Descartes wird zum Prophet solcher Perioden ganz einfach deshalb, weil er die potenzierte Gruppenbildung nicht erst der Musik zu entnehmen braucht, sondern sie nach dem Reflex selbst bildet. Um sie zu kennen, braucht er deshalb nicht erst auf ihren Niederschlag und ihre Verwirklichung in der Musik, sondern braucht er nur in sich selbst zu hören.

Und aus demselben Grund gibt es für ihn keinen älteren Stand von Rhythmus mehr, obwohl dieser in der Musik jener Zeit sehr wohl noch nachwirkt. Genauso tief, wie uns die Empfindung für den antiken Rhythmus verloren ist, ist schon für Descartes die des mensuralen verloren. Wer nach der taktrhythmischen Synthesis hört, der hört eben unwillkürlich ihren und nur ihren Rhythmus, empfindet diesen als rhythmisch und kann nur ihn sich noch als Rhythmus vorstellen. Das gilt für Hegel, für Nietzsche, Canetti, gilt für jeden von uns; und gilt auch schon für den Zeitgenossen jenes Umschlags, für Descartes. Vom alten, dem noch nicht von jener Synthesis durchwirkten Rhythmus ist für denjenigen nichts mehr vorhanden, in dem die Synthesis wirkt: eben deshalb, weil sie wirkt. Deshalb verdrängt dieses Neue das Alte so gründlich, als hätte es dies nie gegeben. Über solche Kraft verfügt es selbst im Moment seines frühesten Hervortretens – eine geschichtsvernichtende, eine geradezu furchterregende Kraft!

Ein zweites Dokument noch soll sie belegen, eine weitere zeitgenössische Schrift, an der vielleicht schärfer noch als an Descartes’ Compendium deutlich wird, wie sich der Wandel zur taktrhythmischen Wahrnehmung, wie sich also das Hervortreten des Taktreflexes historisch vollzieht; ich wüsste kein eindrücklicheres Zeugnis für dessen historisches Wirksam-Werden.

Es ist die Schrift, mit der ein deutscher Dichter die Akzentverse einführt. Dies Gründungsdokument »unseres« Rhythmus in deutschen Versen, das Buch von der Deutschen Poeterey, hat Martin Opitz 1624 verfasst und im selben Jahr veröffentlicht. Und darin schreibt er als erster, von nun an seien Verse nach betont und unbetont zu dichten. Er vollzieht also ganz offen und bewusst den Übergang zu Akzentversen, zu einer Versart, die es nach seinen eigenen Worten bis dahin nicht gegeben, die er selbst bis dahin nicht gekannt habe.54

Als erstes eine Frage am Rande: Weshalb vollzieht sich die Einführung der Akzentverse nicht ebenso geräuschlos von selbst wie die des Taktrhythmus in der Musik? Weshalb muss Opitz das Neue überhaupt einführen? Weshalb also gibt es bei den Versen eine Reform, die es in der Musik gerade nicht hat geben können?

Die Notwendigkeit, die neue Rhythmik erstens selbst als etwas Neues zu erkennen und dies Neue zweitens der Beachtung anderer zu empfehlen, ergibt sich wiederum aus dem anders gearteten, nicht wie in der Musik frei formbaren Klangmaterial, auf das der Taktreflex bei den Versen trifft. Da deren Klangelemente, die Silben der Sprache, für sich bereits Betonungen tragen und da die taktrhythmische Synthesis auf solche klanglich gegebenen Betonungen reagiert, hat also der Dichter, der taktrhythmisch wahrnimmt, darauf zu achten, dass er die Silben in eine Abfolge bringt, die sich mit ihren Betonungen an die Möglichkeiten des Betonungsrasters der Synthesis hält, in eine Abfolge also, die sich dem synthetisch-gesetzmäßigen Wechsel von betont und unbetont einfügt und ihn zuverlässig bindet. Diese Beachtung der taktrhythmischen Gesetzmäßigkeit muss der Dichter insofern bewusst vollziehen, ihrer hat er sich bewusst zu werden, auch wenn er sonst von einem Reflex nichts, aber auch gar nichts weiß – er bemerkt ja dessen Wirkung. Zu der Zeit, da dieser Reflex überhaupt erst aufkommt, gibt es folglich für die Dichter, anders als für die Musiker, den historischen Augenblick, da sie sich dieser Beachtung bewusst zu werden haben. Das kann je nach Sprache etwas früher oder später erfolgen, eben weil es hier auf das sprachlich vorgeprägte Klangmaterial ankommt und auf die unterschiedliche Nachgiebigkeit, mit der die Sprachen eine Einwirkung der Synthesis auf ihr Klangmaterial zulassen. In den romanischen Sprachen kommt es nie zu einer Akzentmetrik, im Englischen dagegen sehr früh – der erste Beleg, George Gascoignes Certaine notes of instruction concerning the making of verse or rime in English, stammt aus dem Jahre 1575. Im Deutschen braucht es dafür bis zum Jahre 1624.

Damals dekretiert Martin Opitz mit den folgenden dürren Worten eine bis dahin vollkommen unerhörte, neue Art von Versbau:

Nachmals ist auch ein jeder verß entweder ein iambicus oder trochaicus; nicht zwar das wir auff art der griechen vnnd lateiner eine gewisse grösse [sc. Länge oder Kürze] der sylben können inn acht nemen; sondern das wir aus den accenten vnnd dem thone erkennen / welche sylbe hoch vnnd welche niedrig gesetzt soll werden.55

»Nachmals«, von nun an also soll es nach betont und unbetont gehen; bisher hat es dies nicht getan. »Ein jeder verß« soll danach gehen; es gilt also grundsätzlich. Und gesetzmäßig soll es gehen; als »iambicus« so:

die erste sylbe niedrig / die andere hoch / die dritte niedrig / die vierde hoch / vnd so fortan /

und als »trochaicus« so:

die erste sylbe hoch / die andere niedrig / die dritte hoch / etc.

Ein aufschlussreiches »etc.«, »vnd so fortan«. Man wird sich erinnern, dass eine Folge antiker Jamben – und für Trochäen und alle übrigen Versfüße gilt das Gleiche – mit dieser Art regelmäßigem Auf und Ab, selbst wenn man es in das lang und kurz der Antike übertragen würde, keinerlei Verwandtschaft hat. Opitz benötigt aber für die neue Art von Versverlauf zwei Namen, und die nimmt er, zu seiner Zeit nicht anders denkbar, aus der Antike, auch wenn er die Begriffe dafür entschieden umdeuten muss. Wie aber kommt Opitz auf diese Art von Versbau?

Wiewol nun meines wissens noch niemand / ich auch vor der zeit selber nicht / dieses genawe in acht genommen / scheinet es doch so hoch von nöthen zue sein / als hoch von nöthen ist / das die Lateiner nach den quantitatibus oder grössen der sylben jhre verse richten vnd reguliren.

Opitz weiß von keinem Vorgänger, kann sich auf keine Autorität berufen, ja mehr noch, er selbst hat bisher nicht nach Akzenten, sondern anders gedichtet. Und trotzdem, obwohl es »vor der zeit« anders war und Opitz es anders kannte, empfindet er jetzt mit einem Mal zwingenden Anlass zu diesem, einem neuen, ihm bisher selbst noch unbekannten Versbau. Und dieser Anlass lautet schlicht und unhintergehbar: Es scheinet »hoch von nöthen« zu sein – mehr vermag Opitz nicht dazu zu sagen. Kein Zwang der Tradition lastet auf ihm, kein Zwang der Konvention, überhaupt kein Zwang von außen, auch von der Sprache kann er nicht ausgehen, denn weder hatte die deutsche Sprache bis dahin je nach Akzentmetrik verlangt, noch wandelt sich damals ihr Klangbild in irgendeiner Weise, die eine veränderte Behandlung in Versen erfordern könnte.56 Nein, eine innere Nötigung muss es sein, auf die sich Opitz beruft, ein Zwang, den er nunmehr unwillkürlich und unwiderstehlich empfindet.

Aber dass er ihn erst jetzt empfindet, dass ihm das Neue erst vonnöten wird, dass also der Zwang damals erst in ihm aufkommt, es lässt sich hier wunderbar genau belegen. Opitz hatte sich der Dichtkunst ja nicht erst mit der Niederschrift seiner Poeterey zugewandt, sondern schon all die Jahren zuvor fleißig Verse geschrieben. Und zwar selbstverständlich Verse der Art, wie bis dahin alle sie gedichtet hatten: rein silbenzählend, ohne jede Festlegung der Akzente. Neben ihrer Reimbindung sind diese Verse also allein festgelegt in der Anzahl ihrer Silben – und selbst die konnte, im freien Knittelvers etwa, schwanken. Rein silbenzählende Alexandriner lauten zum Beispiel so:

Der Tugent klarer glanz / welcher deinen aufgang /

Mehr dan andrer mittag / vnvergleichlich gezieret /57

Oder auch:

Venus hat die Juno nicht vermocht zue obsiegen

Keine Festlegung nach einem gesetzmäßigen betont/unbetont, kein Zwang zu einer bestimmten Abfolge der Akzente: So wurden diese Verse gedichtet, so wurden sie gehört, so wurden sie gelesen und goutiert. Die Sprachakzente durften so frei fallen, wie sie mochten, und ebenso natürlich – wir würden heute sagen: wie Prosa – waren sie auch zu lesen. Solche Verse hatten alle und so auch Opitz gedichtet, auch er bis dahin ohne alle Nötigung, die Sprachakzente in ein gesetzmäßiges betont/unbetont einzupassen. Das aber ändert sich. Zu der Zeit, da er schließlich die Poeterey verfasst, scheint ihm das betont/unbetont mit einem Mal »so hoch von nöthen«, dass es nicht anders mehr sein kann; und er gibt ein Beispiel für diese Notwendigkeit.

Denn es gar einen übelen klang hat:

Venus die hat Juno nicht vermocht zue obsiegen;

weil Venus und Juno Jambische / vermocht ein Trochéisch wort sein soll.

Der Vers ist ein Alexandriner so makellos trefflichen Klangs, wie ihn ein rein silbenzählender Vers nur immer haben kann – und wie ihn Opitz immerhin bis eben noch selbst verwendet hatte. Nunmehr aber hat derselbe Vers für Opitz »einen übelen klang«, warum? Weil es jetzt so heißen soll:

Venus die hat Juno nicht vermocht zue obsiegen;

und weil deshalb statt Vénus »jambisch« Venus gesprochen werden soll oder umgekehrt statt vermócht »trochéisch« vermocht. Auf diese Weise ergibt sich zweifellos ein übler, nämlich sprachwidriger Klang, doch wie kommt es dazu? Allein dadurch, dass es da jambisch oder trochäisch zugehen »soll«!

Wer aber schreibt das vor, woher kommt dieses Sollen? Opitz stellt doch gerade erst selbst die Forderung auf, dass es »nachmals« nach betont/unbetont, »Jambisch« oder »Trochéisch«, zugehen soll – und begründet dieses Sollen in seinem Beispielvers womit? Damit, dass es dies Sollen einfach schon gibt! Er weiß – so sagt er selbst: »meines Wissens« –, dass bis dato niemand, dass auch er selbst dies Sollen nicht empfunden und nicht beachtet hat; doch jetzt mit einem Mal ist es da – und Opitz vermag es nur noch hinzunehmen, vermag nur noch darauf hinzuweisen, dass es da ist. Denn nun hört er danach, ob er will oder nicht, jetzt gibt es für ihn mit einem Mal die Nötigung, gibt es jenes Sollen, das bei dem bisher so schönen, rein silbenzählenden Vers den Missklang nunmehr erzeugt. Ausdrücklich liegt der »übele klang« ja nicht schon im Vers, liegt er dort nicht schon in der Sprache und ihren Silben. Nein, dass zum Sprachklang vielmehr eine Betonungsfolge hinzutritt, die von diesem Sprachklang abweicht, dass Vénus zu Venus und vermócht zu vermocht werden soll, das erst macht den üblen Klang.

Es ist nicht zu übersehen: Der Missklang, den Opitz hier empfindet, das Sollen, das den Missklang bewirkt, und das gesetzmäßige betont/unbetont, womit es ihn bewirkt, entstehen zwingend unwillkürlich – als Werk des taktrhythmischen Reflexes. Er ist es, den Opitz als Nötigung lediglich konstatieren kann und begründen nur, indem er sich hinstellt und sagt: Da, man hört es doch! Opitz beruft sich auf ein Sollen, das den gesetzmäßigen Verlauf nach betont/unbetont erzwingt – aber ja bisher nicht erzwungen hat! Opitz beruft sich also auf einen Zwang, den er zwar erst jetzt empfindet, aber nunmehr so unwillkürlich und unhintergehbar, dass er sich schon nicht mehr vorzustellen vermag, ein anderer könne diesen selben Zwang nicht empfinden. Deshalb hält er es für ausreichend, den alten Alexandriner von Venus und Juno einfach hinzuschreiben, und schon müsse ihn jeder in eben dem üblen Klang hören, mit denselben sprachwidrig-zusätzlichen Betonungen, also nach demselben unwillkürlichen Sollen von betont/unbetont, welches Opitz nun selbst empfindet – als wäre es nie anders gewesen.

Keine fünf Jahre vor Niederschrift der Poeterey hatte Opitz noch einem Freund, Julius Zinkgref, die Manuskripte seiner bisherigen Gedichte zur Veröffentlichung überlassen. Zinkgref säumte zunächst, ließ die Gedichte liegen und beförderte sie erst im Jahre 1624, ohne erneute Rücksprache mit Opitz zu halten, zum Druck – inzwischen aber sehr zum Ärger ihres Dichters. Denn eben jetzt genügten ihm die eigenen rein silbenzählenden Verse nicht mehr, jetzt erhielten sie in seinen Ohren mit einem Mal jenen »übelen klang«, den er an dem Venus/Juno-Vers verzeichnet. Opitz beeilt sich deshalb, erstens die Poeterey zu verfassen und sich darin empfindlich gegen die Edition seines Freundes zu verwahren, und zweitens seine Gedichte noch einmal selbst drucken zu lassen. Und dafür überarbeitet er sie, indem er sie systematisch auf das betont/unbetont stimmt: Er nimmt an den eigenen Versen eben die Revision vor, die sich inzwischen in seiner Rhythmuswahrnehmung vollzogen hat.

Auch Opitz also kannte noch den älteren Rhythmus, er selbst hat nach ihm gehört, er selbst hatte seine früheren Verse nach ihm eingerichtet; doch nun, innerhalb so kurzer Zeit, sind sie ihm zu Artefakten eines vergangenen Rhythmus geworden, sie vertragen sich nicht mehr mit dem veränderten neuen, sie vertragen sich nicht mit der Wirksamkeit von Opitz’ veränderter Wahrnehmung; und so passt er ihr seine Verse nachträglich an. Jetzt achtet er darauf, dass sie sich durchgängig nach dem Wechsel von betont und unbetont lesen lassen, ohne dass es zu sprachwidrigen Betonungen durch eben diesen Wechsel kommt. Opitz schreibt seine Verse, die bisher nicht akzentmetrisch waren, zu Akzentversen um. Es lässt sich wohl verfolgen, dass diese älteren Verse schon vor ihrer Überarbeitung kontinuierlich, je näher sie dem Jahre 1624 lagen, umso seltener der Leseweise nach betont/unbetont Anstoß boten, aber doch bieten sie ihn bis ganz zuletzt.58 In einem letzten Umschlagen erst wird die Leistung der taktrhythmischen Synthesis so zwingend, dass sich Opitz der Nötigung, die ihm eine veränderte Behandlung der Verssprache abverlangt, unwiderruflich bewusst wird.

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