»Und … es gibt keine Hilfe?« fragte er.
Der andere schüttelte den Kopf. »Pfarrer und Ärzte«, sagte er, »die arbeiten immer mit den Dingen, die für sie aufgehört haben, wissen Sie. Gott und Pflicht und guter Wille und so weiter.« Er sah sich vorsichtig um. »Ich bin ein einfacher Mensch«, fuhr er leise fort, »aber ich weiß es. Es gibt Mütter und Kinder, bei denen man die Nabelschnur nicht zerschnitten hat, verstehen Sie? Und so war es hier. Sie bleiben immer eins, sie werden nie zwei. Sie hat es auch gewusst, als das dort geschah. Sie kam zu mir auf den Hof, weiß wie eine Tote, und zeigte mit dem Arm in den Wald. ›Jetzt haben sie ihn fortgerissen‹, sagte sie. ›Mein Blut fließt aus.‹ Und so war es auch, dass ihr Blut ausgeflossen ist … Mein lieber Herr, das muss man nun so lassen, und nun ist es so gut, dass Sie hierbleiben und ich manchmal ein bisschen bei Ihnen sitzen darf … wie ist Ihr Name, lieber Herr?«
Sein Gesicht war von innen beglänzt, als er sich vorbeugte und lächelnd in Thomas’ Augen sah.
»Orla«, sagte Thomas. »Thomas Orla … es ist ein märkischer Name. Aber weshalb meinen Sie immer, dass ich hierbleiben werde?«
»Sie sind gesandt, lieber Herr Orla, ja, ich muss es wohl so nennen. Gesandt wie ein Engel des Herrn. Sehen Sie, manchmal in diesen Jahren habe ich gezweifelt, an Gott, ja, das habe ich getan. Aber an den Heiligen nicht. Von Kind auf war ich bei ihnen, das ist in unserem Glauben so, näher bei ihnen mitunter als bei Gott. Er ist so weit, so schrecklich weit. Aber sie sind nahe, an unserer Seite, denn sie haben auch gelitten, ebenso wie wir, mehr noch. Aber Gott leidet nicht, wissen Sie? Nun, und die Heiligen, sie haben Sie gesandt. Sie haben gesehen, dass ich nicht mehr weiter wusste, und da haben sie mir das geschickt, das von Staub und Asche, nicht wahr? Das ist wie ein neues Leben, denn ich glaube es. Und dafür werden Sie hier finden, was Sie suchen. Alles hängt zusammen bei den Menschen, gute Tat und guter Lohn … Der See hier, er ist zu verpachten, oder nicht zu verpachten, sondern der Fischerposten ist zu vergeben, Fischer und Jäger, beides zusammen. Ein ruhiger Posten, auch wenn der General wunderlich ist … alle sind hier wunderlich … man kann leben davon, bequem leben, wenn man einfach ist. Ein kleines Haus auf der Insel, mir gegenüber, einen Büchsenschuss weit, ein Rohrdach, ein großer Herd, ein Netzschuppen. Und ein kleiner Wald, ein schöner Wald, Jungholz mit Fichten und Birken und dazwischen alte Eichen mit trockenen Wipfeln, wo die Reiher abends einfallen. Und ganz allein, verstehen Sie? Ganz allein, nur Wasser und Wald in der ganzen Runde. Man braucht ein Boot, um zu Ihnen zu kommen …«
»Und der General?« fragte Thomas. Seine Pfeife war ausgegangen, und er lauschte wie in einem Märchen. Ein Zauber fiel von dem alten Mann über ihn.
»Ja, ihm gehört das alles, lieber Herr. Das Schloss und das Gut und der See. Ein armer Mann, beide Söhne gefallen, und ich habe sie beide auf den Knien gehalten. Nur eine Enkelin ist bei ihm, und sie ist wie ein Engel in dem dunklen Haus … und Sie werden die Stelle bekommen, ich selbst will es ihm sagen. Der sie jetzt hat, ist ein Bolschewik, verstehen Sie? Einer, der ›Herr‹ genannt werden will, und seine Mutter hat noch Kartoffeln von meinem Feld gestohlen. Und der den General einen ›Blutsäufer‹ nennt, und jedes Kind weiß, dass er nur Rotwein trinkt. Nur dass Kanonen in der Schlosshalle stehen und zwei Diener in Uniform dabei. Einen Putsch will er machen, sagen die Bolschewiken, aber jeder weiß, dass die Kanonen nicht geladen sind.«
»Können wir es sehen?« fragte Thomas und stand auf. »Die Insel, meine ich, und alles … der Mond scheint doch, und vielleicht ist morgen früh alles fort und Sie haben nur geträumt …«
Der alte Mann lächelte. »Auch er war so«, sagte er, »alles gleich und sofort, damit es nicht verschwunden ist am nächsten Tag. Aber nichts verschwindet, lieber Herr. Wenn man alt geworden ist, weiß man, dass nichts verschwindet. Aber wir können gehen … beim Mondlicht wirft es die Netze über Sie, mehr noch als am Tage.«
Die Luft war noch wärmer geworden, und ein paar Regentropfen aus einer verlorenen Wolke fielen schwer in das trockene Laub unter den Eichen. »Geht dort wer?« fragte Thomas leise. Nein, nein, das sei nur der Regen und eben der Zauber. Immer klinge es hier so, als gehe wer durch die Nacht. Aber niemand gehe, ganz still und leer sei der Wald. Außer dass die Toten umgingen aus Land und Meer, aber darüber wisse er nichts.
Der Mond stand noch tief, vor ihnen, und sie sahen nur sein Licht. Der Himmel war sanft beglänzt, wie aus einem fernen Tor, und mitunter blitzte es im Walde auf, ein einzelner Strahl, der durch eine Lücke im Geäst auf feuchte Rinde fiel. Eulen riefen, und vom Wasser schrie ein unbekannter Vogel. Es war, als frage jemand nach dem Wege.
Der Fußpfad senkte sich, und dann war das Wasser zu sehen. Es lag als eine matte Scheibe in einem dunklen, vielfach gesprungenen Rahmen. Es dehnte sich, weit hinaus, und in der Ferne wurde es grauer und matter, bis es mit der Schwärze verfloss. Eine schmale Mondbahn lief bis zu ihren Füßen, und in der Höhe, zwischen dunklen, leise treibenden Wolken, standen die Sterne. Nichts bewegte sich, nicht einmal die Brücke des Mondlichts, und die Schilfhalme standen wie Speere mit glühenden Spitzen am Ufer. Und doch war es wieder, als ginge jemand leise durch den Wald und über das Wasser hin, verstohlen und atemlos, bald zur Rechten und bald zur Linken.
»Dort ist sie«, sagte der Förster leise.
Thomas sah die Insel, einen Büchsenschuss weit. Sie lag in vollkommener Schwärze auf der matten Scheibe, nur um die Wipfellinie war ein fließender, weißer Schein, und die trockenen Äste der Eichen standen wie Gittermasten gegen den Mond. Dunkle, schwere Vögel saßen regungslos in ihrem Netzwerk.
»Hier ist der Kahn«, sagte der Förster.
Aber Thomas wollte nicht fahren. Er wusste, dass es hier war, wo er leben und wahrscheinlich auch sterben würde. Seine Augen sahen es, und mehr noch sagte es sein Herz. Aber er wollte nicht hingehen wie in einem Zauber. Zu viel stand auf dem Spiel. Er war fünfundvierzig Jahre alt und brauchte den Tag, um dies zu sehen. Auch am Morgen würde es noch da sein, und es würde gut sein, wenn es regnete und ein harter Wind ginge, dass alles grau und wirklich aussähe. »Nein, morgen früh«, sagte er.
Sie standen noch eine Weile und sahen hinaus. Einer der großen Vögel über der Insel richtete sich auf und schlug mit den Flügeln. Ein heiserer Ruf kam über das Wasser herüber. Dann war alles wieder wie zuvor.
»Das sind die Reiher«, sagte der Förster. »Der General liebt sie nicht, aber es sind edle Vögel, und außer ihnen haben Sie niemand auf der Insel.«
»Ich hoffe, dass das gut sein wird«, sagte Thomas.
Dann gingen sie den gleichen Weg wieder zurück.
Das Haus war dunkel, und Thomas stieg mit einer Kerze die Treppe hinauf.
»Nebenan war sein Zimmer«, sagte Gruber. »Sie lässt keinen hinein. Aber es ist ganz still dort, und Sie brauchen sich nicht zu fürchten.«
Thomas stand noch am offenen Fenster. Nein, er fürchtete sich nicht. Alles würde gut sein, wie er es gesehen hatte. Er wusste, dass es auf ihn gewartet hatte, sonst würde er ja weitergefahren sein, die breite Straße zur Stadt. Man musste nur gehorsam sein.
Er ließ das Fenster offen und sah noch im Dunkeln zur niedrigen Zimmerdecke auf. Der große Vogel … wie er die schweren Flügel geöffnet hatte … und dann wieder in Schlaf versunken war … der Mond fiel in ihre geschlossenen Augen … die Sterne kreisten … alles war gut und ruhig dort … er wollte aussteigen dort und arbeiten … nie war er allein gewesen … Schiffe, Menschen, Häuser … er hatte keinen Ehrgeiz mehr und wenig Glauben … wie ein Geschwätz … aber dort wollte er sich bereden, so einsam wie die großen Vögel …
Dann schlief er ein.
Er erwachte davon, dass der Regen auf das Dach rauschte und dass nebenan, hinter der dünnen Wand, jemand ging. Er erriet es nur daraus, dass in regelmäßigen Abständen eine Diele leise knarrte. Es war ein seufzender Ton, als wenn im Walde zwei Bäume sich aneinander rieben. Ein ganz schwacher Schein stand schon hinter dem Fenster, aber es musste noch Nacht sein. Die Dinge des Zimmers zeigten noch keinen Umriss.
Er richtete sich auf und lauschte. Die Schritte musster langsam und ganz regelmäßig sein, auch glaubte er, als seir Atem ruhiger ging, das Knistern eines Seidenkleides zu hören. So war es die Frau, die im Zimmer ihres Sohnes war. Er wusste nicht, ob sie dort zu schlafen pflegte.
Der Regen rauschte, kein Wind ging, und der Wald empfing bewegungslos die strömenden Tropfen. Ein einziger tiefer Ton stand um das Haus, groß und tröstlich wie Meeresrauschen. Aber nun hob sich eine Stimme dazwischen auf, tief und ganz leise, die mit geschlossenen Lippen eine Melodie erklingen ließ. Die Frau sang, so leise wie über einem schlafenden Kind, aber das Lied sonderte sich doch ab von dem eintönigen Rauschen des Regens, weil es Höhe und Tiefe hatte, einen Gang der Töne, der anders geordnet war als das Fallen der Tropfen, eine menschliche Bewegtheit, die nicht einmal die der Klage war, sondern fast wie ein leiser Marsch vor sich hinging, selbstvergessen wie ein Kind auf abendlicher Straße.
Thomas war es, als kenne er das Lied, ja er wusste, dass er es kannte, so genau, wie man seinen Namen kennt, aber in dem Zwielicht des dämmernden Morgens und in der Unwirklichkeit alles Geschehens konnte er sich nicht erinnern. Traum und Morgen verwischten sich ihm, und während er lauschte, war er geneigt zu meinen, dass auch dies dazugehöre zu dem neuen Leben, die singende Frau wie der Regen, dass der Kummer sich hier nicht verberge wie in den Städten, sondern singend durch die Nacht gehe und es ihn nicht berühre, ob ein Mensch zuhöre, ein Fremder gar. den es aus dem Schlafe wecke.
Nun verstummte das Lied oder es verschmolz mit dem Regen, und auch die Bewegung der Diele klang nun weit her, als seien es doch zwei Kiefern im Walde, die in der Morgenluft erschauernd sich rührten. Schließlich war es, als lache es leise hinter der Wand, ein Mensch, der mit sich allein wäre, ganz allein, und eine Erinnerung riefe den leisen Ton in seiner Brust herauf.
Doch war Thomas wohl schon eingeschlafen, als dies geschah.
Am Morgen dann fand er niemanden in der Stube unten, aber neben seinem Frühstück lag ein Zettel des Försters, dass er auf die Insel fahren (der Kahn liege unten am Ufer) und ihn dort oder wieder im Hause erwarten möge. Die Schrift war fest und gerade, und Thomas dachte wieder an das Lied in der Nacht und wie seltsam es wohl aussehen würde, wenn die Frau die Worte in ihrer Schrift darunter setzen wollte. »Sieben Jahre, mein lieber Herr …«
Leise ging er aus dem Haus. Der Regen hatte fast aufgehört, aber die Wolken zogen noch dunkel, in langen Zügen über den Wald. Aus den Bäumen tropfte es unaufhörlich in das welke Laub, und bei jedem Windstoß rauschte es schwer und sprühend herab. Es war immer noch warm, und die Walderde roch bitter und schwer.
Dünne Nebel zogen über den See, und die Insel lag düster über dem grauen Wasser. Das Haus war nun zu sehen, nicht mehr als eine große Hütte, und es war eigentlich nur ein schweres Rohrdach über einer niedrigen weißen Wand. Aber Rauch stieg aus dem Schornstein, und daneben hob der bewaldete Hügel sich bis zu den Eichen auf seiner Krone. Die trockenen Wipfel verschwammen im Nebel.
Thomas stand am Ufer und lauschte, ob er einen Ton vernähme, aus den Wäldern oder über dem Wasser, aber nur der Rohrsänger rief im hohen Schilf, und die Tropfen fielen im Wald. Er stand lange und sah hinüber. Er hörte sein Herz mit ruhigen Schlägen klopfen und dachte, dass er als erstes ein kleines, leichtes Boot für Joachim besorgen müsste, wenn er zu den Sommerferien käme. Alles andere schien ihm geordnet und selbstverständlich.
Er fuhr stehend hinüber, da die Ruderbänke nass waren. Das Boot hatte einen flachen Boden, und mit jedem Schlag des langen Ruders hob die Spitze sich leise rauschend aus dem Wasser. Zuerst sah er den Grund, hellen Sand, über den kleine, erstarrte Wellenmarken liefen, dann wurde das Wasser dunkel, fast schwarz, und grüne Gewächse hoben sich schwankend aus der Tiefe auf. Mitunter sprang ein schwerer Fisch ins Licht, und ein silberner Schein blitzte matt durch die graue Luft. Dann liefen dünne Ringe über den See, griffen über sein Boot hinaus und erstarben wieder. Es war ihm, als sei er immer so gefahren, als brauchte es nicht aufzuhören und als seien Schiffe und Meer nur ein Traum gewesen, eine gespenstische Vergrößerung aus unruhigem Schlaf, und nun ziehe sich alles wieder zurecht zu geordneter und bescheidener Wirklichkeit.
Der flache Kiel stieß leise auf den Sand des Ufers, und er stieg aus. Ohne sich umzusehen, ging er den Hang zum Hause hinauf und klopfte an die graue Tür. Als niemand antwortete, trat er ein.
In dem dämmrigen Licht sah er nur das Feuer im Herd und eine dunkle Gestalt, die hineinstarrte, die Arme auf die Knie gestützt, das Kinn in den Händen. Da keine Antwort auf seinen Gruß erfolgte, ging er um den Mann herum und setzte sich auf einen Holzschemel neben dem Herd. Unter dem grauen Haarbusch sah er nun das Gesicht des Mannes, finster, aber nicht böse, wie es unbewegt in das Feuer blickte, den Widerschein der Flamme auf der gefalteten Stirn und in den fast schwermütigen Augen. Ein grauer Bart hing ihm ungepflegt auf die Brust, und ein dumpfer Geruch von Rauch und Fischen ging von ihm aus.
Es war noch stiller hier als auf dem Wasser, nur das Feuer knisterte hinter der halbgeöffneten Herdtür. Durch die kleinen Fenster fiel das graue Licht widerwillig auf die dunklen Bohlen, aus denen die Wände zusammengefügt waren. Netze hingen an Holzpflöcken, und Ruder standen in den Ecken.
»Na?« sagte der Mann und sah einmal flüchtig auf.
Thomas erwiderte, dass er sein Nachfolger werden wolle.
»Nachfolger« sei gut, meinte der Mann und sah ihn von der Seite an. »Thronfolger« sei besser, denn die Throne wackelten heute, und dieser insbesondere, auf den er sich zu setzen gedenke, sei mehr als wacklig.
Nun, er habe nicht gerade die Absicht gehabt, sich auf einen Thron zu setzen, sagte Thomas.
Sondern?
Sondern zu arbeiten. Er bekomme kein Schiff mehr als Steuermann, und es sei ihm auch zu laut in den Städten.
Der Mann nahm die Pfeife aus dem Munde und sah ihn lange an. »Was du doch für ein komischer Vogel bist«, sagte er nachdenklich. »Bist du ein Verkleideter, hm?«
Nein, er sei nicht verkleidet, erwiderte Thomas lächelnd.
Tja, heute sei alles möglich. Von rechts und von links. Nun, mit dem Lärm, da brauche er hier nicht bange zu sein. Auf der Insel sei noch keiner von den Bonzen gewesen, um Reden an das notleidende Proletariat zu halten. Und arbeiten? Das könne er hier schon, wenn es ihm Spaß mache, für die Blutsauger zu arbeiten. Ihm mache es keinen Spaß mehr.
Auf See habe niemand danach gefragt, sagte Thomas, für wen er arbeite. Sie wollten eben zur See fahren, das sei ihnen Freude genug gewesen. Und so wolle er hier arbeiten, weil es ihm Freude machen werde.
»Na ja«, sagte der Mann. »Warst du schon drüben?« Und er deutete mit dem Daumen über die Schulter.
»Nein.«
»Nicht uneben in seiner Art, der General, aber dämlich, sage ich dir, furchtbar dämlich. So aus der Zeit der Kreuzzüge, verstehst du? ›Mein See, mein Wald, mein Schloss!‹ Nicht beizubringen, dass das ebenso mir gehört wie ihm. ›Eigentum ist Diebstahl‹, nie was gehört davon. Aber ordentlich ausgesprochen wir beide manchmal, alles was recht ist … bis auf die Fahne.«
»Welche Fahne?«
Der Fischer knöpfte langsam den Rock auf, an dem die Fischschuppen glänzten, und holte aus der Brusttasche sorgsam ein rotes Tuch heraus, vielfach zusammengelegt und brüchig in den Falten. Er breitete es auf seinen Knien aus und strich mit der schweren Hand darüber.
»Dies eben«, sagte er. »Ich habe sie aufgezogen über dem Haus, und jedes Mal sind sie gekommen und haben sie heruntergeholt, er und seine Schergen. Schließlich habe ich gekündigt, Fahne muss sein!« Er stützte den Kopf wieder in beide Hände und starrte auf das rote Tuch.
»Aber hier, auf der Insel?« fragte Thomas. »Muss das sein?«
»Überall«, sagte der Mann finster. »Über der Insel und über dem Sarg …«
»Und nun?«
»Nun? Weiß nicht. In die Stadt ziehen wahrscheinlich und ’reinschlagen in die Bande, mit dem Ruder rechts und links. Keine Lust mehr zu arbeiten. Sechzig Jahre gearbeitet für einen Dreck, und jetzt kannst du nicht mal die Fahne aufziehen, wenn du willst!« Er spuckte ins Feuer und nahm einen Schluck aus der weißen Flasche.
Nein, Thomas dankte.
»Alles lernen, Freundchen, hier, alles lernen …«, murmelte er finster.
Thomas nahm aus seiner Brieftasche ein in Seidenpapier gewickeltes Päckchen, dünn wie ein Brief. Er schlug das Papier auseinander und nahm einen Tuchfetzen heraus, nicht größer als eine Handfläche, mit eingerissenen Rändern. Er war schwarz, und nur an einer Ecke, längs einer geraden Naht, war ein weißer Fleck wie angeheftet. »Sehen Sie«, sagte er, »das ist nun meine Fahne. Sie schlugen mich über den Kopf damals und warfen mich über Bord, aber ich ließ nicht los und riss mit der Hand ein Stück heraus. Ich hielt es noch in der Faust, als sie mich herausfischten, andere, und ich habe es behalten. Es sieht nicht schlechter aus als Ihres, nicht wahr? Nur kleiner und unansehnlicher. Aber aufziehen darf ich sie auch nicht mehr, das haben wir nun gemeinsam.« Er lächelte und ließ den Schein des Feuers über das Tuch spielen.
»Also doch verkleidet!« sagte der Fischer, beugte sich aber vor und sah auf den Fahnenrest in Thomas’ Hand.
»Schlechte Farben«, sagte er bekümmert, »haben viele dran glauben müssen … alle farbenblind … hinein mit ›Hurra!‹ und kopfüber auf den Grund … so dumm die Welt, so furchtbar dumm …«
»Auch Sie werden kopfüber auf den Grund gehen, in der Stadt«, sagte Thomas.
Der Mann fuhr mit der Hand waagerecht durch die Luft. »Egal!« sagte er. »Werde aber einige mitnehmen, und dies kommt auf meinen Sarg!«
Er faltete das Tuch wieder zusammen und barg es unter seinem Rock. »Mit Sechzig hat man keine Angst mehr, Freundchen … verwahre auch du deines, hat mir gefallen, auch wenn du verkleidet bist. Wer sich über den Schädel hauen lässt dafür, ist ordentlich. Die anderen kneifen nur den Schwanz ein wie die Köter.«
Ja, er wolle ihm alles zeigen, sei nicht viel zu besehen hier. In der Tür blieb er noch einmal stehen und sah zurück. »Fahnenwechsel«, sagte er, »was für ein Spaß! Wir beide, was?« Dann ging er auf dem schmalen Steig voran, der durch die Schonung bis zu den Eichen führte. Eine graue Leiter war an einen der Stämme gelehnt, und sie stiegen sie hinauf. Oben, zwischen den riesigen Ästen, war eine kleine Plattform und ein einfacher Sitz angebracht. Man sah die ganze Insel unter sich, den See, die Wälder und ein fernes Dorf zwischen Wiesen und Ackerstreifen.
»Kommandoturm«, sagte der Alte und lehnte sich über das Geländer. »Von hier kannst du sehen, ob sie kommen, Rote oder Schwarze oder Schwarzweißrote. Sauberer Platz für ein Maschinengewehr, aber ich hatte keins … nun pass auf! Reusen und Stellnetze in die beiden Buchten! Bei Ostwind hier, bei Westwind dort. Vor dem Gewitter überall. Bei Nordwind zu Hause bleiben und Netze trocknen. Krebsreusen dort entlang! Zwei bis drei Meter tief. Wenn du was nicht weißt, nicht den General fragen, sondern durch das Fließ dort in den nächsten See fahren. Da lebt der Alte, achtzig oder hundert Jahre alt. Heißt Peter, die Leute sagen Petrus. Habe ihn aber noch nicht auf den Wellen wandeln sehen. Weiß alles von den Fischen, spricht mit ihnen, weiß, wann sie ziehen und wann nicht, sieht in die Zukunft und priemt … wie heißt du übrigens?«
»Thomas.«
»Na also, die ganze Jüngerschaft zusammen … und ich heiße Christoph und kann euch über das Wasser tragen … will übrigens gar nicht, dass du viel fängst, der Alte. Stadtmenschen sollen verhungern, meint er. Hast ein gutes Leber hier, wenn du was ausgefressen hast und dich verkleiden musst. Kommt hier keiner schnüffeln, nicht mal der Fischmeister. Angst vor dem Alten … Aber ist nicht immer so wie jetzt, Freundchen. Kommen dunkle Tage, wenn der Schneesturm dir über den Schornstein heult. Denkst an alles, was du falsch gemacht hast, ist keiner da, der mit dir eine Pfeife raucht. Bloß das Eis brüllt im See, und die Füchse bellen, und manchmal heult der Wolf aus den Schonungen. Dann fängst du an zu trinken, Freundchen, weil wir nichts anderes haben als Schnaps, verstehst du? Wer in keiner goldenen Wiege gelegen hat, kann seine Netze stellen wie er will, sechzig oder achtzig Jahre lang, geht ihm doch der Fisch mit der Goldkrone nicht hinein. Ob du Rot hier aufziehst oder Schwarzweißrot,1 das bleibt sich alles gleich … und still wirst du, sage ich dir, so still wie ein Stein auf dem Grund …«
Er fuhr mit der Hand durch den leeren Raum und stieg die Leiter wieder abwärts. »Stimmt alles mit den Netzen«, sagte er an der Haustür, »keines zu viel und keines zuwenig. Nur mit den Mäusen muss du aufpassen im Winter, dass sie dir keinen Schaden machen … Heute Abend gehe ich los, der Kahn liegt da an der hohen Fichte.«
Er stand schon in der geöffneten Tür, und Thomas schien es, als sei er der Geist dieser Insel, grau, verwittert und gebeugt, und als würde er selbst nach zwanzig Jahren auch so dastehen. Das Tor der Zukunft tat sich in geräuschlosen Angeln auf, mit blitzenden Flügeln, einen Herzschlag lang. Er sah sich, wie eine Vision, auf der Schwelle stehen und sich umwenden wie jener, nur mit einem anderen Gesicht, und dann hineingehen und vor dem Feuer niedersitzen. Der Schein der Flamme spielt über den Globus, Länder und Meere, Berge und Ströme. Er hat den Kopf in die Hände gestützt und blickt darüber hin, ohne Wunsch und Begehren, vieles hinter sich, wenig vor sich, ein einsamer Mann, schweigsam wie die Steine auf dem Grund.
»Ich werde ihn fangen, Christoph«, sagte er, »den mit der goldenen Krone … ich werde ihn fangen!«
Aber der andere verzog nur die Lippen über dem grauen Bart, winkte mit der Hand und ging hinein.
Eine unsichtbare Uhr schlug elf helle Schläge, als Thomas vor der Schlosstreppe stand. Das Schloss war nicht mehr als ein großes Gutshaus, mit einem hohen braunen Dach über zwei Flügeln. Doch lag es breit und stattlich über der Seebucht, und der Efeu, der bis an die Fenster des oberen Stockwerks rankte, ließ es alt und ganz auf sich zurückgezogen erscheinen. Das Wappen über der schweren Tür war so verwittert, dass es nicht mehr als eine gepanzerte Faust erkennen ließ, die etwas trug, aber es konnte ein Lilienstengel wie eine Streitaxt sein. Der Park hinter dem Hause musste gleich in den Wald übergehen, hinter dem Hof aber hob sich gerade der dünne Nebel über dunklen Feldern, die erst vom Horizont begrenzt schienen. Ein blaues Tor tat sich zwischen den ziehenden Wolken auf, und ein heller Schein fiel auf die regennasse Erde, auf die leuchtenden Dächer und auf die Spitze der Fahenenstange, die sich über der Mitte des Hauses erhob.
Dann stieg Thomas die Stufen hinauf. Er läutete an einem alten Glockenzug, und die schwere Tür wurde von einem Riesen in altertümlicher Uniform geöffnet. Thomas meinte, sie müsse aus der Zeit Friedrichs des Großen stammen, mit weißem Lederzeug und verschnürtem Rock, doch trug der Mann keine Bärenmütze, sondern kurz verschnittenes Haar, sah auch so aus, als hätte man ihn eben vom Pfluge fortgeholt und er hätte sich dort wohler befunden als in seinem gegenwärtigen Amt.
»Der Herr General lassen bitten«, sagte er düster und half Thomas aus dem Mantel. Es klang, als liege der General im Sterben.
Thomas nahm mit einem Blick die riesige Halle wahr, die bis in das obere Stockwerk reichte, eine schöne und breit aufsteigende Treppe von dunkelbraunem, glänzendem Holz, Schaufeln, Geweihe, Vögel, Waffen, Ahnenbilder, einen riesigen Feuerplatz, in dem ein ganzer Baumstumpf verkohlte, und im Hintergrund, zu beiden Seiten einer zweiflügligen Tür, zwei alte Kanonen aus mattglänzendem Metall, die dunklen Münder drohend auf den Eingang gerichtet.
Doch standen keine Kanoniere neben ihnen, mit brennenden Lunten etwa, wie Christoph erzählt hatte, bereit, das Feuer sofort auf jeden zu eröffnen, der es etwa an Haltung oder Gesinnung gleich beim Eintritt sichtbar fehlen ließe. Aber auch eine Regimentskapelle, ein Schellenbaum und Bombardon, wie Thomas sie eher vermutet hätte, war nicht sichtbar, sodass er guten Mutes, wenn auch etwas verwirrt von dem Anblick düsterer Feierlichkeit, dem riesigen Grenadier oder was er sonst sein mochte, durch ein büchergefülltes Vorzimmer bis an die Eichentür folgte, an der dieser nun deutlich, aber doch in geziemender Bescheidenheit klopfte.
Eine etwas heisere Stimme rief »Herein!«, der Große öffnete die Tür, trat oder sprang vielmehr mit erstaunlicher Gewandtheit über die Schwelle, schlug daneben die Absätze seiner Schuhe unter den geschnürten Gamaschen zusammen und meldete mit heller Stimme: »Der Herr Christoph Nachfolger, Herr General!«
Ein kleiner, breiter Mann mit grauer Litewka2 hob den Kopf von den Papieren auf seinem Schreibtisch, sagte »Schafskopf!« zu dem Riesen und winkte Thomas mit der Hand, näher zu treten. Er wies auf einen Stuhl an der Schmalseite des Tisches, wartete, bis der Riese das Zimmer verlassen hatte, und blickte dann Thomas an.
Dieser meinte, sein Gesicht schon als Kind gesehen zu haben, in der vielbändigen »Geschichte der Eroberung des indischen Reiches«, die in den Bücherschränken seines Vaters gestanden hatte, ganz unten, sechs dunkelbraune, schwere Bände, und in denen er die Bilder vor allem liebte, in matten Wasserfarben, unzureichend für die Glut jener Landschaften, aber erfüllt von seltsamen Menschen, Tieren und Pflanzen. Dort, inmitten edelsteinbedeckter Maharadschas und dämonischer Tempel, hatte es auch Porträts der Eroberer gegeben, Soldaten, Kapitäne und Könige des Handels, mit brauner Haut und weißem buschigem Haar, mit strengen, mitunter grausamen Lippen und kindlich gebliebenen hellblauen Augen; Männer, von denen man nie wusste, ob sie Blut aus den Hirnschalen erschlagener Landesfürsten tranken oder ob sie, wieder heimgekehrt auf ihre grüne, neblige Insel, vor den riesigen Kaminen ihrer Schlösser den schweren Wein tranken, der in alten Eichenfässern die Reise nach Indien und zurück immer wieder gemacht hatte, um jene Glut und Milde zu gewinnen, von der ihre Gesichter so braunrot und fröhlich geworden waren. Männer, die er sich von der Meute ihrer Hunde und zahlreichen Enkelkindern umgeben vorgestellt hatte und für die alle es nur einen geheimnisvollen und fast tropischen Namen in seiner Gedankenwelt gegeben hatte: den Namen der Nabobs.3 Er hatte nicht gewusst, woher dieser Name stammte, aber etwas Drohendes und gleichzeitig Heiteres war aus dem Klang der Silben aufgestiegen, Fremdheit und Zauber, Macht und Einsamkeit, und einmal hatte er seinen Lehrer in das hilfloseste Erstaunen versetzt, als er auf die Frage, was er einmal werden wolle, laut und ohne Überlegung geantwortet hatte: ein Nabob!
Nun musste er fast ein Lächeln verbergen, als er bedachte, wie wenig er selbst jenes kindliche Versprechen eingelöst hatte, weder im Äußeren des Glanzes noch im Inneren selbstgewisser und fast allmächtiger Haltung, von einer Meute von Grauhunden soweit entfernt wie von einer Schar hellblonder Enkelkinder, und wie auch jener, dessen Gesicht ihm aus jenen Büchern vertraut war, in seinem Leben und Sein, in Erinnerungen, Macht und Reichtum wohl weit hinter den Urbildern jenes seltsamen Namens zurückgeblieben sein mochte, außer dass er vielleicht in den Kellern dieses Hauses einen ansehnlichen, aber immer mehr abnehmenden Vorrat jenes Weines besäße, der, vor riesigen Kaminen an langen Abenden getrunken, jene Hautfarbe verleihen mochte, die wie von indischer Sonne gebräunt und gebrannt erschien.