Читать книгу: «Lena Halberg: London '05», страница 2

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Früher, als er für die Reportagen der wichtigen Fernsehstationen große Storys rund um den Globus recherchierte, bekam er alle Hinweise, die er brauchte, ohne danach zu fragen. Die Leute drängten sie ihm förmlich auf, so gierig waren sie, im Fernsehen Beachtung zu finden oder ihre Erkenntnisse über andere loszuwerden. Nach einem größeren Flop und der darauf folgenden Schadenfreude seiner eifersüchtigen Kollegen zog sich Tom vom schnellen Tagesgeschäft in ein Haus bei den Londoner Docks zurück. Dort verbrachte er sein Leben seitdem als Autor von politischen Sachbüchern und nur wenige seiner alten Kontakte waren ihm geblieben. Er würde also später eine Mail schreiben, dass er mitten in dem Vorfall am King’s Cross stecken geblieben war und sich damit für sein Nichtkommen entschuldigen.

Um elf ging er den langen Gang nach hinten, bis ans Ende zu den Liften, wo er beim Hereinkommen einen Aufenthaltsraum mit Fernseher gesehen hatte. In den Nachrichten sollten die Sender einiges an Informationen bringen. In den durchlaufenden Infozeilen konnte man lesen, dass es mehrere Explosionen gegeben haben musste, wodurch die ganze Stadt gelähmt war.

Vor dem allgemeinen Aufenthaltsraum befand sich ein größerer freier Platz. Den Fernsehbereich mit dem TV-Gerät trennte eine Glasschiebewand ab, damit Leute, die sich unterhalten wollten, vom lauten Ton nicht gestört wurden. Die Schiebetür stand offen, eine Menge Patienten, die wie gebannt die Sendungen verfolgten, drängten sich bereits im offenen Zugang.

Tatsächlich wurde auf jedem News-Channel darüber berichtet. Die offizielle Pressemitteilung der Polizeibehörde bestätigte danach, dass kein Stromausfall Schuld an dem Chaos trug, sondern London das Ziel eines mehrfachen Anschlags geworden war.

Laut offiziellen Angaben hatten vier arabische Terroristen die Anschläge verübt: Selbstmordattentäter, die Rucksäcke mit Sprengstoff trugen, den sie zündeten und sich damit in die Luft sprengten. Drei der Araber, so die weiteren Details, taten dies gegen neun in verschiedenen U-Bahn-Linien und etwa eine Stunde später ein weiterer in einem städtischen Autobus.

Am stärksten betroffen war die überfüllte Piccadilly-Line bei der Station am King’s Cross, so die Berichte weiter, alleine in dieser Zuggarnitur gab es wahrscheinlich über zwanzig Tote. Die Überlebenden konnten erst nach einer Stunde von den Einsatzkräften befreit werden.

»Wahnsinn«, murmelte Tom, der sich an die verzweifelten Gesichter der eingeschlossenen Menschen erinnerte, die gegen die Fensterscheiben gehämmert hatten. »Eine Stunde in der Ungewissheit, was weiter passiert, ob es nicht eine neuerliche Explosion gibt …«

Auf BBC und CNN sprach man von über dreißig Toten und hunderten Verletzten, Sky meldete sogar tausend Verwundete.

Wie sich später herausstellte, war das unerwartete Problem für die Sicherheit, dass die Attentäter davor schon in Großbritannien gelebt hatten, drei von ihnen waren sogar gebürtige Briten. Dadurch boten die genauen Kontrollen auf den Flughäfen, die man seit dem Anschlag in New York vom elften September auch in England durchführte, in diesem Fall leider keinen Schutz.

In den folgenden Reportagen des Tages brachten sie Fotos von den zerstörten U-Bahnen und dem zerfetzten Bus. Ein verwackeltes Privatvideo zeigte Einsatzkräfte, die versuchten, Ordnung in die aufgeregte Menge zu bringen. Die Stadtverwaltung hatte den gesamten U-Bahn-Verkehr und die Buslinien in der Innenstadt eingestellt – die Stadt hielt den Atem an.

Tom konnte der Sendung nicht weiter zuhören, sie brachte die Erinnerung an das Erlebte sofort zurück. Er wischte sich über die Stirn, um die aufkommenden Bilder in seinem Kopf loszuwerden, und ging langsam zurück zur Radiologie.

Madeleine kam ihm entgegen, sie suchte ihn schon und hielt die Puppe des Mädchens in der Hand. Tom bemühte sich, in ihrem Gesicht zu lesen, wie es dem Mädchen ging. Sie sah den Blick und winkte beschwichtigend.

»Sie lebt, allerdings hat sie, außer den Armbrüchen, einen einseitigen Riss in der Lunge und eine Ansammlung von Blut oberhalb der Brust. Sie ist in der Vorbereitung, unser Oberarzt wird sie operieren, den Blutschwamm absaugen und eine fixe Drainage in die Lunge legen.«

»Wird sie durchkommen?«

»Das kann man nicht sagen. Wenn sie eine Kämpferin ist und keine schweren inneren Verletzungen hat …«

»Danke, Maddy, zumindest besteht Hoffnung!«

»Hast du in den Nachrichten gehört, was los war?«

»Ja, Anschläge von Terroristen, vier Bomben in der U-Bahn und im Bus, den ganzen Betrieb in der City haben sie deshalb eingestellt.«

»Irre, als wir zuerst telefonierten, sagten sie im Radio nur etwas von einer Explosion wegen eines Stromausfalls«, meinte Madeleine bestürzt.

»Das haben sie nur gemacht, damit es keine Panik gibt, solange man nicht wusste, was geschehen war.«

Tom ließ sich auf einen der Besucherstühle fallen, die an den Wänden entlang des Flurs standen. Madeleine blickte auf ihn hinunter.

»Du siehst auch ziemlich fertig aus«, sagte sie, »ich bring dir was zum Anziehen, einen starken Kaffee, dann musst du duschen und ich versorge den Fuß.«

»Was?«

Tom verstand zuerst nicht, was sie meinte, dann sah er in die Glasscheibe der Etagentür gegenüber, in der er sich spiegelte. Sein Gesicht war zerkratzt, an verschiedenen Stellen von dem Rauch im Tunnel schwarz verschmiert und seine Haare standen ziemlich wirr vom Kopf. Auch die Jacke und seine Jeans waren dreckig, an den hellen Sneakers klebte ölige Schmiere und über dem rechten Fuß war die Hose zerrissen. Rund um die Stelle, wo sich das Metallstück hineingebohrt hatte, war der Stoff mit getrocknetem Blut getränkt. In dem Moment, wo er die Wunde sah, begann sie, wie höllisch zu arbeiten.

»Ja, danke Maddy, das wäre toll«, stöhnte er mit einem flehenden Blick, der Madeleine sogar in der ernsten Situation zum Schmunzeln brachte.

»Ich hole jetzt Kaffee, Verbandszeug und eine saubere Hose von einem unserer Pfleger.« Sie beugte sich vor und setzte die Puppe auf den Stuhl neben Tom. »Da, auf die musst du jetzt aufpassen, in den OP kann ich sie der Kleinen nicht mitgeben. Sie leistet dir Gesellschaft, bis ich wieder da bin. Ich muss davor aber schnell die Blutproben des Mädchens ins Labor bringen und mich mit meiner Kollegin absprechen. Wird etwas dauern.«

»Keine Angst«, antwortete Tom müde, »ich lauf dir nicht davon.«

»Terroristen mitten in London …« Madeleine schüttelte im Weggehen fassungslos den Kopf. Dann drehte sie sich nochmals um. »Übrigens ein Glück für die Kleine, dass du sie getragen und bewegt hast. Hätte man sie auf eine Trage gelegt, wäre sie erstickt.«

Trotz des schwülen Tages ließ sich Tom das Wasser brühheiß über den Rücken laufen. Es war inzwischen Mittag vorbei, sein Schienbein zierte ein frischer Verband und er stand unter der Dusche. Die Wärme tat ihm gut, löste seine Verkrampfungen.

Der Mann am Bahnsteig fiel ihm ein. Letztlich hatte er recht, würden die Menschen mehr Respekt vor anderen haben, wäre es besser für die Welt. Es gäbe weniger Konflikte, weniger Verwicklungen und – mit einem besseren Verständnis für die arabische Welt – hätte sich London vermutlich auch die heutigen Terroranschläge erspart. Konnte man die Attentäter überhaupt als Araber bezeichnen? Angeblich waren es Briten gewesen. Aber so ticken wir in England, dachte Tom, alle hier geborenen Europäer, Inder, Asiaten oder Schwarzafrikaner sind einfach Briten, aber die aus den arabischen Familien sind seit 9/​11 wieder nur Araber.

Irgendwann nach einer endlosen Weile klopfte es an der Duschtür, Madeleine stand davor. Tom öffnete die Augen und sah sie durch den Wasserstrahl an.

»Sie ist auf der Intensiv«, sagte sie laut, damit er sie hören konnte, »sie kommt durch!«

Als Maddy wieder draußen war, versagten Tom fast die Beine, so glücklich war er. Er hockte sich müde auf die warmen Bodenfliesen der Duschkabine und warf den Kopf zurück. Der starke Strahl traf sein Gesicht, nahm ihm den Atem. Er wollte sich die letzten Stunden abwaschen – die Zerstörung, die Toten und das ganze Leid, das er hatte mit ansehen müssen.

Zur gleichen Zeit verließ Tony Blair das Gleneagles Hotel in den schottischen Ochil Hills nahe Edinburgh und die dort seit dem Vortag stattfindende G8-Gipfelkonferenz, um sich ein Bild von den Vorfällen in London zu machen.

Er verhandelte mit George W. Bush, Wladimir Putin und den Regierungschefs der wichtigsten Industrienationen über ein Hilfspaket von drei Milliarden Dollar für die palästinensischen Autonomiegebiete. Sein Ziel war es, mit den Zahlungen den Friedensprozess im Nahen Osten zu fördern.

Nach seiner Rückkehr verfolgte er das Thema nicht weiter, die Hilfe für die arabischen Regionen wurde zur großen Zufriedenheit Israels eingefroren. Das Hauptthema der Konferenz war nun die Bekämpfung des Terrors und die davor laut gewordenen Überlegungen der britischen Regierung, sich von den Konfliktherden in Afghanistan und dem Irak zurückzuziehen, wurden verworfen. Man entschied, an der Seite der USA mit aller Härte weiter am Krieg teilzunehmen.

Heute

1

Die gleichmäßig graue Wolkendecke ließ zum ersten Mal in diesem Winter feine Flocken auf die Londoner Innenstadt fallen. Unten auf der Straße verwandelten sie sich in hellbraunen Matsch, der den Fahrern, die an diesem Freitagnachmittag Anfang Dezember unterwegs waren, schlitternde Bremsmanöver bescherte. Schon wenige Zentimeter Schnee konnten die Metropole an der Themse vollkommen lahmlegen – es gab ihn selten, man war nie darauf vorbereitet und kaum ein Fahrzeug in England fuhr mit Winterreifen.

Lena stand beim Fenster im letzten Stockwerk des Aldersgate Towers, dem dunkelblauen Glaskomplex mitten in der City, der beim Postman’s Park neben dem historischen Museum von London aufragt. Sie schaute fasziniert über die Dächer der Londoner Börse und der Temple Bar auf die sich langsam weiß färbende Kuppel der St. Pauls Cathedral, die zum Greifen nahe schien. Wie der frisch gestärkte Reifrock einer eleganten Frau aus dem vorigen Jahrhundert, so kam ihr das gewölbte Dach des Doms vor.

Dahinter wand sich die Themse in einer weiten Linksbiegung durch die Millionenstadt. Auf den Brücken, die von hier aus zu sehen waren, pulsierte dichter Verkehr. Alles war geschäftig auf den Beinen nach Hause oder am Einkaufen für das bevorstehende Wochenende und staute in überfüllten Fahrbahnen nach allen Richtungen quer durch die Stadt. Lena genoss den Anblick des bunten Treibens, es fühlte sich lebendig an und für eine Journalistin konnte hinter jedem der Menschen eine Story stecken, die es wert war, erzählt zu werden.

In dem eleganten Office-Building, hoch über den Dächern der Stadt, residierte das Redaktionsbüro Barod International, für das Lena seit letztem Sommer arbeitete. Sie kannte Shyam Barod, den Besitzer der Firma, schon lange aus der Branche. Ihr gefiel seine Entschlossenheit, heikle Themen aufzugreifen. Shyam hatte eine gute Hand für Storys, was der Grund für seinen Erfolg und die rasche Karriere war. Mehrmals hatte er bereits versucht, Lena von ihrem alten Job abzuwerben, bis sie ihm schließlich die Reportage anbot, die sonst niemand machen wollte: Business and Terror – Wer profitierte vom Anschlag am elften September?

Er bewies auch diesmal Mut, griff sofort zu und gab Lena ein eigenes Sendeformat für politische Dokumentationen. In ihrer Reportagereihe Behind Headlines sollten regelmäßig anspruchsvolle Hintergrundberichte zu politischen Ereignissen erscheinen, die er plante, in allen wichtigen News-Kanälen Englands unterzubringen.

Lena ging zurück in den Besprechungsraum, wo schon einige vom Team, die andere Programmschienen betreuten, warteten. Alle sahen gespannt auf Shyams jungen Assistenten Clark, der die Statistiken betreute und die Listen mit den laufenden Quoten ausgebreitet vor sich liegen hatte.

»Ja, euer Chef-Analyst sagt euch«, eröffnete er lachend die Runde, »wir haben wieder einmal den Vogel abgeschossen.«

Der quirlige Clark war erst Anfang dreißig, stets bester Laune und mit seinen bunt gemusterten Sakkos der schräge Vogel in der arrivierten Mannschaft. Er nahm die Kopien von den Berichten und schob sie über den Tisch, während sich Lena bei der Kaffeemaschine neben dem Eingang einen Cappuccino zubereitete.

»Vier unserer aktuellen Reportagen sind in ganz England gelaufen, zwei haben sich auch nach Deutschland, die Schweiz und Frankreich verkauft und dein Bericht über die neuen Entwicklungen in der IRA«, er nickte einem älteren Mitarbeiter mit dunklem Haarzopf und runder Nickelbrille zu, »hat es bis nach Übersee geschafft – gratuliere, tolle Arbeit. Aber diesmal habt ihr es schwer, Lenas neues Reportformat hat alle Erwartungen übertroffen.«

Clark stand auf und winkte Lena mit einer einladenden Geste zu sich. Sie warf Zucker in ihre Tasse und ging umrührend hinüber zum Tisch.

»Sensationell«, fuhr er fort und hielt ihr den Ausdruck hin, »deine Story über 9/​11 hat sich bisher in zwölf Länder verkauft, darunter USA, Japan, Australien und Island – dort hatten wir noch nie etwas auf Sendung – und wurde insgesamt dreißig Mal ausgestrahlt. In Amerika warst du damit im Hauptabendprogramm und hast eine Welle von erbosten Reaktionen der konservativen Republikaner ausgelöst, die auf den sozialen Netzwerken deine Spekulationen zur Beteiligung der Waffenlobby an den Vorgängen empörend fanden. Es ist daher anzunehmen, dass du ins Schwarze getroffen hast. Mehr als dieses Echo kann man sich für eine Reportage nicht wünschen …«

Alle Kollegen pochten mit den Knöcheln anerkennend auf die Tischplatte und Lena rührte verlegen im Cappuccino.

»Und von Shyam, der nicht hier sein kann, weil er in der Schweiz zu tun hat«, warf Ruth ein, die auch beim Tisch saß, »soll ich dir ebenfalls ausrichten, dass er froh über den Erfolg deiner ersten Arbeit für uns ist.«

»Danke euch, das freut mich sehr. Es war oft an der Kippe, ob ich das Thema gegen den politischen Widerstand durchbringe«, sagte Lena und ihre Augen wurden feucht, »auch habe ich einen lieben Freund in dieser Zeit verloren.«

»Ich weiß: Niels«, sagte Ruth tröstend. »Er war ein bemerkenswerter Kollege, den auch wir sehr geschätzt haben. Schon deshalb ist es wichtig, dass deine Sendung jetzt eine derartige Anerkennung findet.«

Lena setzte sich an den Tisch und verfolgte die weiteren Gespräche mit dem wehmütigen Gefühl, dass Niels nicht mehr da war, aber auch mit Zufriedenheit ob des neuen Jobs. Sie arbeitete gerne in dieser ruhigen, sachlichen Crew und sie mochte Ruth, Shyams Mutter, gut leiden. Sie war eine große, elegante Frau Mitte sechzig, hatte kurze dunkle Haare mit einer Silbersträhne und trug mit Vorliebe streng auf Figur gearbeitete Hosenanzüge. Ruth mischte sich in Shyams Leitung der Redaktion nicht ein. Sie machte mit Clark zusammen die Statistiken, half bei der Buchhaltung und absolvierte gelegentlich die offiziellen Termine, wenn ihr Sohn unterwegs war.

»What’s next?«, fragte sie Lena nach der Besprechung, als nur noch sie beide und Clark im Raum waren, zu deren neuen Plänen. »Hast du schon ein Folgeprojekt im Auge, das 9/​11 toppen kann?«

»Was schwer sein wird, denn es gibt nicht viele Ereignisse, die von so allgemeinem Interesse sind«, gab Lena zurück. »Ich werde jetzt einmal über die Feiertage ausspannen und überlegen.«

»Wenn du möchtest«, warf Clark dazwischen, »stehe ich dir gerne bei einem gediegenen Abendessen für ein privates Brainstorming zur Verfügung.«

Lena schmunzelte über die Formulierung. Clark behauptete, er stamme von einem alten Adelsgeschlecht ab und versuchte, alle Frauen damit zu beeindrucken.

»Das ehrt mich sehr«, antwortete sie amüsiert, »aber die Antwort ist wie immer …«

»Du wirst das eines Tages bereuen«, ergänzte er und legte die Stirn in Falten. »Sobald ich die elterlichen Ländereien in Sheffield erbe, würde ich dich mitnehmen.«

»Ganz bestimmt«, Lena blinzelte ihn an, »und glaube mir, wenn ich zehn Jahre jünger wäre …«

»Also«, unterbrach Ruth das scherzhafte Geplänkel der beiden und wurde wieder sachlich. »Was sage ich Shyam, wenn er zurückkommt?«

»Dass ich meine zwei Wochen Urlaub benutze, um die Themen zu sondieren«, meinte Lena und packte ihre Sachen. »Ich melde mich dann nach Weihnachten bei ihm.«

»Sehr gut, nach dem Erfolg mit deiner neuen Sendung sollten wir nicht zu lange warten. Wie du ja selbst weißt, die Leute lieben Sensationen und wollen gefüttert werden.«

Lenas Wolljacke lag auf dem Beifahrersitz, die Heizung des schwarzen Mini Coopers blies auf der größten Stufe warme Luft in den Fußraum und der USB-Stick mit Chris Reas Driving home for Christmas steckte im Player – besser geht’s nicht, dachte sie.

Der Verkehr hatte etwas nachgelassen, trotzdem ging es nur zäh voran. Für die zwanzig Kilometer bis nach Twickenham im Südwesten der Großstadt, wo Lena ihr Haus hatte, würde sie mehr als die übliche Stunde brauchen. Nur heute störte sie das nicht. Im Gegenteil, sie überlegte sogar, stehen zu bleiben, um einen Bummel einzulegen.

Obwohl sie im Winter ihrer Leidenschaft – mit dem Motorrad über die englischen Landstraßen zu flitzen – nicht nachgeben konnte, liebte sie diese Jahreszeit. Die letzten Wochen vor Weihnachten waren für sie schon immer etwas Besonderes gewesen. Die Menschen waren freundlich, zumindest bemühten sie sich, wenn man sie daran erinnerte, und die beleuchteten Dekorationen gaben den Straßen und Plätzen der Innenstadt ein festliches Flair. Wenn dann, so wie jetzt, auch noch Schnee fiel, mischte sich das letzte Licht des Spätnachmittags mit der Straßenbeleuchtung zu einer ganz eigenen Stimmung, die Lena an ihre Kindheit in Dänemark erinnerte.

Der kleine Ort in der Nähe von Aalborg, in dem sie aufgewachsen war, bis die Familie nach England zog, lag ebenfalls am Wasser. Der Abendhimmel über dem engen Fjord, der zur Ostsee hinauslief, hatte im Winter die gleiche rötliche Färbung in der Dämmerung. Überhaupt war das Klima durch die Nähe zum Meer ähnlich feucht und frisch wie in England. Anfangs hatte Lena unter der Umstellung sehr gelitten. Sie war erst sechs, als ihr Vater die Anstellung bei der dänischen Handelsmission in London bekam und sie von dem Dorf in die Metropole übersiedelten. Später als Teenager war sie froh, der Enge der Landgemeinde entkommen zu sein. Sie blieb dann auch in England, als ihre Eltern wieder zurückgingen. Dennoch pflegte sie ihre dänischen Freundschaften und kümmerte sich regelmäßig um die Familie in Aalborg.

Vielleicht fahre ich zu den Feiertagen wieder einmal hin, überlegte sie, während sie auf der Great Chertesey Road über die Chiswick Bridge fuhr. Die Weite des Watts in Dänemark hatte im Winter ein außergewöhnliches Flair. Wie so oft spielte sie mit dem Gedanken, sich dort für ihren Ruhestand im Alter ein Haus zu kaufen, doch in Wahrheit empfand sie die dänische Provinz bei jedem Besuch als beengend und fuhr gerne wieder nach London zurück.

Es war ein turbulentes Jahr gewesen, das sich dem Ende zuneigte. Das Aufdecken der miesen Geschäfte des Rüstungstycoons Bronsteen und seines korrupten Umfeldes, bis hin zu dessen Verstrickung in die Anschläge auf das World Trade Center, hatte ihr großes berufliches Ansehen gebracht. Verglichen mit ihrem tragischen Verlust kam ihr das jedoch bedeutungslos vor. Sie würde den ganzen Erfolg, den neuen Job und die gesamte Anerkennung gegen einen einzigen weiteren Tag mit Niels eintauschen. Anfangs hatten sie nur beruflich miteinander zu tun gehabt, später unternahmen sie rasante Motorradtouren durch die englische Landidylle, auf denen Lena sich in den eigenwilligen Sturkopf verliebte, der ihr in vielem sehr ähnlich war. Schließlich – eine endlose Zeit später – funkte es auch bei ihm. Niels, der sonst gerne raubeinig tat, erwies sich als gefühlvolle Ergänzung. Nach einigen belanglosen, ernüchternden Beziehungen genoss sie diese Partnerschaft.

Zweieinhalb Wochen später musste er zu einer sehr riskanten Recherche, die ebenfalls mit Bronsteens Netzwerk zusammenhing, und kam nicht mehr zurück. Offiziell hieß es, er wäre Opfer eines Raubüberfalls im nächtlichen Rom geworden, doch Lena wusste genau, wer wirklich dahintersteckte. Sie hatte keine Chance gehabt, die Sache zu verhindern oder Niels irgendwie davor zu bewahren. Dessen ungeachtet machte sie sich Vorwürfe und das dumpfe Gefühl, versagt zu haben, blieb. Dagegen halfen weder die Aufdeckung von Bronsteens Machenschaften noch dessen späterer Tod.

Ich brauche etwas zu essen, fiel ihr ein, was die aufkommende Traurigkeit unterbrach. Sie lenkte ihren Mini auf einen freien Parkplatz in der Nähe der kleinen Pizzeria auf der Hauptstraße. Sie hatte keine Lust zu kochen und hier gab es riesige Family-Pizzen zum Mitnehmen für sechs Pfund. Bei so einer würde sie jetzt zuschlagen, die reichte fürs ganze Wochenende. Lena kramte nach Münzen in ihrer Jacke. Normalerweise fütterte sie die Parkuhr korrekt, weil die Strafen saftig waren, wenn man erwischt wurde. Nur jetzt fand sie absolut kein Kleingeld und würde auch in wenigen Minuten wieder zurück sein. Daher ging sie das Risiko ein und ließ das Auto, ohne zu bezahlen, stehen.

Während der Vietnamese, dem das Lokal gehörte, ihre Pizza machte, ging sie nebenan in das Lebensmittelgeschäft und holte Milch und Schokolade – jetzt war sie für das Wochenende gerüstet. Spontan fiel ihr ein, dass sie die Winterhosen aus der Reinigung holen sollte, bevor diese schloss. Sie schaute, ob eine Parkplatzkontrolle in der Nähe war, doch alles sah unverdächtig aus. Deshalb lief sie schnell zum Dry Clean und war rechtzeitig zurück, als die Pizza aus dem Holzofen kam. Geschafft – zehn Minuten und kein Parkticket!

Der Duft der frischen Pizza mit Schinken und Mozzarella war zu verlockend, daher knabberte sie bereits ein Stück vom knusprigen Rand, als sie den Mini vor ihrem Haus in der Queens Road ausrollen ließ.

Ich werde es mir zwei Tage lang gemütlich machen, dachte sie, fernsehen und den halben Sonntag verschlafen. Ihre Umhängtasche und die Pizzaschachtel in einer Hand balancierend, ging sie die Stufen zum Eingang hoch, suchte mit der anderen den Schlüssel in ihrer Jacke und sperrte auf. Am Boden im Vorraum lagen die Post und Berge von Werbeprospekten. Seit beinahe zehn Jahren wohnte Lena hier und genauso lange nahm sie sich vor, einen größeren Postkorb hinter dem Briefschlitz anzubringen. Sie schob den Papierstapel mit dem Fuß beiseite, ging in den Flur zur Kleiderablage und drehte im Vorbeigehen die Heizung größer.

Sie liebte ihr Haus in der ruhigen Vorstadt im Südwesten Londons. Der rotbraune Backsteinbau mit dem vorspringenden Erker, dem hellen Steinbogen rund um die Eingangstür und den weißen Holzfenstern, die mit Sprossen in lauter kleine Quadrate unterteilt waren, strahlte eine heimelige Atmosphäre aus. Eigentlich war es für sie alleine reichlich groß – unten befanden sich eine Wohnküche mit Ausgang in den Garten, das Bad und eine verglaste Veranda, die Lena auch als Arbeitsraum benutzte. In der oberen Etage waren Wohnzimmer, Schlafzimmer mit Balkon und Kinderzimmer, das mangels Nachwuchs als Garderobe und Bügelzimmer diente.

Lena hatte das Haus gleich bei der ersten Besichtigung gekauft, da sie vor dem Treffen mit dem Makler einen ausgedehnten Spaziergang in Twickenham unternommen und sich in den beinahe ländlich wirkenden Ort an der Themse sofort verliebt hatte. Einstweilen fiel ihr die Vorstellung schwer, anderswo zu leben. Sie kannte jeden Laden auf der zentralen Heath Road, mochte die Gespräche mit den Inhabern der Einkaufsläden und hatte ihre Lieblingslokale, wenn ihr einmal nach Zerstreuung war.

Was ihr überdies an der Lage gefiel, war die Nähe zur M3, der Schnellstraße, die sie in wenigen Minuten aus der Stadt hinausbrachte, zu den gewundenen Landstraßen Südenglands, wo sie bei schönem Wetter gerne mit ihrer schnellen Rennmaschine, einer knallroten Suzuki GSX, unterwegs war. Diese stand jetzt gut verpackt in einem Schuppen unten am Fluss und wartete auf das Ende des Winters.

Wenn es kalt war, duschte Lena gerne brennend heiß und nahm sich dann einen großen Pott starken englischen Tee. Das tat sie auch jetzt. Dann ging sie mit der Post hinauf ins Wohnzimmer, kuschelte sich mit der Pizzaschachtel in ihr Sofa und schaltete den Fernseher ein. Der lief ständig, wenn sie zu Hause war, meist nebenher ohne Ton, da Lena befürchtete, sonst wichtige Meldungen zu versäumen. Aber es gab ihr auch das Gefühl, nicht alleine zu sein.

»Ruth hat recht, nach den Reaktionen auf die Sendung wäre es gut, bald etwas nachzuschieben«, murmelte sie und streckte sich.

Lena war – nach Dusche, Tee und Pizza – auf dem Sofa eingeschlafen. Unterdessen war es zehn geworden und sie fühlte sich wieder voll Energie. Sie ging hinunter zu ihrem Schreibtisch in der Veranda. Sie arbeitete gerne nachts, da konnte sie sich am besten konzentrieren und kein Telefon störte. Also füllte sie Kaffee in ihre italienische Espressokanne und stellte diese auf die Herdplatte. Dann holte sie die hellgraue Mappe aus der Schreibtischschublade, die ihr Hawk im Sommer in Paris am Flughafen Charles de Gaulle in die Hand gedrückt hatte. Die beiden warteten dort, nach den Ereignissen um Bronsteen, die Lena dann in ihrer Reportage über die New Yorker Anschläge verarbeitete, auf ihre Anschlussmaschinen. Sie flog zurück nach London und Hawk wieder nach Washington.

»Ich wollte Ihnen etwas geben, was mich schon seit längerer Zeit beschäftigt«, hatte er gesagt und eine Bemerkung über mögliche Zusammenhänge zwischen dem Mossad und den Attentaten in der Londoner U-Bahn gemacht.

»Aber das waren doch arabische Terroristen«, antwortete Lena verwundert darauf, wobei Hawk da offenbar gegenteiliger Meinung war.

Sie kannte ihn, seit sie mit ihren Recherchen gegen die Lobbyisten der Rüstungsindustrie begonnen hatte. Schon damals brachten seine Unterlagen Lena auf die heiße Spur der korrupten Politiker. Und er war es auch gewesen, der später den entscheidenden Hinweis gegen Bronsteen entdeckte.

Hawk arbeitete lange Jahre für das Weiße Haus als historischer Berater und sammelte dort in aller Stille auch so manch geheime Information. Als er dann vor fünf Jahren seinen Ruhestand antrat, begann er Vorträge an Universitäten zu halten und sein Wissen für die politische Bildung von jungen Studenten einzusetzen.

Wenn er ihr etwas zuspielte, gab es dafür auf jeden Fall triftige Gründe. Allerdings war sie in den letzten Monaten so beschäftigt gewesen, dass sie keine Ruhe gefunden hatte, die Mappe durchzusehen. Aber nun, da sie nach einem neuen Thema suchte, war es an der Zeit zu erfahren, welchen Dingen Hawk diesmal auf der Spur war.

LONDON stand in großen Lettern auf dem Umschlag, drinnen gab es eine Reihe von Fotos aus dem Jahr 2005 von den Anschlägen in der U-Bahn, Bilder von den Überwachungskameras auf den Stationen und dann fand Lena Pressemeldungen aus verschiedenen Zeitungen.

Am Rand der Ausschnitte standen zum Teil Hawks Gedanken darüber, auf manchen Fotos klebten Textstellen und einiges war mit Rotstift angestrichen. Auf den ersten Blick nur eine Auflistung der Ereignisse, dachte Lena, als sie die Papiere durchging. Sie erinnerte sich deutlich an den Tag, sie war wegen einer Recherche außerhalb Londons unterwegs und hörte die Nachricht im Radio.

Sie blieb bei einer Meldung hängen, dass es keinen sicheren Beweis für die Herkunft der Attentäter gäbe, da alle Kontrollkameras bei den Zugängen zur Underground und an der Bushaltestelle an dem Tag ausgefallen waren. Eine Identifizierung sei daher nicht möglich. Hawk hatte eine Stelle markiert, in der behauptet wurde, einer der beschuldigten Männer wurde angeblich noch nach den Anschlägen woanders fotografiert.

Wenn einer der Täter es nicht gewesen war, ist das auch bei den anderen fraglich, überlegte Lena. Auch der Ausfall aller Kameras war seltsam. In der U-Bahn kann das schon mal geschehen, aber dass gleichzeitig auch die Überwachung der Busstation auf der Straße nicht funktioniert hatte, war ihr zu viel des Zufalls. Und im Haus roch es eigenartig …

»Der Kaffee!«, entfuhr es ihr. Sie sprang hoch und lief in die Küche, wo der Espresso überkochte. Mit einem Geschirrtuch zog sie die brodelnde Kanne von der Platte, goss den Inhalt weg und säuberte den Herd.

»Interessant«, murmelte sie eine halbe Stunde später, nachdem sie Hawks Notizen gelesen und auch die Kopien der Artikel durchgesehen hatte. Nicht alle waren von den Londoner Anschlägen. Lena wunderte sich zuerst, warum Hawk auch Aufnahmen und Zeitungsausschnitte von einem Bombenattentat im Jahr davor mit in die Mappe gelegt hatte. Die Täter kamen aus ganz verschiedenen Lagern, konnten demnach nichts miteinander zu tun haben. Beim näheren Betrachten der Ereignisse fielen ihr dann aber einige Übereinstimmungen ins Auge.

In der Moskauer Metro starben vierzig Menschen, als sich ein junger Tschetschene in einem Tunnel um halb neun Uhr morgens in die Luft sprengte. Wie in London war es ein vorderer Waggon, der durch die Wucht der Detonation schwer beschädigt wurde. Die Wagentüren in der restlichen Garnitur versagten, die Menschen konnten nicht aus dem Zug und Panik brach aus. Man brauchte Stunden, um die Fahrgäste zu der nächstgelegenen Station zu evakuieren.

Sonst gab es keine Gemeinsamkeiten. Der Anschlag war eindeutig ein Rachefeldzug, da Putin zuvor bei erzwungenen Wahlen in Tschetschenien seinen Kandidaten durchgesetzt hatte. Es gab Beschuldigungen, Bekenner und mehrere Verhaftungen, die eigentlichen Drahtzieher des Blutbades wurden dagegen nie ausgeforscht. Dennoch lieferten die Toten von Moskau den Russen einen neuerlichen Grund für die Unterdrückung der Tschetschenen.

Lena blätterte weiter. Ganz hinten in Hawks Mappe lag eine Klarsichthülle, auf der ein Zettel geklebt war. Auf dem stand:

1 250,47 ₽
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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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311 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9783868411317
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