Читать книгу: «Lena Halberg: Der Cellist», страница 4

Шрифт:

5

Die Straße über den Fernpass war am Morgen noch kaum befahren, nur gelegentlich behinderten LKWs, die sich mit schweren Containern die steile Straße bergan quälten, die freie Bahn. Die störten nicht lange, denn zwischen zwei Kurven genügte ein kurzes Drehen der rechten Hand am Gashebel und die knallrote Suzuki GSX-R750 mit Sportverschalung schoss vorbei. Lena war früh um sieben aufgebrochen und hatte die deutlich längere Route über Garmisch-Partenkirchen gewählt, um ihre geliebte Maschine wieder einmal so richtig zu spüren. Am besten ging das für sie auf solchen Bergstrecken, denn mit neunzig tief in eine scharfe Kehre einzutauchen und dahinter voll heraus zu beschleunigen, brachte ihr mehr Lustgewinn als mit zweihundertfünfzig über eine Rennstrecke zu rasen. Dass sie das zuweilen überzog, wie es ihr auf den langen schnurgeraden Straßen in England öfter passiert war, und daraufhin einen Bußgeldbescheid mit einem höheren dreistelligen Betrag bekam, nahm sie dafür in Kauf.

Nicht nur deshalb war sie froh, aus London weg zu sein. Ziemlich genau zwanzig Jahre hatte sie nach ihrem Studium nahe der Metropole gelebt und als Journalistin für heikle Recherchen eine solide Karriere hingelegt. Nur in letzter Zeit war sie zweimal bei Redaktionen gelandet, die selbst in verschiedene Dinge verstrickt waren. Dabei hatte Lena einen Freund verloren, mit dem sie eine kurze intensive Zeit verbrachte und der ihre Leidenschaft für schnelle Motorräder teilte. Und am Ende wurde es auch für sie selbst noch sehr gefährlich.

Nach Garmisch blieb sie durch die Dörfer noch auf der Bundesstraße bis zum Starnberger See und fuhr erst für das letzte Stück hinein nach München, auf die Autobahn. Sie schaffte die ganze Strecke von Meran in knapp drei Stunden und landete genau im dichten Vormittagsverkehr des Freitags.

Warum sollte es hier anders sein als in London, dachte sie und bekam doch wieder ein wenig Sehnsucht nach dem Leben in einer Großstadt. Trotzdem war sie zufrieden mit Südtirol und dem Job bei der RAI in Bozen. Sie war vom Redaktionsteam wirklich begeistert und das politische Magazin, das sie für den italienischen Sender betreute, gab ihr die lange vermisste Freiheit, über ihre Themen ohne große Konfrontationen selbst bestimmen zu können. Aber mit England war es sicher kein Abschied für immer. Ihr Haus in Twickenham, einem Londoner Vorort, hatte sie behalten und einer Freundin vermietet – falls sie irgendwann einmal das große Heimweh überfallen sollte oder es mit Tom vielleicht doch nicht …

Sofort verwarf sie den Gedanken mit einem energischen Kopfschütteln, ging vom Gas und bog in gemäßigtem Tempo in die Münchner Umfahrung ein, die dann weiter in den Ring führte. Hier war der Verkehr ziemlich zäh – jeder versuchte anscheinend noch alle Besorgungen vor dem Wochenende zu erledigen und Lena überkam wie so oft die Vermutung, dass viele Autofahrer einfach ihren Spaß am Stau fanden.

Genauso lange wie vom Starnberger See bis zur Stadtgrenze – geschlagene dreißig Minuten – brauchte sie dann auch für das Stück bis zur Abfahrt Zarndorf im Osten des Zentrums. Von dort waren es nur mehr zweihundert Meter bis zum Tower der Süddeutschen. Doch zu allem Überdruss war die Straße vor der Einfahrt zur Tiefgarage aufgerissen und die Umleitung führte zu dem großen Parkplatz vor der langen Halle der Druckerei. Entsprechend genervt stellte Lena die Maschine ab und ging zu Fuß durch den Gewerbepark zum Redaktionsgebäude im blauen Glasturm.

Julia hatte beim Empfang die nötige Besucherkarte hinterlegt, mit der Lena direkt in die Redaktionsräume durfte, und wartete bereits ungeduldig.

»Ich freue mich«, sagte die Deutsche fröhlich. »Nachdem es bald elf ist, mache ich jetzt einmal Pause und wir fahren gleich hinunter ins Restaurant.«

»Das ist wunderbar, denn etwas zu trinken und eine Toilette brauch ich unbedingt, immerhin bin ich von Meran aus durchgefahren.« Lena nahm den Rucksack vom Rücken, schlüpfte aus ihrer Motorradjacke und strich ihre kurzen blonden Haare zurück.

»Schick«, Julia zeigte auf Lenas farbige Haarsträhne.

»Bloß ein Versuch«, meinte Lena, dann schob sie ihre Sachen und den Helm unter einen Schreibtisch und drückte Julia herzlich zur Begrüßung. »So, wir können …«

Lena hielt sehr viel von der journalistischen Qualität ihrer Münchner Kollegin und deren Mitarbeit an dem Skandal mit den panamaischen Scheinfirmen kam ihr sehr gelegen. Die beiden kannten sich schon länger, aber bisher nur über Skype und Mail. Sie halfen sich gegenseitig mit Informationen – Lena hatte Julia einmal eine Story abgetreten, die einen deutschen Politiker betraf, über den einiges in England zu finden war, und Julia revanchierte sich dafür mit heißen Tipps, wenn sie auf eine englische Sauerei stieß.

»Na dann gehen wir! Unsere Luxus-Mensa gehört zu den besten Kantinen der Stadt, da kommen sogar viele aus der Umgebung essen, trotz der hohen Preise. Mit der Mitarbeiterkarte ist es aber erschwinglich.« Julia hakte sich bei Lena ein und zog sie zu den Fahrstühlen. »Schön, dass wir uns jetzt einmal persönlich treffen und ich die bekannte Fernsehredakteurin bei mir zu Gast habe.«

»Das Kompliment kann ich nur zurückgeben, denn du bist ja zur Zeit bei den großen Aufdeckern mit dabei«, sagte Lena schmunzelnd, »da bin ich schon sehr gespannt!«

Julia hatte Lena angeboten, bei ihr zu nächtigen, was genügend Gelegenheit für einen ausgiebigen Tratsch geben würde. Da Lena nicht Deutsch konnte, plauderten sie die meiste Zeit Italienisch, das beide sehr gut beherrschten, nur wenn andere dazukamen, sprachen sie Englisch.

»So, jetzt musst du sehr andächtig sein«, sagte Julia und grinste, als sie vor dem gesicherten Raum im Keller standen. »Hier dürfen nur wenige Auserwählte unserer Redaktion hinein. Du bist die Einzige, die für ein paar Stunden eine Sondererlaubnis hat, wofür eine ziemliche Überzeugungskraft nötig war.«

Inzwischen ging es auf den späten Nachmittag zu und die beiden hatten mehrere intensive Stunden verbracht. Sie waren – nach einem großen Teller Salat in der Kantine und Kaffee mit Kuchen auf der Terrasse – zurück in die Redaktion spaziert und die bekannten Details über den Selbstmord des Bankers nochmals durchgegangen. Julia schloss sich der Meinung an, dass es vermutlich ein raffiniert und perfekt ausgeführter Mord war.

Sie hatte die Daten schon nach bestimmten Kriterien durchsucht, denn vieles in den Files deutete auf eine Verwicklung der russischen Milliardäre in das Geflecht der illegalen Firmen hin. Die kompletten Unterlagen und die Dateien, die noch nicht zur Gänze gesichtet waren, lagen in dem extra dafür eingerichteten Raum im Tiefgeschoss. Hier stand ein Air Gap, so nannte man freistehende Rechner, die noch nie am Internet waren und auch kein WLAN besaßen. Damit wusste niemand, dass es sie gab und man konnte sie von außerhalb nicht orten.

Die Journalisten, die an der Veröffentlichung der Panama-Papers mitarbeiteten, benutzten diesen zentralen Datenraum als Hauptarchiv und um zu fischen, wie sie es nannten. Damit war gemeint, dass sie vor dem Terminal saßen, in das sie wahllos Namen von Firmen oder bekannten Persönlichkeiten eintippten und warteten, ob das Suchprogramm einen Eintrag dazu in den Files fand.

Julia kam als Fachfrau zu der Gruppe, da sie nicht nur Reporterin war, sondern davor Wirtschaft studiert hatte. Im Anschluss daran jobbte sie einige Jahre für eine Vermögensverwaltung und betreute die VIPs der Kanzlei. In der Welt der Winkelzüge hatte sie sogar eine Firmengruppe beraten, die jetzt in den Files auftauchte und durchblickte die Geschäfte, um die es in den Panama-Papers ging. Sie kümmerte sich um die technische Seite und betreute die Suchprogramme.

Lena war etwas enttäuscht, als die Tür zu dem Archivraum aufsprang. Sie hatte einen hoch technisierten Bereich wie in einem Science-Fiction-Film erwartet, wo überall Lichter blinkten. In Wahrheit war es nur ein schlichtes, weiß getünchtes Zimmer mit einem Schreibtisch in der Mitte unter dem ein einzelner Computer stand.

»Willkommen in der dunklen Welt der Briefkastenfirmen«, sagte Julia und schloss die Tür hinter sich. Sie bemerkte Lenas Blick. »Keine Angst, der sieht nur aus wie ein ganz normaler Rechner, in Wahrheit ist es eine sündhaft teure High-Tech-Maschine mit mehreren Festplatten und bis an den Rand voll mit Arbeitsspeicher. Der war auch nötig, die Datenmenge ist Wahnsinn – inzwischen haben wir hier die Unterlagen zu vielen hunderttausend Fällen!«

»Toll, dass ihr die Story als Einzige sofort aufgegriffen habt!«, meinte Lena anerkennend.

»Die meisten Redakteure von anderen Zeitungen waren nicht interessiert, darüber zu berichten.«

»Nicht interessiert oder …?« Lena machte die bezeichnende Geste des Geldzählens.

»Ich weiß, was du meinst: Dass sie auch bestochen sind. Daran will ich gar nicht denken, es wäre furchtbar, wenn sogar unsere prominenten Medien derart unterwandert wären. Also möchte ich lieber annehmen, sie konnten nur die Tragweite nicht abschätzen – dann schlafe ich bedeutend besser.«

Julia öffnete eine Übersicht mit einer Auflistung von Namen. Leute, wie ein prominenter Waffenhändler, der seine tödliche Fracht an Kriegsländer verhökert hatte, Bosse von berüchtigten Drogenkartellen, enge Verwandte von Diktatoren, Frauen von Regierungschefs, Mitglieder von Königsfamilien und jede Menge europäischer Adeliger.

Alleine beim Durchscrollen der Übersicht schwindelte es Lena. »So viele Namen«, sagte sie überwältigt von der Anzahl, »könnt ihr die Storys überhaupt alle bringen?«

»Sicher nicht«, Julia schüttelte den Kopf, »wir konzentrieren uns in der Berichterstattung hauptsächlich auf Personen, die von öffentlichem Interesse sind, oder auf größere Zusammenhänge. Da hast du übrigens die Ordner mit den russischen Kanälen. Die habe ich vorher schon herausgesucht für dich …«

Sie nahm die Computermaus und klickte auf einen Icon mit einer langen Nummer darunter. »Also viel Spaß, ich muss jetzt wieder rauf. Wenn du was brauchst, ruf mich an.«

Lena nickte.

»Du darfst aber nur schauen«, sagte Julia noch, »keine Fotos und keine Kopien oder so. Sonst zerreißen mich meine Kollegen in der Luft und ich bekomme nie wieder eine Ausnahme für dich! Versprochen?«

»Ja, natürlich.« Lena sah kurz auf, war aber mit ihren Gedanken schon bei den Files am Computer. »Du kannst dich hundertprozentig auf mich verlassen!«

Drei Stunden später war sie vollkommen in den Unterlagen versunken und wühlte sich durch das Geflecht an Ordnern.

Wie die Berichte über den in Wien tot aufgefundenen Banker erwähnt hatten, betrafen mehrere Aktivitäten auch die Bank, für die er als Direktor tätig gewesen war – die Art Union Bank mit Sitz in Tallinn, der Hauptstadt Estlands. Er betreute Offshore-Firmen für sehr vermögende Kunden, die jedoch im Verborgenen blieben. Konten wurden eröffnet, von dort Überweisungen zu anderen Unternehmen gemacht, von wo das Geld dann an weitere Firmen ging, die es über mehrere Stellen wieder an den Ersten zurückzahlten. Millionenbeträge wurden zwischen unzähligen Gesellschaften hin und her geschoben, bis niemand mehr durchblickte. Es war ziemlich schwierig, die einzelnen Fäden zu entwirren und jede Nachverfolgung wurde damit beinahe unmöglich.

Lena versuchte, sich die Dinge so gut es ging einzuprägen, bis schließlich Julia klopfte und sie zum Abendessen abholte.

»Steuerparadiese gibt es praktisch überall, da ist Panama nur eine von vielen Adressen«, sagte Julia.

Sie hatte Lena ins Guru eingeladen. Das indische Lokal lag nur wenige Straßen von ihrem Apartment entfernt und war Julias Lieblingsrestaurant. Sie liebte das hier zubereitete Curryhuhn mit Safranreis und Lena nahm das Ragout mit scharfer Mandel-Rahm-Sauce. Dazu tranken sie beide ein Glas Mango-Lassi. »Sehr beliebt sind auch die Bahamas oder Hongkong. Sogar in den USA schützen verschiedene Bundesstaaten ihre Kunden mit speziellen Gesetzen. Damit sind das ordentliche Unternehmen. Bleibt nur die Frage, was jemand damit macht.«

»Oder was die Bank mit ihrem Direktor macht, der nicht nach der richtigen Pfeife tanzt«, spielte Lena auf den toten Banker in Wien an. »Und wie komme ich zu so einer Firma? Gehe ich da einfach mit dem berühmten Geldkoffer hin, wie in alten Gangsterfilmen?«

»Nicht ganz …« Julia schmunzelte über die Vorstellung. »Im Prinzip ist es immer das gleiche Spiel. Ich gebe dir ein Beispiel: Ein Deutscher, der Geld hat, wendet sich an einen einschlägigen Steuerberater und der eröffnet für ihn eine Briefkastenfirma in Panama, wo die Gesetze diesbezüglich locker sind – steuerneutrale Umgebung bezeichnet man das im Fachjargon. Die Scheinfirma gehört auf dem Papier natürlich einem Strohmann …«

»Natürlich«, wiederholte Lena.

»Diese Firma eröffnet ganz legal ein Konto bei einer Schweizer Bank, darüber laufen dann die Geschäfte – fertig.«

»Aber was ist, wenn es bei den Steuerbehörden einen Verdacht gegen den Deutschen gibt und die eine Anfrage an die Bank stellen?«

»Dann bekommen sie aus der Schweiz keine Auskunft, da die Firma offiziell dem Strohman aus Panama gehört. Solange der Deutsche anonym bleibt, gilt das Bankgeheimnis und es gibt keine Chance für die deutschen Behörden, die Angelegenheit zu verfolgen.«

Lena wunderte sich. »Klingt sensationell einfach …«

»Ist es im Grunde genommen auch. Es gibt natürlich auch komplexere Konstruktionen, wo oft mehrere Firmen verzahnt sind, damit es vollkommen undurchsichtig wird.«

»Danke, aber mir genügt die einfache Variante. Wenn ich Steuerfahnder wäre, könnten die mir alles erzählen, denn ich blicke bei solchen Verschachtelungen einfach nie durch.« Sie grinste und verdrehte die Augen. »Daran, mir das verständlich zu machen, ist Tom bereits gescheitert. Das regt ihn dann meistens ziemlich auf und er bekommt so einen eigenen Blick …«

Julia musste lachen.

»Mich interessiert«, setzte Lena wieder ernst hinzu, »warum jemand das unheimliche Risiko eingeht, entdeckt zu werden. Bei solchen, die strafbare Geschäfte verstecken, kann ich das nachvollziehen, aber welches Motiv haben Menschen, die ihre Millionen legal verdienen? Wie man an eurer Berichterstattung sehen kann, kommen die Sachen ja immer irgendwann ans Tageslicht. Was treibt die also an?«

»Wahrscheinlich nur Gier.«

»Aber wonach, wenn ich sowieso alles haben kann? Macht es denn einen Unterschied, ob ich eine Milliarde habe – was immerhin tausend Millionen sind – oder zwei? Bei mir klinkt es da aus, ich kann mir derartige Summen nicht einmal mehr vorstellen.«

»Es gibt eben eine Parallelwelt der Geldelite, die mit unserer Realität nichts mehr zu tun hat. Die oben können inzwischen machen, was sie wollen. Und sie tun es aus Machtstreben, aus Geltungssucht oder einer ständigen Angst, den Hals nicht voll genug zu bekommen …«

»Um zehn Villen zu haben? Bescheuert – man kann ja doch nur eine bewohnen!«

»Apropos«, hakte Julia ein, »wie geht es eurer Villa?«

»Villa ist gut …« Lena atmete durch, lehnte sich amüsiert zurück und nahm einen Schluck vom süßen Mango-Lassi. »Ein altes Steinhaus, in dem wir derzeit nur die Küche und ein Zimmer benutzen können, mit einer feuchten Mauer, die wir erst trockenlegen müssen.«

»Aber es funktioniert und ihr seid glücklich?« Julias letzter Informationsstand war die Übersiedlung nach Südtirol gewesen.

Lena nickte. »Sehr!«

»Und der Job?«

»Die RAI ist ein angenehmer Sender. Mein Chefredakteur mag die Themen, die ich aufgreife, mein Einstandsbericht über die Hintergründe zu den Londoner Anschlägen war ein Erfolg und ich bin wirklich froh, ein geruhsames Magazin zu machen.«

»Geruhsam wäre neu bei dir«, sagte Julia grinsend.

»Na, zumindest ohne den Stress, dass mir irgendwelche seltsamen Typen nach dem Leben trachten oder ich in einem Gefängnis lande.«

»Vermisst du London?«

»Nein, fast gar nicht. Ich vermisse manchmal die Bequemlichkeit der Großstadt, mir eine Pizza an der Ecke zu holen, wenn ich keine Lust auf Kochen habe oder am Abend schnell in eine Bar auf einen Drink zu gehen, ohne es vorher groß zu planen. Aber sonst finde ich das Leben im Grünen recht erstrebenswert.«

»Tom auch?«

»Ach der! Der fühlt sich überall zu Hause, wo seine Bücher sind und zieht sich in seinen Turm zurück – das Haus hat nämlich einen kleinen Aufbau, in dem er jetzt sein Arbeitszimmer hat. Dort schreibt er, raucht seine Pfeife und vergisst die Welt!«

»Klingt toll …«

»Na ja«, Lena schüttelte etwas unwillig den Kopf, »aber wie kann man sich so abschotten? Meistens hört er nicht einmal die Nachrichten – da ist es leicht, immer gut aufgelegt sein!«

Julia musste über die Bemerkung auflachen. »Hast du nicht gerade etwas von geruhsam gesagt?«

»Ja, aber nicht so. Das regt mich dann eben doch auf …«, schmollte Lena und leerte ihr Glas.

6

Am Vormittag nach dem Treffen im Parador und ihrem Versuch mit Almeda alleine zu sprechen, der gründlich missglückt war, rief Ivy im Büro der Minengesellschaft an. Aber zuerst hieß es, sie möge es gegen Mittag nochmals versuchen, dann war er bei Tisch und zu guter Letzt erhielt sie von seiner Sekretärin die lapidare Auskunft, er käme nachmittags nie ins Amt und am besten wäre es, Montag wieder anzurufen.

»Shit!«, schnaubte Ivy und warf ihr Handy aufs Bett.

Sichtlich ließ sich Almeda verleugnen, um einem Gespräch mit ihr auszuweichen. Das bedeutete eine sehr unangenehme Situation, denn Kurkov wartete auf eine Nachricht und nun war es hier drei Uhr nachmittags und in der Schweiz durch die Zeitdifferenz bereits später Abend. Sie konnte es nicht mehr länger hinauszögern und musste ihn jetzt anrufen.

*

Die Sonate für Cello und Klavier in d-Moll von Schostakowitsch mit ihren klangvollen Akzenten, den nachdenklichen Passagen und dem feurig kraftvollen Finale war ein Standardwerk der Celloliteratur der russischen Moderne und Kurkovs erklärtes Lieblingsstück.

Niemand, dachte er, bewältigt den Wechsel zwischen dem elegisch gestrichenen Legato und dem harten Pizzicato so geschmeidig wie Andrej Majinski. Der russische Cellist lief in seiner Interpretation wieder einmal zur Höchstform auf.

Für Martin Kurkov war dies aber nicht bloß Genuss, sondern ein wichtiger Teil seiner persönlichen Imagepflege als Kunstmäzen. Er saß seitlich – in unmittelbarer Nähe des Podiums – vor einer der breiten Fensterflächen, durch die man auf den abendlichen See hinaussah, und lauschte mit hingebungsvoller Miene den Klängen. Jeder sollte sehen, dass er ein Kenner klassischer Kompositionen war. Schon der Name seiner Bank, die er von der Schweiz aus leitete, spiegelte dies in ihrem Namen wider: Art Union Bank. Damit wollte er die Verbindung von Kunst und Geld, von geistiger Erbauung und materieller Dominanz betonen – beides Pfeiler seiner Weltanschauung. So investierte er, neben seinem Engagement für Musik, auch mit Vorliebe in Werke der bildenden Kunst und wusste deren Wertsteigerung sehr zu schätzen. Waren die Künstler jung und unbedeutend, erwarb man ihre Bilder für ein Butterbrot, lagerte sie einige Jahre ein und ließ sie dann um ein Hundertfaches bei Christie’s in London versteigern. Künstler, die den erwarteten Marktwert nicht erreichten, blieben hingegen im Depot, wobei es vorkommen konnte, dass dort ein verheerendes Feuer ausbrach. In einem solchen Fall erstattete die entsprechend hohe Versicherung zumindest einen Teil des unwiederbringlichen Verlustes.

Hinter halb geschlossenen Augen beobachtete Kurkov seine Gäste in dem Konzertsaal des Splendid Royal in Lugano. Sein Büro befand sich nur wenige Straßen entfernt in der Nähe des Casinos und er mietete den intimen Raum des Luxushotels gelegentlich für auserwählte Klienten seiner Bank, um sie zu beeindrucken. Von dem reichen Banker hierzu eingeladen zu werden, galt in Kreisen des Geldadels als besondere Auszeichnung, denn oft ergaben sich bei solchen Gelegenheiten sehr profitable Kontakte. Vor allem, die Presse hatte keinen Zutritt, man blieb unter sich.

Abende mit Andrej waren besondere Leckerbissen. Der Cellist, unterwegs zu einem Gastspiel nach Amerika, machte exklusiv für Kurkov und seine betuchten Kunden heute Station in Lugano. Der Banker war seit langem ein Förderer des beliebten Künstlers. Er hatte ihn als jungen Musiker in Tallinn gehört und war von der Hingabe im Spiel auf der Stelle fasziniert. Er lud Andrej zu sich ein und begann regelmäßig Konzerte für ihn anzusetzen. Estland war damals noch Teil der Sowjetunion und Kurkov arbeitete, lange Zeit vor seinem Aufstieg, als Kulturbeauftragter der Partei in der Stadtverwaltung.

Später erkannte er dann die Möglichkeiten, die in einer derartigen Verbindung für ihn steckten. So entspann sich eine fruchtbare Zusammenarbeit, an der beide ihren Nutzen hatten, denn mit Kurkovs finanziellem Aufstieg wurde auch Andrej sehr bald zum Star. Als sich der Banker dann vor vier Jahren ganz in die Schweiz zurückzog – nach dem russischen Engagement auf der Krim, war er vorsichtig geworden –, übersiedelte auch Andrej und kaufte sich ein Apartment in Paris.

Nach der Darbietung standen die Besucher zwanglos in kleinen Gruppen beim Buffet, versuchten mit Kurkov ins Gespräch zu kommen und nickten anerkennend in Majinskis Richtung.

Der lehnte mit einem Brötchen und einem Glas Champagner etwas abseits der Menge. Er war mit dem Abend unzufrieden. Der Pianist, mit dem er sicherlich nie wieder spielen würde, hatte kein Gefühl für die stillen Passagen der Komposition und hackte das Stück ziemlich derb herunter. Keinem der Zuhörer war das aufgefallen, nicht einmal Kurkov selbst, der vorgab einiges davon zu verstehen, schien es bemerkt zu haben.

Wenn man nur damit beschäftigt ist zu beeindrucken, dachte Andrej bitter, verkommt die Kunst zum Event und verliert jegliche Bedeutung.

Er liebte die Werke der russischen Musikliteratur. Rachmaninow, Tschaikowsky, Prokofjew – das waren Komponisten, in die er sich gerne hineinfallen ließ. Über allen stand natürlich Schostakowitsch, den er als Genie empfand. Dessen noch immer unterschätzte d-Moll-Sonate war das bestimmende Werk in Andrejs Karriere und Leben. Er nahm es schon für die Abschlussprüfung an der Musikakademie in Tallinn, spielte es regelmäßig bei seinen Konzerten und entdeckte immer neue Fassetten der Partitur.

Trotzdem verdross ihn das Stück, wenn er sich Kurkovs Wunsch beugen musste, es nur für die eitle Geldgesellschaft zu spielen. In solchen Momenten haderte er mit seiner Nähe zu dem Banker, die ihn zwar bekannt, aber auch abhängig gemacht hatte.

Der stand mit seiner aktuellen Geliebten – meist junge blonde Damen, von denen er sich einige Zeit anbeten ließ, bevor er ihrer überdrüssig wurde – in einer Gruppe von Industriellen der Stahlindustrie, als sein Mobiltelefon läutete. Ungehalten über die Belästigung blickte er auf das Display: Schillman ruft an leuchtete auf. Es gab demnach endlich Nachricht aus Bolivien. Kurkov ging hinaus auf die Terrasse und meldete sich.

»Ich habe Ihren Anruf bereits vor Stunden erwartet«, fuhr er sie anstelle einer Begrüßung an. »Jetzt bin ich bei einem Konzert.«

»Sorry!«, kam es von der anderen Seite. »Es war nicht meine Absicht, Sie zu stören.«

»Was ist? Haben wir die Zusage für den Vertrag?«, fragte er ungeduldig.

»Es braucht noch Zeit.«

»Soll heißen …?«

»Ich muss auf einen Termin mit Almeda warten, um die Sache in aller Ruhe anzusprechen«, antwortete Ivy ausweichend. »Er war nur heute den ganzen Tag nicht erreichbar, darum melde ich mich auch erst jetzt.«

»Sie waren doch gestern bei dem Meeting?«

Ivy wand sich. »Schon, aber es hat sich dort keine passende Gelegenheit ergeben.«

»Genau dafür bezahle ich Ihre Honorare, um diese Gelegenheiten zu finden!«, sagte Kurkov überheblich.

»Das ist mir bewusst. Das Gespräch mit Almeda lief leider in die falsche Richtung, die Stimmung war nicht geeignet, ihm die Einzelheiten zu erklären …«

»Was reden Sie denn da?«

Sie gab sich einen Ruck. »Er hat abgelehnt und wollte nichts davon wissen. Er hat mich einfach stehen gelassen.«

Kurkov warf sich in einen der leeren Gartenstühle, die auf der Terrasse des Hotels standen. Seine Laune war schlagartig am Nullpunkt angelangt.

»Deshalb versuche ich«, kam es von Ivy nach einer Pause verunsichert, »ein gesondertes Treffen zu bekommen, um ihm klarzumachen, worum es geht.«

Kurkov atmete durch. »Das werden Sie nicht tun. Hat er Sie einmal abgewiesen, wird er das wieder tun. Ich kenne solche eitlen, selbstherrlichen Typen«, sagte er giftig und sein Tonfall klang verachtend, »die glauben, sie können sich aufspielen, weil sie auf einem Staatsposten sitzen.«

»Was soll ich dann …?«

»Sie kommen gefälligst her!«

Ivy passte es gar nicht, dass Kurkov sie von dem Auftrag abzog und für eine weitere Demütigung – etwas anderes erwartete sie nicht – in die Schweiz befahl. Sie wagte aber keinen Protest. Er hätte ihn auch nicht mehr gehört, denn die Leitung war unterbrochen.

Der Banker kochte. Er stemmte sich aus dem Sessel hoch und eilte zurück in den Konzertsaal. Im Vorbeigehen winkte er seinem Bodyguard Boris, der wie immer breitbeinig in einer Ecke stand und von dort aus die Gesellschaft beobachtete.

Boris ging sofort hinter Kurkov her, der den angrenzenden Servicebereich ansteuerte. Hier standen die Tabletts der Kellner mit den Kaviarbrötchen, die Getränke und die Kisten mit dem Champagner. Mit einer Handbewegung scheuchte er das Personal aus dem Raum und schloss die Tür.

Kurkov setzte sich auf einen der Tische, zog eine Servierplatte mit Aperitifs zu sich, die für das Dinner vorbereitet waren, und stürzte einen Martini Dry hinunter. Die Olive aus dem Glas warf er aufgebracht auf das Tablett zurück.

»Unglaublich«, brauste er auf, »was sich dieser unverschämte Provinzler erlaubt! Glaubt der, ich lasse mich vorführen oder mache das alles zum Spaß?«

Boris, der auch als Sicherheitschef agierte und jede Sonderaufgabe erledigte, wartete mit unbeweglichem Gesicht daneben. Er kannte derartige Ausbrüche seines Chefs, die für ihn meist bedeuteten, ganz spezielle Aufträge zu erfüllen. Sein Job war es dann, Leute gefügig zu machen, Geschäftspartner, die nicht spurten, auf die Reihe zu bringen oder sich um andere Drecksarbeiten zu kümmern.

»Sieh nach, wann die nächste Maschine nach Sucre geht«, befahl Kurkov. Als er den Blick von Boris sah, ergänzte er: »In Bolivien, die Flüge gehen über Santa Cruz.«

Boris holte sein Handy heraus und sah im Internet nach. »Montag mittags über Madrid«, meinte er bedächtig nach einer kurzen Suche.

»Dann buche für die Maschine.«

»Aber ich soll doch eine neue Lieferung übernehmen.«

»Da fährst du dann anschließend hin, zuerst müssen wir uns um diesen Politiker kümmern, das hat jetzt Vorrang. Genaueres sage ich dir morgen im Büro.«

»Okay!« Es war das Einzige, das Boris darauf antwortete. Um welche Art von Erledigung es sich handelte, war ihm ohnehin klar.

Kurkov stand auf und nahm sich noch einen zweiten Drink vom Tisch. Langsam beruhigte er sich. »Und nimm Nico mit, der spricht Spanisch, wer weiß ob euch in dem verfluchten Land sonst jemand versteht.«

Als Kurkov draußen war, buchte er die Flüge und ging dann, um nach Nico zu sehen. Dass er den jungen Italiener mitnehmen musste, gefiel ihm weniger – er arbeitete lieber allein. Nico bildete sich immer ein, etwas Besseres zu sein, nur weil er drei Sprachen beherrschte, und er redete viel. Aber wenn es sein Boss so wollte, dann akzeptierte Boris das. Seit ihn Kurkov mit in die Schweiz genommen hatte, war er diesem treu ergeben und als ehemaliger Troubleshooter des KGB erledigte er alle ihm übertragenen Jobs, ohne darüber großartig nachzudenken.

Бесплатный фрагмент закончился.

1 250,47 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
322 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783868412277
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают