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DAS TREFFEN

Wie ein fliehender Vogel

1.

Im Laufe des Nachmittags war der steife Wind etwas abgeflaut, und Michail war klar geworden, dass er das, was er vorhatte, bald ausführen musste, in den nächsten Stunden schon. Auf jeden Fall vor Mitternacht.

Obwohl das Schiff wegen des schlechten Wetters in Landnähe vor Anker lag, waren die Wellen noch hoch. Es waren kurze Wellen mit weißen Kronen, und wenn sie gegen die rostige Schiffsseite schlugen, klang es laut und durchdringend. Michail beugte sich über die Reling, blickte hinunter auf das Wasser und horchte. Er mochte die scharfen Laute nicht, er konnte sie nicht richtig wiedererkennen, und genau das schien ihm ein wenig Unheil verkündend. Vieles von dem, auf das er sich jetzt einlassen würde, war unbekannt, die Wellen jedoch sollten ihm nicht fremd sein.

Das Meer war dunkelgrau, ein leichter Nebel lag über den Inseln und Schären, die Schiffsseiten waren braungefleckt durch Rost und darauf gekleisterte Farbe, das Wasser vom Deck war von vorn nach achtern gelaufen und bildete ein Muster von verschwommenen Linien gegen eine Hintergrundfarbe, die einmal hellgrau gewesen war.

Das ganze Schiff war hässlich, heruntergekommen, wenn es einer skandinavischen Reederei gehört hätte, wäre es vermutlich ausgemustert und verschrottet worden. Die Maschine war schlecht, viel zu schwach für die Ostsee. Eigentlich war sie ein Binnenschiff, die Volgobalt Nr. 143, gebaut 1952 in Leningrad, der Geburtsstadt Michails.

Ihm war klar, dass er diese Stadt wahrscheinlich lange nicht wiedersehen würde. Aber er hatte seinen Entschluss gefasst, er wartete auf die Dunkelheit und auf die Stunde, wo er allein an Deck sein würde. Er hatte Wache zwischen acht und zwölf Uhr, er arbeitete als Matrose.

Er war angespannt, nicht direkt ängstlich, aber sehr konzentriert. Er blieb noch eine Weile dort stehen, an die Reling gelehnt, er versuchte zu spucken, aber sein Mund war zu trocken. Er räusperte sich ein paar Mal, es gelang ihm, genügend Spucke zu sammeln, um ein wenig Schleim herauszubekommen. Er folgte dem weißen Klumpen mit den Blicken, sah, wie er sich im Wind auflöste, ehe er das Wasser erreichte.

Aber die Wellen waren vermutlich nicht das größte Problem. Die Kälte könnte schlimmer sein, die niedrige Wassertemperatur. Man befand sich in der zweiten Oktoberwoche, das Schiff lag vor der schwedischen Küste, im Åländischen Meer, zweihundert Meter vom Land entfernt, zwischen Fogdö und Singö.

Die Volgobalt Nr. 143 war mit Holz für die Herstellung von Zellstoff auf dem Weg nach Norden gewesen. Die Besatzung hatte diese Reise schon oft gemacht, von Ladoga aus zu einer der Papierfabriken an der schwedischen Norrlandküste. Dieses Mal hatten sie schon im Finnischen Meerbusen starken Gegenwind bekommen, aber da es Nordwind gewesen war, waren sie vorangekommen und in Landnähe auf der finnischen Seite gefahren. Als sie hinaus auf das Åländische Meer gelangten, wurde es schlimmer. Dort hatte der Wind an Stärke zugenommen und war auf West gedreht, als sie den Understen-Leuchtturm sahen, hatte er Sturmstärke erreicht. Das war für die Volgobalt Nr. 143 zu viel gewesen. Der Bordfunker war vom Kapitän angewiesen worden, von der schwedischen Küstenwache die Erlaubnis einzuholen, im Windschutz in Landnähe vor Anker gehen zu dürfen.

Es war ihnen ein Platz angewiesen worden. Sie waren sicher, dass sie von der schwedischen Radarüberwachung beobachtet wurden, vielleicht auch von einer Wachmannschaft an Land.

Daran hatte Michail schon gedacht. Er nahm jedoch an, dass der Radar ihn nicht entdecken könne, da er hinter den Wellenkämmen verborgen sein müsste. Und wenn er dann erst an Land gelangt war, würde er den Wachen schon entgehen können. Kein vernünftiger Mensch versuchte, in dem kalten Wasser an Land zu schwimmen, bei dem Wellengang, so spät am Abend. Die Wachen, sofern es welche gab, erwarteten keinen schwimmenden Menschen, ihre Wachsamkeit war sicher nicht besonders groß.

Er argumentierte auf diese Weise mit sich selbst, ging die Risiken noch einmal durch. Ihm war bewusst, dass er seinen Plan auf Vermutungen aufgebaut hatte, er kannte die Küste kaum, zu der er bald auf dem Weg sein würde. Aber das waren nun einmal die Voraussetzungen: unangemeldet anzukommen, unter großen Strapazen, um der Glaubwürdigkeit willen.

Es war halb fünf, er hatte Kaffee getrunken, ein Stück trockenes Brot gegessen. Um acht sollte er seine Spätwache antreten. Die erste Stunde hatte er unter Deck zu arbeiten, ihm war aufgetragen worden, Öl mit einer Handpumpe aus einem feststehenden Tank in einen Bottich zu pumpen, aber ab neun Uhr sollte er sich oben an Deck aufhalten und Ausschau halten, der Kapitän hatte es so haben wollen.

Zwischen neun und zehn sollte es also geschehen. Jetzt konnte er nur warten, die Wellen und den Wind beobachten, lauschen, sich vor der Besatzung wie immer verhalten, die alte Ausgabe einer Zeitung lesen, versuchen sich ein wenig auszuruhen.

Es war kurz nach sieben, als er die Regentropfen an den Scheiben der Achtermesse bemerkte.

Es war ein leichter Regen, trotzdem prasselten die Tropfen gegen die Fenster, denn es war recht windig. Zuerst konnte er nicht einschätzen, ob der Regen gut für ihn war.

Vielleicht gehen die Wachen nicht nach draußen, dachte er dann, falls es überhaupt Wachen gibt. Und es wird schwieriger für sie, mich zu sehen, wenn es welche gibt und wenn sie hinausgehen. Vielleicht ließen sie bei diesem Wetter noch nicht einmal die Hunde nach draußen. Er entschied sich dafür, dass er den Regen auf seiner Seite hatte.

2.

Das Schiff lag mit dem Steven zum Land hin, die Ankerkette war fest gespannt. Nachdem die Volgobalt Nr. 143 vor Anker gegangen war, hatte sie in der ersten halben Stunde ziemlich geschaukelt, da der Anker nicht richtig Halt gefunden hatte, denn der Boden bestand laut Seekarte aus Lehm und Sand. Michail hatte die Bewegungen des Schiffes bemerkt. Er wusste, dass das geringfügige Abtreiben eine längere Schwimmstrecke für ihn bedeutete. Er hatte zwei Leuchten an Land gesehen, von Häusern oder vielleicht von einer Brückenbeleuchtung, er war nicht ganz sicher. Er beobachtete die Lichter und den Winkel zwischen ihnen und dem Schiff, sah die Bewegung vom Land weg, dachte, dass der Abstand bald zu groß sein würde.

Dann jedoch hatte der Anker Grund gefunden, die Landlichter blieben in ihrer Stellung, die Volgobalt lag mit ihrem dunklen Schiffskörper fest in Windrichtung, während sich das Abenddunkel über das Åländische Meer legte.

Michail befand sich allein an Deck. Er legte die blaue wattierte Winterjacke ab, ließ sie an der Steuerbordseite außen hinunterfallen, der Wind ergriff sie, er konnte die flatternden Ärmel noch erkennen, ehe die Dunkelheit und die Wellen die Jacke verschluckten. Die Wollmütze und der Pullover folgten nach.

Jetzt war er noch mit einem blau karierten Baumwollhemd bekleidet, mit grauen Arbeitshosen und dünnen Lederschuhen.

Dann stieg er über die Reling, hielt sich mit einer Hand fest, hockte sich hin, um den Abstand zum Wasser zu verringern, es waren vielleicht vier Meter. Er ließ los, streckte die Beine.

Die Kälte des Wassers umfing ihn unmittelbar: der Griff um den Brustkorb, um den Magen, der Schmerz an den Wangen, eine kurze Verzweiflung, schnelle Armbewegungen nach oben, das rostbraune Schiffsblech direkt vor dem Gesicht. Er stieß sich ab, gewann etwas Platz, begann, am Steven vorbei zu schwimmen, gegen die Wellen, hin zum Land.

Er konnte jedoch den Strand nicht sehen. Das war allerdings keine Überraschung, er hatte mit schlechter Sicht gerechnet. Trotzdem war das Gefühl des Ausgestoßenseins mächtig, die Wellen waren stärker, als er sich hatte vorstellen können, der Widerstand, der Wind, das kalte Wasser, das über seinem Gesicht zusammenschlug.

Er war jetzt an der Ankerkette vorbeigeschwommen, und er blickte nicht zurück. Wenn ihn jemand beobachtet hätte, dann hätte er jetzt Stimmen und Kommandorufe hören müssen, ein Scheinwerfer wäre angemacht worden. Er konnte die Topplaternen des Schiffes erkennen, man hätte ihn jedoch nicht länger sehen können, im Fall, dass man etwas bemerkt hätte. Er war im Dunkeln verborgen. In dem einsamen, lähmenden Wasserdunkel, in der furchtbaren kalten Nacht, auf dem Weg hin zu einem Strand, den er nicht sehen konnte, weg von dem Schiff, das er verlassen hatte.

Er versuchte mit langen, ruhigen Zügen zu schwimmen, rhythmisch zu atmen. Die Wellen kamen ihm jedoch entgegen, sie schlugen über ihm zusammen, und das eiskalte, peitschende Wasser klatschte ihm die ganze Zeit über gegen das Gesicht. Seine Wangen waren taub von der Kälte, er merkte, wie sich sein Hals zusammenzog, er befürchtete, dass er einen Krampf bekam.

Dann versuchte er sich mit gesenktem Kopf auszustrecken. Er atmete ein, schwamm mit kräftigem Beinschlag, lag ein paar Sekunden gestreckt da, atmete unter Wasser aus, ließ die Wellen über dem Nacken zusammenschlagen, hob schnell den Kopf und holte wieder Luft.

Er wandte sich nicht um. Er sah nach vorne, versuchte, das Land zu erkennen.

Er glaubte etwas Neues zu vernehmen, ein anderes Geräusch als das Klatschen der Wellen gegen seinen Kopf. Ein zischendes abgelegenes Geräusch von Brandung. Dieses neue Geräusch verschwand jedoch wieder.

Er drehte sich um, versuchte, eine Weile auf dem Rücken zu schwimmen.

Das neue Geräusch war wieder da. Jetzt war er sich ganz sicher, es klang wie ein Wasserfall, Gischt, Wirbel, Wellenschlagen gegen Land. Ja, das mussten die Wellen sein, die auf den Strand schlugen.

Aber er war zu eifrig geworden. Er hatte den Hals ausgestreckt, um sehen zu können, und eine große Welle über den Kopf bekommen, er hatte Wasser geschluckt, hatte zu husten angefangen, den Rhythmus verloren und war zurückgetrieben worden.

Dieser Fehler hatte Kräfte gekostet. Er vermochte nicht mehr länger ausgestreckt zu liegen und unter Wasser auszuatmen, er brauchte mehr Luft, streckte wieder den Hals nach oben und bekam erneut eiskalte Wellen gegen Kopf und Gesicht.

Er sank zurück unter die Wasseroberfläche, aber der brennende Druck auf der Brust, die Angst, die vom Luftmangel herrührte, zwangen ihn wieder nach oben. Er schlug mit den Armen aus, in einem verzweifelten Versuch, an Höhe zu gewinnen, nach oben zu kommen und Luft zu bekommen, die Lunge zu füllen. Aber er bekam hauptsächlich Schaum und Wasser ins Gesicht. Wieder versank er, noch einmal zwang er sich, nach oben zu kommen, atmete mit einem Ruck ein, versuchte, zu dem langsamen Schwimmen zurückzukehren.

Jetzt jedoch begannen seine Kräfte abzunehmen. Er konnte nur noch ein paar Schwimmzüge machen, ehe er wieder versank, hinuntergepresst von den Wellen.

Ihm wurde schwindlig, er sah nur noch eine von Blitzen durchzuckte Dunkelheit, lag nicht länger ausgestreckt im Wasser, die Beine sanken ab, die Arme waren ausgestreckt, aber er vermochte seinen Körper nicht mehr in eine liegende Stellung zu bringen.

Michail war nicht länger imstande zu schwimmen. Er war dabei zu versinken, er fühlte die eisige Kälte und die Verzweiflung.

Sein Fuß war gegen irgendetwas gestoßen. Er hatte es nicht gemerkt. Dann schlug auch das Schienbein gegen etwas Hartes, ebenso das Knie, eine scheuernde Bewegung gegen eine Felskante, dann noch ein Schlag.

Als er unbewusst das Bein anzog, schlug er mit dem anderen Fuß gegen das Harte. Er war allzu benommen, um etwas zu begreifen. Sein Bein bewegte sich, er trat im Wasser, sein Körper kämpfte, aber sein Kopf wusste nicht, was die Beine taten. Er schluckte Wasser, er erlebte das Dunkel und Todesangst, seine Füße jedoch und seine Beine hatten festen Halt gefunden, eine Klippe, einen Fels.

Die Wellen wurden zurückgesogen, die Bewegung des Wassers drehte sich, eine seichte Stelle vor dem Land hatte Strudel verursacht. Michail wurde hinausgezogen, dann wieder zurück auf die seichte Stelle zu. Er konnte knien, er strauchelte, konnte sich mit seinen ausgestreckten Armen abstützen.

Er keuchte, spuckte Wasser aus, wurde von einem krampfartigen Husten geschüttelt, spuckte Schleim aus, fühlte, wie das schneidend kalte Wasser aus seiner Nase spritzte, atmete stoßweise, schmerzhaft, fiel hin, als eine Welle ihm die Arme wegschlug, erhob sich jedoch wieder und begriff, dass er es geschafft hatte.

Er wusste, dass er nahe daran gewesen war, im Wasser zu bleiben. Er war noch nicht auf dem Strand, er war sehr müde, fühlte keine Freude, aber er wusste doch, dass er es geschafft hatte.

Jetzt stand er auf. Das Wasser stand ihm fast bis an die Hüfte. Er konnte den Strand erkennen und begann, langsam in die Richtung zu gehen.

Aber das Wasser wurde wieder tiefer. Er stand auf einem Felsen, der vor dem Strand lag. Er musste noch durch tiefes Wasser hindurch, ruhiges Wasser zwar, aber er würde wieder gezwungen sein zu schwimmen. Er merkte, dass er zitterte. Nachdem er noch ein paar Schritte in Richtung auf das tiefe Wasser hin gemacht hatte, zögerte er, sich in die Kälte zu begeben.

Er machte ein paar Schwimmzüge. Er war schwach, begann wieder zu husten. Jeder Schwimmzug bedeutete eine große Anstrengung, er zwang sich, den Kopf über Wasser zu halten, er konnte schlecht sehen, irgendetwas Graues trübte ihm den Blick, irgendetwas Graues, Dunkles, das in Schwarz überging.

Michail wusste, dass der Strand nahe war, trotzdem hatte er das Gefühl, als ob ein Meer vor ihm lag. Und er versank immer tiefer in dem Dunkel, hinein in eine betäubende Kraftlosigkeit, in der sein eigener Wille nicht länger irgendeine Bedeutung hatte.

Als er mit den Knien auf dem steinigen Untergrund aufschlug, merkte er es nicht. Als er sich die Ellenbogen an den scharfen Kanten blutig schlug, fühlte er nichts.

Die Wellen, die an der Stelle, an der Michail an Land gekommen war, den Strand erreichten, waren schwach, die seichte Stelle draußen hatte als Wellenbrecher gedient. Michail blieb vorne am Strand liegen. Er hatte Schürfwunden auf den Wangen, hatte einen Arm unter den Kopf gelegt, sein Mund befand sich über der Wasseroberfläche. Irgendwann während der Nacht war er ein paar Meter hinauf auf die am Strand wachsenden Büsche gekrochen. Dort war er recht lange liegen geblieben. Als es hell wurde, kroch er noch ein Stück weiter nach oben, dann fiel er in einen tiefen Schlaf.

Es regnete die ganze Zeit über, und auch der Wind war nicht abgeflaut.

3.

Ein schlecht eingehaktes Fenster klapperte im Wind, die Gardine war vom Regen nass geworden, ein Buch war auf den Boden geworfen worden und war dort mit aufgeschlagenen Seiten liegen geblieben. Als Helena aufwachte, brauchte sie einen Augenblick, um das Geräusch einordnen zu können, nicht das Pladdern des Regens auf das Fensterblech, das war ihr vertraut, sondern das Flattern der Buchblätter auf dem Boden. Das ängstigte sie.

Einige Sekunden lang, dann hatte sie begriffen, sie stand auf, schloss das Fenster, stellte das Buch zurück. Die Unruhe jedoch war geblieben. Sie lag wach, lauschte dem Regen, der an Stärke zunahm. Sie drückte auf die Leuchttaste des Weckers: zwanzig nach eins.

Ein Zweig schlug gegen das Fenster im Erdgeschoss. Sie wusste, dass es die Eberesche war, dachte, dass die Zweige geschnitten werden müssten. Auch die Eiche draußen vor der Veranda hatte zu lange Äste, einige waren außerdem trocken. Sie nahm sich vor, möglichst bald etwas dagegen zu unternehmen.

Dann fiel ihr ein, dass sie einen fast freien Tag vor sich hatte, eine späte Unterrichtsstunde nur, mehr ein Gespräch, zwischen drei und vier. Sie konnte also im Bett bleiben, Rolf anrufen, sich Kaffee und ein Butterbrot holen, liegen bleiben und lesen.

Die Unruhe war verflogen. Sie schlief wieder ein, der Regen trommelte weiter auf das Hausdach und gegen die Fenster, die Windböen schüttelten die nassen Bäume, die um das Anwesen am Meer standen.

Sie wurde durch das Klingeln des Telefons geweckt. Im Raum war es nicht mehr ganz dunkel, und ehe sie abnehmen konnte, glaubte sie, dass sie verschlafen hatte. Im nächsten Moment jedoch fiel ihr ein, dass sie ausschlafen konnte, und sie merkte auch, dass sie den Wecker abgestellt hatte, als sie nachts den Lichtschalter gedrückt hatte. Die Uhr stand immer auf zehn nach sieben, aber manchmal rief Rolf früh an, ehe er zur Arbeit ging, in den Wochen, in denen sie getrennt voneinander lebten.

Das war jetzt eine solche Woche.

Sie nahm nach dem zweiten Klingeln ab, nannte seinen Namen, ehe er überhaupt etwas hatte sagen können. Vielleicht tat sie das, damit er wissen sollte, dass sie kein anderes Gespräch erwartete.

»Du hast geschlafen«, sagte er.

»Ich war gerade dabei aufzuwachen«, antwortete sie.

»Ist alles in Ordnung? Ich weiß, dass es sehr windig ist, im Radio wurde gesagt, dass bei Understen Windstärke acht herrscht.«

»Ja, es ist alles in Ordnung, das Haus steht noch, ich stehe gleich auf, und vielleicht nehme ich den Wagen hinauf zum Briefkasten, hole die Zeitungen, lege mich wieder hin und lese.«

»Hast du heute frei?«

»Fast frei.«

»Ich habe Unterricht und nach dem Mittagessen einen Vortrag vor dem Forschungsrat, aber das klappt sicher alles.«

»Du weißt, dass es klappt.«

»Ich komme am Samstagnachmittag.«

»Vorher hören wir noch voneinander.«

»Ja, mach‘s gut.«

»Du auch, und fahr vorsichtig.«

Sie blieb noch ein paar Minuten liegen, dachte an Rolfs Gesundheit, seine Abneigung, über einen Arztbesuch zu sprechen. Er hatte jedoch unbeschwert und jung geklungen, auf die Art und Weise, wie sie ihn haben wollte, und sie verspürte ein wenig Sehnsucht nach ihrem Mann.

Dann stand sie auf, zog ein Paar Wollsocken über, stopfte die Hosenbeine ihres Schlafanzugs in die Strümpfe, zog eine Jeans und eine Strickjacke an, ging hinunter in die Küche. Dort füllte sie einen Topf mit Wasser, setzte ihn auf, stellte den Herd auf die kleinste Stufe, zog eine Jacke über und schlüpfte in ihre Stiefel.

Der weiße Opel ließ sich schlecht starten, sie vermutete, dass das am Regen lag und war nahe daran aufzugeben, als er dann doch ansprang. Sie fuhr langsam den lehmigen Waldweg bis an die Kreuzung hinauf, zog die Zeitungen aus dem Kasten ohne auszusteigen, warf einen Blick auf die erste Seite der Norrtelje Tidning: Die Inselbewohner fordern eine Brücke.

Sie dachte, dass sie selbst einer der Inselbewohner der Gemeinde sei, dass sie jedoch in der Brückenfrage keine Stellung bezogen hatte. Abgesehen davon gab es in der Richtung, in die sie normalerweise fuhr, Brücken, außerdem lebte sie im Winter nicht auf Fogdö, sondern dann zog sie mit Rolf in das Reihenhaus auf Lidingö, ungerne zwar, aber sie fuhr jeden Tag mit dem Auto in die Volkshochschule auf Väddö, wo sie arbeitete.

Ginge es nach Helena, würden sie das ganze Jahr über auf Fogdö wohnen, im Vävargård, dem Ort am Meer, den sie liebte und als ihr richtiges Zuhause empfand.

Als sie in die Küche zurückkam, hatte das Wasser auf dem Herd gerade begonnen zu kochen.

Die Wohnzimmeruhr im Erdgeschoss schlug neun. Helena lag noch im Bett; sie hatte die Lokalzeitung ausgelesen, sah die Anzeigen in Dagens Nyheter durch, sie suchte ein älteres Nachschlagewerk, bemerkte ein Angebot einer frühen Ausgabe von Nordisk Familjebok, unterstrich die Telefonnummer und nahm sich vor, später anzurufen. Als sie ins Badezimmer ging, warf sie einen kurzen Blick durch das Fenster im Treppenhaus. Weit draußen in der Bucht konnte sie ein vor Anker liegendes Schiff erkennen. Es kam gelegentlich vor, dass sie bei schlechtem Wetter einen Tag lang dort draußen lagen.

Nachdem sie geduscht und sich angezogen hatte, trank sie eine zweite Tasse Kaffee in der Küche. Es regnete nicht mehr so stark, und der Wind hatte abgenommen. Sie dachte über das Gespräch nach, das sie später am Tage mit einigen Schülern führen sollte. Sie wollten sich um Praktikantenplätze bei verschiedenen Redaktionen in Roslagen bewerben, sie unterstützte sie mit Ratschlägen, das gehörte zwar nicht zu ihren Pflichten als Lehrerin für Schwedisch an der Volkshochschule, doch sie half einem Kollegen des Medien-Zweiges und freute sich darauf.

Als Helena gegen elf, bekleidet mit Windjacke, Schirmmütze und Stiefeln, hinausging, hatte der Regen nachgelassen. Sie wollte ein wenig am Strand spazieren gehen, nachsehen, ob irgendetwas angespült worden war, die Lunge mit frischer Meeresluft füllen, eine Stunde laufen, nachsehen, ob die Sanddornbeeren reif waren, an nichts Besonderes denken, sich Appetit für das Mittagessen holen.

Als sie die steinerne Böschung zu dem kleinen Felshügel vor dem Haus hinaufging, rutschte sie aus, bekam einen Busch zu fassen, der leistete schlechten Widerstand, aber es gelang ihr, das Gleichgewicht zu halten. Nach dem Regen war es auf dem blanken Felsen spiegelglatt. Sie wusste das, trotzdem passierte es sehr häufig, dass sie gerade dort ausrutschte. Sie fragte sich, warum sie nicht daran gedacht hatte. Sie war wirklich nicht vergesslich, aber gewisse Dinge konnten sich ihrer Aufmerksamkeit entziehen, vor allem, wenn sie in Gedanken war. Und das kam in letzter Zeit häufiger vor.

Das Schiff war nicht mehr da. Sie spähte aufs Meer hinaus, konnte es jedoch nicht mehr sehen, und auch in Richtung Svartklubben, dem flachen breiten Leuchtturm im Nordosten, war nichts zu erkennen. Aber der Wind war abgeflaut, das Schiff war natürlich wieder auf seine Route zurückgekehrt, die es vierundzwanzig Stunden zuvor hatte unterbrechen müssen. So war es immer. Sie unterbrachen nicht länger als notwendig. Helena hatte schon viele von ihnen gesehen, hatte nie ihre Namen und Nationalitäten notiert, jedoch gehört, dass viele sowjetische Schiffe darunter waren.

Sie blickte hinab auf den Bootsschuppen und die winkelförmige Brücke. Das Motorboot lag noch dort, sicher vertäut, das Ruderboot war auf den Strand gezogen worden.

Zwei Schwäne schwammen neben dem Motorboot auf dem Wasser, einer davon war grauweiß, vermutlich ein Junges. Helena ging langsam in die andere Richtung. Bis zu dem großen Sanddorngebüsch auf der Landzunge waren es ungefähr dreihundert Meter. Sie entschloss sich, bis dorthin zu gehen, nach den Beeren zu sehen und umzukehren.

Sie hatte die Hände in die Taschen gesteckt. In der rechten Tasche lag ein Garnknäuel, Segelgarn. Sie erwischte das Garnende, drehte es ein paarmal um den Zeigefinger, wich einem glatten Stein aus, machte einen kleinen Umweg um einen Haufen blaugrünen Seegrases.

Zuerst bemerkte sie das Hosenbein, eine Idee hochgerutscht, der untere Teil des Schienbeins war entblößt, dem Fuß fehlte der Schuh, er war jedoch mit einem dünnen dunklen Strumpf bekleidet.

Sie blieb stehen, überlegte, begriff nicht sofort, was sie da sah. Einen Augenblick lang glaubte sie, dass es ein schmaler Baumstamm ohne Zweige war, auf dem ein Lumpen lag.

Dann wurde ihr plötzlich bewusst, dass es ein toter Mensch sein musste, ein Ertrunkener, der an Land geschwemmt worden war. Sie näherte sich langsam dem Körper, hielt die Hand vor die Nase in Erwartung des Gestanks, sie hatte das schon einmal erlebt, einen toten Seehund am Strand im Zustand der Verwesung.

Jetzt konnte sie den ganzen Körper erkennen, einen Mann in einem blaukarierten Hemd, auf dem Rücken liegend, die Arme an den Seiten, ein Bein angezogen, das andere ausgestreckt.

Sie hockte sich nieder, in diesem Moment schlug der Mann die Augen auf und sah sie an.

Viel später sollte sich Helena an ihre eigene Verwunderung über die seltsame blaue Augenfarbe des Mannes erinnern, die auf eine ungewöhnliche Art leuchtete.

Sie konnte sich nie an irgendein Erstaunen darüber erinnern, dass der Mann, den sie für tot gehalten hatte, tatsächlich lebte, keine Verwunderung war in ihrer Erinnerung zurückgeblieben, keine Erleichterung darüber, dass der erwartete Leichengeruch durch den milden Duft von Heidekraut und trockenem Baldrian ersetzt worden war.

Eine Wange und die Stirn des Mannes wiesen Schürfwunden auf. Helena holte ihr Taschentuch heraus und wischte ein wenig Blut weg, das die Wange des Mannes heruntergelaufen war.

Er hustete leise, blieb auf dem Rücken liegen, bewegte eine Hand, berührte Helenas Bein.

»Ich … habe … verlassen«, sagte der Mann langsam mit heiserer Stimme.

»Ja«, antwortete Helena.

»Ein ... Schiff.«

Der Mann sprach ein deutliches Schwedisch, er benutzte jedoch einen Dialekt, der Helena nicht geläufig war, er betonte einige Silben zu stark, rollte das R sehr hart. Jetzt versuchte er sich aufzurichten. Das ging nur langsam, Helena fasste mit der Hand um den Nacken des Mannes und stützte seinen Kopf. Sie war ganz dicht bei ihm, spürte eine leichte, aber kühle Ausdünstung von seinem Hals und seinem Gesicht. Er zitterte etwas, Helena wusste nicht, ob vor Anstrengung oder Kälte.

»Frierst du?«, fragte sie.

»Das Meer – ich bin …«

»Du frierst, nimm meine Jacke.«

Sie ließ den Hals des Mannes los, zog ihre Jacke aus, der Mann sackte etwas in sich zusammen, blieb jedoch gestützt auf seine Ellbogen sitzen. Jetzt lächelte er zum ersten Mal, ein schwaches Lächeln, ein Mundwinkel wurde schwach nach oben gezogen, während sich die Wange kräuselte. Es war die Seite des Gesichts, auf der sich die Schürfwunde befand.

Das Lächeln wurde gegen eine Grimasse ausgetauscht, dann erschien ein neues Lächeln. Der Mann sah Helena an. Sie reichte ihm die Hand. Er ergriff sie. Sie lehnte sich zurück, der Mann stieß sich mit der anderen Hand vom Boden ab, kam auf die Knie, dann auf die Füße.

»Die Jacke«, sagte Helena.

»Danke«, sagte der Mann.

Er versuchte sie anzuziehen, sie war zu klein, er ließ sie über die Schultern hängen, zog sie vor der Brust zusammen, nickte Helena zu, ohne zu lächeln.

»Komm«, sagte Helena.

Sie ging vor, der Mann folgte, sie nahm den Weg um den Felshügel herum, wählte den Pfad durch den Kiefernwald, einen Umweg, aber leichter zu gehen. Der Mann blieb mehrere Male stehen. Helena bemerkte, dass er zitterte. Sie fragte sich, ob er es bis zu ihrem Haus schaffen würde, sie war bereit ihn zu stützen, aber als sie sich ihm näherte, begann er weiterzugehen, stolpernd und ungeschickt, mit nur einem Schuh angetan.

Helena merkte, dass er allein gehen wollte. Wie alle Männer, dachte sie, immer alles allein machen wollen, nie jemanden unnötig um Hilfe bitten, einsam und stark und halbtot, aber nicht um Hilfe bitten.

Sie ging vor ihm in die Küchenveranda, der Mann war draußen stehen geblieben, blickte sich um, ging dann langsam die Treppe hinauf, Schritt für Schritt, lauschte, sah durch die offene Tür hinein.

»Hier ist niemand«, sagte Helena.

Im selben Augenblick, in dem sie es sagte, bereute sie es. Sie wusste ja nichts über den Mann.

»Hier ist niemand«, wiederholte sie, »auf jeden Fall im Augenblick nicht, wahrscheinlich kommt bald jemand.«

Der Mann setzte sich auf einen Holzstuhl.

»Kaffee?«, wollte Helena wissen.

»Danke«, murmelte der Mann.

»Möchtest du das Telefon benutzen und die Polizei anrufen? Wenn du Probleme hast, kannst du telefonieren.«

»Nein.«

»Kaffee?«

»Ja.«

Helena setzte Wasser auf, suchte trockene Kleidung hervor, Rolfs Arbeitshosen, seine Socken, Hemd, Jacke. Der Mann hatte breite Schultern, war aber schlank. Rolf hatte einen größeren Leibesumfang. Sie ließ die Sachen auf einem Stuhl in dem kleinen Raum neben der Küche liegen.

»Du kannst dich umziehen«, sagte sie.

Der Mann blieb sitzen, aber als Helena begann, den Kaffee zu kochen, erhob er sich, ging langsam aus der Küche, zog die Tür hinter sich zu. Er blieb recht lange. Helena nahm an, dass das daher kam, dass er völlig erschöpft war. Dann fiel ihr ein, dass er vielleicht im Hause herumging und schnüffelte, dass er Schubladen öffnete.

Sie bekam Angst. Sie sollte Rolf anrufen oder eine Kollegin in der Schule, jemand musste es erfahren.

Der Mann öffnete die Tür. Er tastete mit der Hand die Wand ab, lächelte wieder sein schiefes Lächeln.

»Ich hole eine Decke«, sagte Helena.

Sie ging hinaus ins Wohnzimmer, die Treppe hinauf ins Obergeschoss, schlich sich ins Schlafzimmer, wählte die Nummer von Rolfs Zimmer in der Technischen Hochschule. Der Anrufbeantworter war eingeschaltet. Sie rief die Telefonzentrale an, hielt den Mund dicht an den Hörer, flüsterte.

»Bitten Sie ihn, so schnell wie möglich anzurufen, es ist wichtig.«

Sie nahm die Decke und ging wieder hinunter. Der Mann saß am Tisch, hatte die Arme auf der Tischplatte verschränkt, mit hängendem Kopf. Er zuckte zusammen, als Helena hereinkam.

»Die Decke«, sagte Helena.

Er wickelte sie um seinen Leib, Helena goss Kaffee ein, bestrich zwei Butterbrote, reichte dem Mann eines hin.

»Ich habe verlassen«, sagte er, »ich bin ... ein Fliehender.«

»Aha.«

»Ich komme aus Leningrad.«

»Aber du sprichst ja Schwedisch?«

»Meine Familie, wir haben, wir haben ein wenig Schwedisch in meiner Familie gesprochen, in älterer Zeit.«

Er sprach jetzt etwas schneller, legte zwischen den Silben keine Pausen mehr ein, aber er betonte die Wörter immer noch auf eine merkwürdige Weise, und er rollte das R.

»Warum bist du weggegangen?«

»Viel ist schwierig in der Sowjetunion, das weißt du vielleicht.«

»Ja, ein bisschen kenne ich mich aus.«

»Du weißt vielleicht nur ein wenig, aber ich lebe dort, nein früher lebte ich dort, jetzt nicht mehr.«

»Jetzt bist du in meiner Küche.«

»Trinke mit dir Kaffee.«

»Ich heiße Helena.«

»Mein Name ist Michail.«

Er sprach jede Silbe für sich aus. Helena fand, dass der Name gut klang, wenn er ihn auf diese Art und Weise aussprach, altmodisch und leicht und schön, mit deutlicher Betonung des letzten Vokals.

»Mi…cha…il«, sagte Helena.

Der Mann lächelte, hob die Hand gegen seine Wange.

Helena bemerkte, dass er kurze Bartstoppeln hatte, die vielleicht in der Schürfwunde juckten.

»Ich kann deine Wunden auswaschen, wenn du willst«, sagte sie.

399
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