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Читать книгу: «Die Ströme des Namenlos», страница 7

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Viertes Buch

Wohl war nun der Sommer über dem Gottlosen Zinken und mein Finger heil, daß ich wieder im Felde stehen konnte und meine drängende Kraft von mir tun; die schönen, warmen Sonntagnächte waren da mit ihren schwermütigen Liedern – und doch war mein Herz nimmer so recht dabei. Ich hielt mich ein bißchen fern von den andern; oft machte ich einsame Gänge und warf mich an einem Feldrand nieder, um ungestört meinem Sinnen nachgehen zu können. Es hatten mich wunderliche Gedanken gepackt; seit Herr Bürger fort war, hatte mich eine drängende Unruhe erfaßt. Eine mühsam verhaltene, dunkel glühende Kraft lief mir durch die Glieder; es war so seltsam in diesem Sommer: nach der schwersten Arbeit war immer noch etwas in mir, unverbraucht und mächtig, und regte sich lauernd, hervorzubrechen. War ich des Abends erschöpft auf mein Bett gesunken, so erwachte ich oft jäh mitten in der Nacht und lag unruhevolle Stunden ohne Schlaf; unbezwinglich sang mir die schmerzliche Gewalt in allen Adern.

Es ging mir, so von außen betrachtet, gut und war alles in Ordnung und hätte können nicht besser sein. Ich hatte eine schöne, maßvolle Arbeit, gute Menschen um mich herum, Essen und Trinken vollauf und ein lustiges Leben ohne Sorgen. Und doch, – ich hätte es weggeworfen um einer einzigen Nacht willen, da ich hätte wieder für einen Menschen glühen dürfen und Schmerzen und Wonnen um ihn haben und dem Leben am Herzen liegen! Und da war wieder die Erfahrung von jenem abendlichen Flusse her, sie stand siegreich über mir und hatte ihr Recht behalten. Nicht das war Leben: anständig weiter zu kommen und keine Schulden zu haben, in einem guten Futter zu stehen und hie und da einen Mittag zu vertanzen; Leben war lieben, Schmerzen haben, glühen, leiden, von Wonnen sich durchtoben zu lassen und von stürmenden Gewalten gebogen und zerbrochen zu werden. Ach, ob Lust, ob Schmerzen, war einerlei; es war beides Wonne, Schönheit, Glühen und wahrhaftestes Leben.

Ich hätte gerne die bösen Nächte noch einmal auf mich genommen und mein Herz verwühlen lassen; besser, tausendmal besser, als nebendraußen zu stehen, glanzlos, glücklos, schmerzlos, nicht mittun zu dürfen und von seiner eigenen, dumpf darnach drängenden Sehnsucht verwürgt zu werden.

Die Liebe um Herrn Bürger hatte alles in mir aufgerissen, was Gutes, Großes, Glühendes je in mir gewesen war. In den warmen, schlaflosen Nächten überfiel mich wieder das drängende, bittere Weh meiner ersten Jugendtage; ich dachte an den Namenlos, an jenen Sommermorgen bei der Buche; der quellende Strom meiner Liebe war wieder wach, und ein schluchzender Jammer schüttelte mich, daß er von niemand begehrt war und ohne Ziel und Erlösung sich in schweigende Tiefen und Einsamkeiten verlor.

Wenn ich hätte in jener Zeit sterben müssen, hätte ich verlangend zu Gott geschrieen, er möge mich doch noch länger auf der Welt lassen; mein Leben könne doch gewiß noch nicht fertig sein; es habe ja noch nicht angefangen; alles bisher sei jämmerlich und nichtig und nicht zu leben wert gewesen; nun müsse es erst kommen.

Der weise, lächelnde Gott aber ließ mich nicht sterben; er gab mir, was ich gewollt; eine große, erfüllte Liebe und ein Schicksal dazu.

Auf dem Gottlosen Zinken war in jenem Jahre wie in den vorigen ein Enkel Frau Finkenlohrs zum Besuch über die Sommerferien, und da im selben Spätsommer fast keine Kurgäste da waren, lebte er näher und vertrauter mit der Großmutter und uns als sonst. Seine Eltern waren frühe gestorben, und er besuchte in der Stadt, wo Margret wohnte, das Gymnasium. Er mochte nun etwa siebzehn Jahre alt sein, ein magerer, kränklicher Mensch mit einem Gesicht von einer erstaunlich zarten und hellen Farbe, darein ihm, sobald ihn etwas bewegte, unbezwingliche, dunkle, rote Wellen liefen. Er trug ein liebenswürdiges, kindliches Wesen zur Schau, schien auch den Humor der Großmutter geerbt zu haben, denn er war zumeist frech und lustig wie ein junger Spatz; im übrigen spielte er die mehr komische als ehrenvolle, etwas langweilige Rolle des Stadtjungen unter Bauernknechten. Doch ließ er sich von jenen, in deren Rohrstiefeln er ersoffen wäre, nie ganz unterkriegen; hatten sie ob seiner Dürftigkeit und seines zarten Häutleins ihren Spott mit ihm, so parierte er mit Witz und einer behenden Spitzbüberei, davor die ungeschlachten Kerle das Maul halten konnten.

Ich kam nicht näher mit dem jungen Menschen zusammen als die andern auch; wir liefen in vergnügter Gleichgültigkeit aneinander vorbei. Doch geschah es, wenn ich, als wir mitten in der heißen Sommerarbeit waren, in irgend einer Wiese das blonde Müßiggängerlein im Grase liegen sah, ein Buch in der Hand oder in den Himmel schauend, daß der Anblick seiner lässigen und zierlichen Glieder, der guten und unbestäubten Kleider, des Buches oder seines feinen, hellen Gesichtes in meiner eben noch vergnügten Seele eine leise, dunkle und sehnsüchtige Wirrnis erregte, daß mir der junge Blasse mehr denn irgend ein anderer als Teilhaber und Sendbote jenes höheren, geistigen Reiches erschien, nach dem in manchen Stunden meine heimliche Begierde ging. Und so oft ich ihn dann sah, wurde ich von einer wunderlichen Traurigkeit erfüllt, die mir das gegenwärtige und greifbare Schöne trübte und schal und wertlos erscheinen ließ und von einem Neid und eigentümlichen Wünschen gepackt, das nicht etwa seiner Faulenzerei oder seinem Herrensöhnchentum galt, noch weniger gar mit weiblichen und schwärmenden Gefühlen die eigene Person des Schmächtigen umfing, sondern lediglich nach jener Atmosphäre ging, daher die klugen, feinen Gesichter, die schmalen und ungebräunten Hände und die schönen Bücherrücken kamen.

In jenem Sommer nun, zu dessen Anfang die Geschichte mit Herrn Bürger gespielt hatte, war der junge Mensch absonderlich lustig und toll, so als wolle er schnelle, ehe er vollends erwachsen und ein Herr sei, nach alles Bubige und Rüpelhafte auf einmal heraus lassen. Dazumal verübte er auch jenen Streich, von dem man sich heute noch auf dem Zinken erzählt.

Es gab nämlich eine Verfügung Frau Finkenlohrs, daß sich alle Samstagabende das Gesinde, hübsch gesondert, erst die Knechte, dann die Mägde, in der großen Küche zusammen fand, um sich hier bei sicher verriegelten Türen in einer behaglichen Wärme den Staub und Schweiß der Woche von Gesicht und Leibe zu waschen, wozu es Kübel und Geltlein genug, dazu Kessel voll heißen Wassers, reichlich Seife und prächtige, große Trockentücher gab. Auch konnte man sich an einem aufgespannten Garbenseil ein Vorhänglein von Rupfentüchern und dahinter mittelst eines runden Zubers ein vornehmes und äußerst heimliches Badstüblein errichten. – Denn die weise Frau fand, daß die Sauberhaltung und Hautpflege ihrer Untergebenen auf diese Weise, zumal im Winter, bei weitem angenehmer, unterhaltsamer und vor allen Dingen beträchtlich gründlicher geschehe, als wenn dies jedes für sich auf seiner kalten Kammer besorge, wo es dann dementsprechend schnell und obenhin ginge und zu wesentlichen Teilen ganz unterlassen würde.

Nun war die Wäscherei jedesmal ungemein ergötzlich und beinahe so schön wie der Tanz am Sonntag. Draußen trieben die Knechte Narreteien und Spässe um die verriegelten Türen, und daß sie gern herein geguckt hätten, machte uns noch vergnügter. Man verführte ein großes Geplätscher und Rumoren in Waschschüsseln und Fußkübeln, spritzte sich und nähte einander die Strümpfe oben und die Hemden unten zu, wie derlei Sachen eben so im Brauch waren und einen zum Lachen brachten. Zum Schlusse wusch man sich gegenseitig die Haare und hockte dann zum Trocknen in unbegrenzter Behaglichkeit in der Dämmerung um den Herd herum, erzählte einander Gespenster- oder Liebesgeschichten, und es war schauerlich schön.

In diese Idylle brach nun eines Samstagabends der junge Gottfried Finkenlohr ein wie der selige Wolf unter die sieben jungen Geißlein, indem er sich an einem Seil durch den alten Rauchfang unbemerkt herunter ließ, uns eine Minute mit schallendem Gelächter betrachtete und dann flink und leicht wieder empor schwebte. Die Aufregung war rasend. Die alte Kätter, wähnend, es sei der Teufel, riegelte in gräßlichem Entsetzen die Tür auf und floh im Hemde durch das Haus; die kleine Gäns-Amei warf ihren Badzuber um, vor der nahenden Flut sprangen die andern auf den Tisch; in der nun geöffneten Tür standen brüllend vor Lachen die Knechte, und lange, nachdem der junge Uebeltäter verschwunden war, war das Haus noch von Lärm und Schrecken und Gejohle erfüllt.

Dieses hatte zur Folge, daß der junge Mensch am Sonntag morgen in seiner Großmutter Stube moralisch bearbeitet ward, bis er mürb war wie eine russische Bretzel, sodann, daß der alte Rauchfang in den folgenden Tagen zugemauert wurde und daß wir Mägde, dieweil wir uns an der Ehre gezwickt sahen, die Knechte mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln bearbeiteten, daß sie den Sünder ein wenig verhauen sollten. Nun, als er am Sonntag abend schon im halben Dämmer vom Haus herkam, um, wie er es immer tat, den Abend mit uns auf dem Hof zu sitzen, fielen sie unversehens über ihn her, und es sah gefährlich aus. Einen Augenblick schien es, als wolle er sich verzweifelt zur Wehr setzen, dann stieß er einen kurzen, komischen und betrübten Schrei aus, ließ sich blitzschnell auf den Boden fallen und blieb da steif wie ein Stock liegen. Die Kerle, die sich maßlos über seinen Streich gefreut hatten und ihm keineswegs ernstlich übel wollten, gingen sofort auf seinen Witz ein und ließen von ihm ab.

»Ihr seht,« wandte sich der Roßknecht erklärend an uns, »er ist schon hin; da ist nichts mehr zu verhauen!«

Der Knecht hob des jungen Menschen Arm ein wenig in die Höhe: steif und leblos fiel er wieder herunter.

»O Gott, ja,« sagte ein anderer bedauernd, »ganz verreckt, – wahrhaftig!« Ein Dritter schnüffelte an ihm herum. »Er stinkt schon,« sagte er, »wir wollen ihn begraben.«

»Wo?«

»Auf dem Mist!«

So legten sie ihn auf ein Brett, trugen ihn hinten in den Garten, wo ein Unkrauthaufen lag und ließen ihn langsam und feierlich drauf nieder. Dazu sangen sie in tiefen, düsteren Bässen:

 
»Stiefel muß sterben,
ist noch so jung, so jung,
Stiefel muß sterben,
ist noch so jung.
 
 
Wenn dös der Absatz wüßt,
daß 's Stiefele sterben müßt – –«
 

und schneuzten sich kummervoll. Der Roßknecht hielt die Leichenpredigt, wir andern standen im Kreis herum und zum Schlusse spuckte man statt Kranzspenden dreimal über das Grab.

– Da wir nun alle der guten und gewissen Ueberzeugung waren, daß das Herrlein den Ueberfall nicht etwa aus irgend welchen dunklen und gefährlichen Trieben heraus vollbracht hatte, sondern allein aus reinem, bubenhaftem Vergnügen an einem dummen Streich, – da auch jener Sonntagabend ganz ungeheuer fidel war und wir alle wie besessen vor Lustigkeit und Uebermut, so wurde ihm einmütig verziehen, er konnte kecklich auferstehen und sich wieder zeigen und wurde nun erst recht als Held und Kühner gefeiert.

Als ich am andern Tag im Hof am Brunnen Rüben putzte, stand plötzlich der junge Finkenlohr vor mir, ein wenig rot, ein wenig verlegen und ein wenig spitzbübisch.

»Ich muß Ihnen etwas sagen, Fräulein. Aber wenn Sie mich ansehen, bring ich's nicht heraus!«

»Dann will ich mich umdrehen und weggucken,« sagte ich lachend und neugierig.

»Ich – ich möchte Sie um Verzeihung bitten für – für das am Samstag abend. Wenn ich gewußt hätte, daß Sie dabei wären, hätte ich es nicht getan. Es ist mir leid.«

Ich drehte mich um und mußte immer mehr lachen. »Ach, das ist ja schrecklich. Hat Sie Ihre Großmutter geschickt?«

»Nein. Das tue ich von mir selber aus. Sind Sie mir nicht böse?«

»Ach, nein, es war doch so lustig. Und man muß einen Spaß verstehen können.«

»Nicht wahr?« sagte er strahlend. »Ach, die Bestattung gestern war schön. Die Kerle haben das wundervoll gemacht!«

Von da an sprachen wir manchmal miteinander; und dann kam er eines Tags über den Hof gelaufen, aufgeregt, und die dunklen Flämmlein waren in sein Gesicht gestiegen. Er hielt ein Papier in der Hand, und dieweil ich den Hennen mistete, stand er vor mir, sprach atemlos auf mich ein und sah mich aus den guten und ehrlichen Bubenaugen glänzend an. Ich war verdutzt und erschrocken und begriff nicht, was er meinte.

»Ach, Fräulein Agnes, Sie müssen es mir nicht übel nehmen, wenn ich nun dahinter gekommen bin; ich kann nichts dafür. Ich mußte für die Großmutter in der Schatulle etwas suchen, und da kam mir's in die Hände, und ich weiß nun, daß es von Ihnen ist. O, ich muß es immer wieder lesen, es ist schön und wie von einem großen Dichter, und Sie sind geizig, wenn Sie so etwas für sich behalten, wissen Sie!«

Nun wußte ich freilich, was er meine: er hatte das Gedicht in der Hand, das mir an jenem Morgen eingefallen war. Das wurde nun auf einmal gefährlich lebendig; ich war voller Scham und hätte es gern wieder zurück gehabt.

»Ich meine,« sagte ich verlegen und nahm den Reisigbesen wieder in die Hand, »Sie sollten ein wenig da weggehen; Sie werden sonst dreckig.«

Er sah mich groß und betrübt an. »Sie tun ganz recht dran, wenn Sie mich verspotten! Da lauf ich an Ihnen vorbei, als ob Sie die Gäns-Amei wären, und Sie müssen auf dem Acker stehen und Rüben heraustun und Mist führen und haben so etwas Wunderbares in sich drin. O, ich schäme mich so! und ich meine, es müßte der Großmutter und allen auch so gehen, weil keiner gewußt hat, was für ein großer Mensch Sie sind. – Machen Sie denn oft so etwas? O, Sie müssen Mörike lieb haben, nicht wahr, wenn Sie so dichten?«

Ich gestand beklommen, daß ich weder von Mörike noch andern Dichtern viel wisse; doch glitt er allsogleich zart und schnell über das hinweg, was mich beschämte, und strahlte mich in heller Freude an. »O, ich habe ein ganzes Kistlein voll Bücher da. Homer und Hölderlin und ein paar Bände Goethe und viel Moderne. Sie können alle, alle haben. Kommen Sie doch heute Abend in meine Stube; ach ja, Sie müssen kommen. Es ist auch eine Literaturgeschichte da. O Fräulein, ich möchte so gern Ihr Freund sein.«

Ich kann mich jenes Abends noch mit seltsamer Deutlichkeit erinnern. Da der junge Mensch nicht abließ, mit Bitten und Drängen zu betreiben, daß ich auf den Feierabend in seine Stube käme, so versprach ich's endlich zögernd und widerwillig. Ich drückte mich den ganzen Nachmittag unmutig herum, besann mich noch im letzten Augenblick auf eine Ausrede und ging endlich doch zur verabredeten Zeit zu ihm hinüber. Dann saß ich steif und feierlich auf einem Stuhle, schämte mich in meinen Kleidern, die nach Dung und Kuhstall rochen, elend vor dem noblen, jungen Herrn, dazu hatte ich ein Hühnerauge, das mich übel plagte, und hielt mühselig die schläfrigen Augen offen; es war alles unbehaglich und beschämend und lächerlich, und das Unbehaglichste und Widersinnigste war, daß ich dachte, ich müsse nun inmitten dieser komischen Situation von meinen Empfindungen und geheimen, innerlichen Angelegenheiten reden, was mir überaus abgeschmackt und widerwärtig erschien.

Doch war der junge Mann in denkbar bester Laune und einer freudigen Erregung, nahm von seinen aufgestapelten Büchern eins und fing an, mir daraus vorzulesen. Es waren Gedichte; und indem der feine Junge so am Fenster stand in einer schönen, abendlichen Helle und ihm die blonden Haare leicht und lässig und kindhaft in sein weiß und rotes Gesicht fielen, überkam mich die Begier und dunkle Sehnsucht, in jenem andern, höheren Reiche zu leben, das unsichtbar und köstlich und edel alle diese Leute zusammen hielt, so stark und mächtig, daß jäh alle Schläfrigkeit und alle Pein und Komik von mir abfielen, und ich mit dürstender Gespanntheit und Begierde Sinn und Worte und Schönheit dieser Stunde in mich aufnahm. Mein Geheimstes und Innerlichstes, das eben noch voller Scham zurückgedrängt war und vieles davon mir selber noch kaum bewußt, lag nun frei und offen zutage, der Dichter sprach in seinen Versen so groß und glühend und hinreißend von solchen Dingen, daß es mir Wonne erschien, mein eigen Teil daran zu haben, und daß ich nun ohne Scheu dachte, daß man in einem guten Ernste auch davon reden könne. Und als ich den jungen Menschen in seiner ganzen liebenden, jugendlichen Inbrunst diese Verse sagen hörte, war mir jene Welt, die mir bisher tot und unzugänglich und fern gewesen war, urplötzlich nahe gerückt, goldene Tore und ungeheure, schimmernde Reiche waren vor mir aufgetan, und ich gab mich voll tiefen Beglücktseins hin, sie zu erfassen.

Als es dunkel wurde, legte der junge Mensch das Buch weg, und wir waren eine Weile still. Dann fing er an, in die dämmerige Stube hinein zu sprechen.

»Ach Fräulein, wenn Sie wüßten, wie sehr ich Sie darum beneide, daß Sie dichten können! Es ist gewiß nicht wegen dem Ruhm oder weil Sie vielleicht später Geld damit verdienen können; bloß deshalb, weil Sie das Alles so in sich verschaffen können, und die Macht haben, es mit einem Lied oder Vers wieder von sich zu tun. Sie haben es unverschämt gut, wissen Sie, daß Sie Ihre Leidenschaften und Ueberschwänge so ableiten können, wenn sie Ihnen zu viel werden. Wenn Sie mir bloß ein bißchen davon geben könnten! Sehen Sie, das ist bei mir sicher eine Krankheit und nicht in Ordnung so; ich kann alles Große und Schöne nur in ganz mäßigen Grenzen ertragen; wenn es darüber hinaus geht, bin ich einfach am Ersticken und am Verrücktwerden!«

Er lief zum Fenster hinüber. »Da ist nun bloß ein Himmel in der Nacht und ein dunkles Feld darunter; und das ist überall so und schon millionenmal so gewesen, und alle andern Leute sehen's auch, und die wenigsten sagen was drüber. Mich aber kann schon dieses, weil es so schwermütig ist und so still und so unsäglich schön, vor Wonne zum Stöhnen und Rasen bringen. Und ich stehe stumm dabei und kann es in kein noch so armseliges Reimlein und Tönlein bringen, und es erdrückt mich doch fast! Wenn nun einmal irgend etwas Großes und Gewaltiges über mich kommt, – o, ich weiß nicht, was dann draus wird!«

»Goethe sagt das auch manchmal,« fuhr er traurig fort; »es ist im Werther; hier, hören Sie.« Er nahm ein Buch, holte eine Kerze her und zündete sie an. – »Die menschliche Natur hat ihre Grenzen: sie kann Freude, Leid und Schmerzen bis auf einen gewissen Grad ertragen und geht zugrunde, sobald der überstiegen ist. – – Und hier, ein paar Seiten vorher, als er von jenem Frühlingsmorgen schreibt: – ich gehe darüber zugrunde, ich erliege unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.« –

»Ach, wie ein Anderer sich vor Schwermut und Kummer das Leben nimmt,« sagte Gottfried, »so könnte ich's vor Lust und Ergriffenheit tun; wie selbiger seine Trauer einfach nimmer ertragen kann, so geht mir's mit der Schönheit; ich empfinde sie in manchen Augenblicken so übermäßig stark, daß meine Nerven dann völlig versagen!«

»Aber können Sie denn nicht doch etwas tun, um das in sich zu verschaffen?« meinte ich; »etwa Klavier spielen oder singen oder zeichnen, oder schließlich tanzen – –?«

»Das geht alles nicht; ich bin talentlos wie ein Sägbock. Und mit der Musik steh' ich überhaupt verschroben. Ich habe keine Ahnung von Gehör; Musik ist mir meistens bloß ein Geräusch, dem ich nichts abgewinnen kann. Als Kind habe ich geheult, wenn jemand sang oder Klavier spielte; dann kam eine Zeit, wo ich mir wirklich Mühe gab, etwas Schönes an der Musik heraus zu finden, und wenn jemand Klavier spielte, strich ich drum herum wie um ein verschlossenes Gartentürlein. Aber ich lief meistens betrübt wieder davon, denn es war so wie vorher auch. Und ich konnte ungeheuer wütend werden, daß es etwas gibt, wo jeder sich umsonst Genuß und Schönheit und Erquickung holen kann, und ich allein kapiere es nicht und habe nichts davon! – – Jetzt bin ich manchmal froh dran, daß es so ist; wenn ich auch noch Musik empfände, könnt ich vollends ganz umschmeißen. Sehen Sie, ich gehe so leidenschaftlich gern ins Theater, wenn nun ein wirklich großes, schönes Stück gegeben wird, habe ich immer Angst, ich müßte etwa einmal stöhnen oder heulen, oder ich könne nicht bis zum Schlusse still sitzen, oder es sonstwie nicht ertragen; da ist es mir immer recht, es ist ein bißchen Musik dabei, oder es ist eine Oper; das Geschätter und Getöne hält mich dann so angenehm nüchtern und kühlt mich ab. – Gelt, Sie sind entsetzt –; es ist aber leider wahr.

Aber darin haben Sie recht: es wäre vielleicht alles gut bei mir und in Ordnung, wenn ich musikalisch wäre und irgend ein Instrument spielen würde. Mein halbes Leben gäb ich drum, wenn ich geigen könnte!«

Er schwieg und sah bekümmert in die Flamme seiner Kerze.

»Ich glaube,« sagte ich nach einer Weile, »ich habe schon ehe Sie mir das gesagt haben, gewußt, daß so irgend etwas Besonderes mit Ihnen los ist.« Und ich erzählte ihm, wie er mich diesen Sommer schon manchmal aus dem Gleichgewicht gebracht habe, und wie er gerade es gewesen sei, der mir immer jenes Reich der Feinen und Gebildeten verkörpert habe, nachdem es mich so sehnsüchtig zöge.

»Ach, Fräulein,« rief er nun wieder hell und lebhaft, »ich glaube, da sind Sie auf einer falschen Spur. Sie müssen doch nicht an mir hinauf sehen, weil ich Bücher habe und Zeit, sie zu lesen, und weil ich einen sauberen Kittel besitze und im Gras liege, wenn Sie arbeiten; das ist doch nicht so etwas extra Schönes oder Erstrebenswertes, und Sie können jederzeit auch dazu gelangen, sobald Sie nur wollen und schließlich Zeit und Geld dazu haben. Ich verstehe Sie schon, wenn Sie von einem geistigen und unsichtbaren Reich sagen; aber spüren Sie denn nicht, daß Sie da schon lang selber drin sind? Ach, Fräulein Agnes, wenn man solche wunderbaren Sachen macht wie Sie!

Aber es gibt etwas, das mir eigen ist und vielleicht haben Sie das herausgemerkt; es ist das Einzige, warum Sie mich vielleicht ein bißchen liebhaben und verstehen müssen. Ich wüßte sonst nichts, das mich Ihnen näherbringen könnte, und ich möchte doch so schrecklich gern, daß ich ein bißchen Ihr Freund sein darf.

Sehen Sie, ich habe mich schon darüber besonnen und kann es Ihnen doch nicht so recht sagen. Es ist vielleicht das: daß ich oft bei Nacht plötzlich aufstehen muß und ans Fenster laufen und eine Weile in die Nacht hinaussehen, oder daß ich einen Baum oder eine Blume oder ein Bild liebhaben muß wie einen Menschen und stundenlang bei ihm sein und es küssen und mit ihm sprechen und lauter solche Sachen, die doch ein anständiger und geistig normaler Mensch eigentlich nicht tut. Und zum Beispiel, daß es bei mir gar nicht auf irgend etwas Aeußerliches ankommt, wie es mir zu Mute ist und in welcher Laune ich bin; denn wenn das wüsteste Wetter ist und ich dazu hin Hunger oder einen Schnupfen habe oder mir jemand gestorben ist, kann es mir trotzdem unbegrenzt fröhlich zu Mut sein, und dagegen bin ich oft traurig, wenn alles stimmt und es mir gut geht. Oder daß ich mich so wahnsinnig drüber ärgern kann, wenn einer, der bloß ißt und trinkt und schläft oder nach Geld oder einer guten Stelle strebt, glücklich ist und sich noch damit rühmt, daß es ihm so gut geht; und dabei ist er eine ganz gemeine Kreatur und das, was er tut, gar nicht gelebt. Oder daß ich einem schönen Menschen nachlaufen muß oder ihn immerfort ansehen, auch wenn es sich gar nicht gehört. Und wenn mich etwas freut oder wenn ich es schön finde und dafür begeistert bin, geht es manchmal mit mir durch, und ich muß heulen oder stöhnen oder davon laufen und kann mich nicht mehr bezwingen.«

Er atmete tief auf und sah mich erregt und begierig an.

»Und nun müssen Sie sagen, ob Sie das nicht auch so haben, und ob wir nicht ein wenig zusammen gehören, gerade, weil wir beide so – so sind?« – –

Ich nickte ihm zu und mußte lächeln. »Ein bißchen schon, wenn Sie das tröstet, Herr Finkenlohr, aber ich weiß nicht einmal, ob mir das recht sein soll. Ich habe auch nicht so viel Zeit dazu und bin dazuhin älter als Sie und muß nun anfangen, vernünftig zu werden. Es ist für ein armes Mädchen wie mich, das schaffen muß und sich durchbringen, nicht sehr rentabel, so zu sein.«

Und ich erzählte ihm Urschels Urteil über solche moderne Menschen, von denen sie sagte: – weißt du, das sind gewiß sehr interessante Leute, und man kann recht schöne Bücher von ihnen schreiben; aber im Grund sind es eigentlich doch traurige und erbarmungswürdige Tröpfe, leisten nichts und bringen die Welt um keinen Pfifferling vorwärts; wenn sie ordentlich schaffen müßten, wären sie bald gründlich kuriert. –

»Ich bin dann immer beschämt in mich gegangen. – Aber nun muß ich doch lachen, wie ich Ihnen das erzähle und tue, als ob ich Ihre Großmutter wär. Und ich bin doch im gleichen Spital krank!«

»Ach, da hat Ihre Freundin aber nicht recht gehabt,« rief er; »mein Gott, ja, wenn man sich Mühe gibt, kann man sich vieles abgewöhnen, und wenn ich arbeiten muß wie ein Zugochs, werde ich auch nicht mehr viel andere Gelüste haben als Hunger und Schlaf. Aber dann wär ich glücklich auf jenem Bäcken- und Flaschnersstandpunkt angekommen und müßte mich selber anspucken vor Verachtung. Wenn einer ein Dichter ist oder Musiker oder sonst irgend etwas Positives dabei leistet, dann lassen die Leute seine Art und seine Launen und seine Empfindsamkeit schon gelten; sie sind nur nicht zufrieden, wenn nichts dabei herauskommt.«

»Wer weiß,« fiel ich ein, »vielleicht werden Sie doch noch einmal ein Dichter. Wenn Sie doch das Spintisieren und Sonderbarsein dazu schon in sich haben.«

Nun sah er mich belustigt an. »Wissen Sie, ich hoffe immer, Sie verraten mir das Rezept dazu. Ich habe so eine blasse Vorstellung, daß man sich dazu auf sein Sofa setzt und das, worüber man dichten will, als Aufsätzlein oder in Stichwörtern sauber auf ein Papier schreibt:

Rose

Mädchen

duften

Abendsonne

wunderbar

und nachher probiert man dann, wie sich's reimt. Nicht wahr?«

Nun mußten wir beide lachen und kamen darüber in ein kurzweiliges und reges Gespräch, daraus uns unvermutet und erschreckend der erste Hahnenschrei riß.

»Um Gotteswillen, Herr Finkenlohr, es ist schon bald Morgen, und um halb sechs muß ich wieder im Stall sein!«

»Ach, lassen Sie sich's nicht gereuen! Schlafen können wir, wenn wir alt sind und klapperig und keine Zähne mehr haben. Ich freue mich doch so, daß Sie da sind. Und morgen kommen Sie wieder, gelt?«

Er stand so vor mir, seinen blinzelnden Kerzenstumpf in der Hand, und sah mich mit einem prächtigen Lachen an, daß es mir warm und glückhaft durch den Leib rann und ich ihm lächelnd meine Zusage nickte.

Indem wir uns dann gute Nacht und guten Morgen sagten, bat ich ihn, er möge mir noch geschwind zum Abschied die letzten jener Verse lesen, die mir am Abend so gefallen hätten. Dann stand ich an der Tür und hörte zu; und als er zum Schlusse kam, ging ich still hinaus und ließ einen Spalt offen, daß mich Vers und Kerzenscheinlein noch ein Stück die dunkle Stiege hinauf geleiteten. In meiner Kammer aber ließ mich ein seltsam gehobenes und absonderliches Gefühl, das ich noch nie gekannt hatte und mir nicht zu erklären wußte, noch eine Weile nicht zur Ruhe kommen; es packte mich so, daß ich in sanfter Verwirrung meinen alten Kleiderkasten küßte und streichelte, meinen Kopf am Fensterrahmen rieb und die Katze, die, durch meinen nächtlichen Gang aufgestöbert, sich schnurrend vor der Tür herum trieb, zu mir herein nahm und zärtlich aufs Fußende meiner Bettstatt legte, bis ich durch dergleichen närrischen und gefühlvollen Hokuspokus endlich doch im Bette landete, wo ich mir mit andächtiger Freude die eben verklungenen Verse wiederholte, soweit ich sie noch im Gedächtnis behalten hatte. Ich bekam sie aber doch nicht ganz zusammen, besann mich fürchterlich darauf, reimte und reimte und brachte einen unendlichen Unsinn zuwege, worüber ich am Ende in vergnügter Beschämtheit einschlief.

Wir waren nun im September und die strengste Feldarbeit vorüber; dies kam mir mächtig zugute, denn nach einem vierzehnstündigen Erntetag wäre ich abends auch über dem Faust – eingeschlafen. So aber begann mich nun der junge Mensch in ein schwärmerisches nächtiges Leben hineinzuziehen. Es ging eine herrliche Zeit an, und jeder Tag war ein Fest.

Des Morgens lief ich mit zwei großen Körben in die weiten Baumwiesen hinüber, um das Obst aufzulesen, das in der Nacht gefallen war; und das köstliche Schauspiel des frühen Nebels, der zu Anfang noch mit zauberischem, blauem Duft die Ferne verhing und vor dem klaren und kräftigen Glanz der heraufsteigenden Sonne in leise Dünste verrann, erfüllte mich mit andächtiger Wonne, darein der Jubel meines bewegten Herzens samt allen Versen, Geschichten und heiteren Gedanken des vergangenen Abends und den schönen Träumen der Nacht frohbeschwingt mit einstimmte. Ueber Mittag gab es in Haus und Küche drängend viel zu schaffen, und ich war, wenn auch nicht müde, so doch weniger lebhaft dabei als die Wochen zuvor, denn stetig ging mir stille und in innerer Abgekehrtheit die neu aufgeblühte Lust weiter. Kam es aber gegen Abend, so wurde ich von einer hellen und mächtig feierlichen Stimmung erfaßt; kaum war nach der Abendsuppe der Löffel gewischt, verschwand ich auf meine Kammer, um dort eine Reihe von Handlungen zu verrichten, die mir unendlich wichtig und durchaus notwendig zu den bevorstehenden wunderbaren Stunden schienen, und die ich so weihevoll als möglich ausführte. Ich holte mir eine große Schüssel voll frischen Wassers und wusch mich darin vom Kopf bis zu den Füßen, daß mich die Haut brannte vor Sauberkeit, bürstete die Haare frisch und flocht meine Zöpfe aufs sorgfältigste, auch zog ich meine schönsten Schuhe und ein helles, gutes Kleidlein an und das alles mit einer Weihe, als ob's zu einer heiligen Handlung ginge, und jeden Schuhbändel knüpfte ich mit Feierlichkeit und jeder Bürstenstrich war freudevolle Andacht. War ich dann fertig und ging die dämmerige Stiege hinunter zu Gottfrieds Stube, so konnte ich nie vor seiner Tür stehen, ohne daß mein Herz leise und verwirrend zu klopfen anfing. Wenn ich hineinkam, stand er immer am Fenster wie an jenem ersten Abend, daß aus aller Dämmerung heraus sein liebes Gesicht sich leuchtend abhob und voll eines warmen, roten Abendscheins war, in sanftem Gewoge ging der Wind in den Vorhängen um ihn her, und seine Stimme tönte mir herzlich und voller Freude entgegen.

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
30 июня 2018
Объем:
250 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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