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Читать книгу: «Die Ströme des Namenlos», страница 5

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»Liebe, liebe Urschel!« – – –

Am nächsten Morgen war Urschel verschwunden. Man fand ihre Schürze und nassen Kleider am Fluß; die Leute sagten, sie sei ins Wasser gegangen, weil sie von dem Schulmeister ins Unglück gebracht und verlassen worden sei, und Männer mit Stangen suchten am Flusse nach ihr. Ach, ich glaubte es nun auch, ich meinte, es noch gewisser zu wissen, als die andern!

Es war alles so namenlos traurig und schwer und entsetzlich.

Die Männer fanden sie nicht; der Leichnam war wohl vom Flusse mit fortgerissen worden.

– Nach acht Tagen bekam ich einen Brief.

»Liebe Agnes, ich bin in Hamburg. Damals in der Nacht habe ich mich im Fluß ertränken wollen; ich bin aber nicht untergegangen, weil ich so gut schwimmen konnte; es war zum Lachen. Jetzt ist es mir auch so recht. Ich will nach Amerika. Wenn ich drüben bin, schreib ich Dir wieder, und wenn es schön ist, mußt Du auch kommen; dann freue ich mich.

Du wirst schon wissen, warum ich es habe tun wollen. Aber ich fange jetzt an, es lieb zu haben. Wenn es ein Mädchen wird, heiße ich es nach Dir. In Hamburg gefällt es mir gut; ich war schon am Hafen und habe Schiffe gesehen; sie sind bloß ganz fürchterlich viel größer, als ich sie mir vorgestellt habe. Wenn ich bei der Ueberfahrt nur auch die Maschinen sehen darf! Neger habe ich auch schon gesehen und gestern einen Chinesen.

Viele Grüße und einen Kuß von Deiner Urschel.«

– Ich lachte und weinte, war halb närrisch vor Freude und las den Brief wohl hundertmal. Ach, das war sie, wie sie leibte und lebte; meine liebe, liebe Urschel!

– Sie hat mir nie mehr geschrieben.

Es ist mir, als habe ich es dazumal schon leise und dunkel geahnt, daß sie mir für immer verloren sei. Und doch war es nun, da ich sie auf einem Schiff über's Meer fahren wußte und einer neuen, begehrlich ersehnten Zukunft entgegen, lange nicht so trübe und furchtbar, und tausendmal besser zum Ertragen für mich, als wenn sie die Stangenmänner vom Flusse aufgefischt hätten.

Aber die fröhliche, helle Flamme meines Lebens fiel jäh in sich zusammen, nun, da ihr die Nahrung ausging. Es ist mir vergönnt gewesen, eine Zeitlang von eines prächtigen und schönen Menschen Leben mitgerissen zu werden und aus seinen Augen die Welt zu sehen; da war sie reich und bunt und voller Leben und Ereignis und Unerschöpflichkeit, und unser Schicksal war das der Welt, weil wir kühn mitten drin uns treiben ließen wie ein Boot auf bewegtem Wasser, selber bewegt, selber vom Wind und Sturm getrieben und dem großen, weiten Meer zusteuernd.

Und nun mit einem Schlage hatte ich mein eigenes, kleines, jämmerliches Dasein wieder, und sah mit Entsetzen, daß ich nicht Kraft und Witz und Fröhlichkeit genug hatte, es allein so weiter zu führen, wie es vorher mit Urschel gewesen war. Mein Schicksälchen lief grau und armselig weiter und wartete auf den großen Strom und das weite Meer, dem wir damals so nahe standen, und mußte noch lange warten.

In einer halb blöden Stumpfheit lebte ich die nächsten Monate vor mich hin. Einmal noch kam all der Schmerz grausam neu über mich; in der Stunde, da ich mein Erbe antrat: da ich den Schiller, Kopernikus und Zeppelin von der Wand nahm und ihn unten in meinem Koffer barg.

Tags darauf zog in einem schwarzwollenen Kleid und mit falschen Zähnen eine dicke Nane nebenan ein.

Schon von meiner Kindheit an war ich gewöhnt, mit irgend jemand in herzlicher Vertrautheit zu leben und alles zu bereden, was mir auf der Seele lag. An Margret und an Elsbeth hatte ich mit der gleichen, warm erwiderten Liebe gehangen; und nun, da durch Urschels wundersame Freundschaft alle Hingabe und Liebe und Neigung in mir geweckt und erwartungsvoll war, stand ich allein, suchte vergebens nach einem Menschen, dem ich meine Liebe schenken könnte, und das schwere Blut meines Vaters regte sich in mir dunkel und drängend.

Und da war es wieder die Neigung zu der schönen, kühlen Frau Gunhild, die mich packte wie ein toller, ungebändigter Sturmwind, und es war keine Urschel mehr da, die mich mit treuen, fröhlichen Händen davor bewahrte.

Wenn sie an mir vorüberging, klopfte mir das Herz vor Beklemmung, ich zitterte, wenn sie mich rief oder ansah und wenn sie mit mir sprach, kamen mir Tränen in die Augen. In den einsamen, schwülen Sommernächten machte mich die Leidenschaft halb verrückt; ich küßte im Flur ihren Hut und ihre Schuhe, manchmal schlich ich mich lautlos vor ihre Schlafzimmertür, warf mich auf den Boden und krampfte meine Finger in die Matte. Und ich dachte oft in schmerzlicher Verwunderung, wie es denn möglich sein könne, daß diese ungeheure Kraft so ganz verloren und ohne Widerhall bleiben könne; ob es da nicht geheime Strömungen gäbe, Fernwirkungen, die Träger und Ueberbringer solcher stummer Sehnsüchte wären. Ach, sie mußte es doch spüren, daß ich sie lieb hatte!

Schließlich wurde ich mager und müd und kam in der Kraft und Gesundheit herunter; ich vernachlässigte meine Pflichten, und eines Abends, als ich den Tisch vom Nachtessen abräumte, stellte sie mich zur Rede.

»Was ist mit Ihnen, Agnes? Sind Sie krank?«

Da sagte ich ihr mit abgewandtem Gesicht alles, wie ich sie lieb hätte und die Not meiner Nächte. Ich fragte sie traurig, ob sie es denn nicht gespürt habe, daß ich ihr leidenschaftliche Liebe entgegenbringe und Tag und Nacht sehnsüchtig an sie denke.

Sie schwieg lange, wie es so ihre Art war. Dann sprach sie langsam: »Nein, ich habe nichts gespürt. Und dies kommt daher, weil ich nichts spüren will! Sehen Sie, ich kann so etwas nicht verstehen. Kämpfe und Schmerzen hat ein jeder Mensch, auch ich; aber es ist etwas in mir, das mich davor behütet, von einer Leidenschaft so jämmerlich haltlos gemacht zu werden, wie Sie. Ich bin mir einfach zu gut dafür; ich habe es nicht nötig, jemand nachzulaufen, der meine Liebe nicht möchte. Und ich will es Ihnen offen sagen: die Leute, die so wenig Stolz und innere Kraft haben, daß sie nicht Herr über sich selber werden, die verachte ich; eine solche Liebe ist keines rechten Menschen würdig, und ich möchte nicht, daß mich – so – etwas – berühre.« –

Dann faltete die stolze Frau ihre Serviette zusammen, verließ das Zimmer und ließ mich unsagbar verwettert und keines Wortes mehr mächtig zurück. Wie betäubt starrte ich auf ihren leeren Stuhl und als ich mich endlich wieder gefaßt hatte, schlich ich mich leise hinaus und die Treppe hinunter, um meinen Jammer an den Fluß zu tragen. An einer Stelle, unweit des Wehres, wo ich oft mit Urschel gesessen hatte, und wo man weit über das Tal sah, setzte ich mich ans Ufer, zog meine Schuhe und Strümpfe aus und hängte die Füße ins Wasser, – und bedachte, daß es wohl das beste wäre, ich tue das, was meine Urschel nicht fertig gebracht hatte.

Es war ein schwüler, von einer seltsam bangen Unruhe erfüllter Abend; ein schweres Wetter stand am Himmel, im Westen schoben sich die Wolken über einem verhaltenen Leuchten, und in wunderbarer, bläulicher Klarheit und Nähe lagen Berge und Tal und Fluß in der fahlen, dünnen Gewitterluft. Dicht über dem Wasser aber strichen zahllose Schwalben, wie in angstvoller Hast mit sausendem Schwirren hin und her; dazu hörte man neben dem Rauschen des Wehres hie und da einen dumpfen Donner über das Gebirge her in die gespannte, lauernde Stille hinein.

Und wie ich nun in Elend und Trauer daran dachte, daß gerade ich, die das dürstende, begehrende Blut meines Vaters hatte, das mir schier die Adern sprengte vor drängender, sehnsüchtiger Gewalt, alle Menschen, die mir lieb waren, wieder verlieren müsse, – da ich Elsbeth und den Vikar, Urschel und die schöne Gunhild im Geiste vor mir sah und wie heiß und echt ich sie liebte und Schmerzen um sie litt und Leidenschaften verwürgte, und nun erkennen mußte, daß mir keines von ihnen mehr blieb, – da ich das Leben, das ich glaubte in Tanz und fröhlichen Nächten verstanden und besessen zu haben, so nackt und unverhüllt in seiner eigenen, nächtigen Unruhe und stummen Sehnsucht sah, da fiel es mir urplötzlich wie ein Schleier von den Augen; es erging mir wie Urschel, da sie sagte: ich bin so grausam gescheit; ich weiß jetzt alles!

Es kam eine Erkenntnis über mich, schmerzlich freilich, grausam schmerzlich, und doch wie ein göttliches Licht: ich wußte, daß ich das Leben nicht gekannt hatte bis zu dieser Nacht und daß es viel trauriger und viel schöner sei als ich je geglaubt hatte. Ich sah ein, daß man keinen Schmerz umsonst leide, ja, daß Schmerzen und Verluste sein müßten, um einen reif und weise und wahrhaft glücklich zu machen. Und ich gelobte, kein Leid und keine Sehnsucht mehr in so läppischer Ungebärdigkeit auszutoben wie die Liebe zu Frau Gunhild; was von jetzt an an Schmerzen über mich käme, wollte ich bewußt und still und eines tapferen Menschen würdig hinnehmen und tragen. Und ich war froh, daß mir das Leben stumm seine traurigen Hände bot, daß ich sie ergreife und mittue; jetzt, in Not und Einsamkeit, da ich nichts anderes mehr hatte, kam die gütige Mutter Natur selber, mich zu trösten, und ich sah in einer jähen Offenbarung ihre allmächtige Schönheit und Größe.

Es wurde dunkel um mich; die Nacht hing in vielen drängenden, unerlösten Gewittern; es fiel kein Tropfen, nur irre Lichter zuckten über den verwölkten Himmel, und der schwüle Wind fuhr durch die Uferbüsche. Und mit jedem Wetterleuchten wurde es klarer in mir und gewisser; und als ich die Füße aus dem Wasser zog, war ich ein anderer Mensch als vorher. Ich brachte es nicht über mich, meine Schuhe anzuziehen; ich mußte meine liebe Erde unter den bloßen Füßen spüren und meinte, sie damit zu liebkosen.

Und als ich nun, die Strümpfe über die Achsel gehängt, über die Brücke heimwärts lief, dichtete ich einen Lobgesang an das Leben: »O du liebes, wonniges Leben, wenn du nichts wärst als Frühling und Sommer und Winter, so wärst du dem, der dich mit offenen Augen sieht, nichts als Lust und Unerschöpflichkeit; und wärst du nichts als Lieben und Schmerzenhaben und Geliebtes wieder verlieren, so wärst du köstlich und wundersam!«

Und es fielen mir Lieder ein und Gedanken, und ich fing an zu dichten und dachte lachend, wie es schon einmal ein Fußbad gewesen sei, das mich derartig angeregt habe und beschloß, falls ich das Dichten einmal nötig hätte, mich wieder eines solchen zu bedienen. –

Am andern Morgen kündigte ich Frau Gunhild meine Stellung; sie sah mich ruhig und ein wenig mitleidig an; nun, da ich mich selbst nimmer bemitleidete, rührte es mich nimmer, und ich kam glatt über den gefürchteten Augenblick weg. Dann schrieb ich auf ein Kindermädchen-Gesuch in einer Zeitung, schickte Gunhilds Zeugnis hin und bekam die Stelle.

Am ersten Oktober reiste ich. In einer windigen Morgenfrühe fuhr ich noch einmal über den Fluß, lief über Brücke und Markt, und es war mir wehmütig und froh zugleich zu Mute. Als ich Frau Gunhild zum letztenmal die Hand gab, blickte ich sie mutig und zuversichtlich an und hatte die Freude, noch einmal jenes köstliche, liebe Lächeln an ihr zu sehen, das mir wie eine freundliche Verheißung für mein ferneres Schicksal dünkte.

Nur ganz am Schlusse, als ich schon im Eisenbahnwagen saß, übermannte mich noch einmal der Schmerz um alles, was ich hier zurückließ; der Zug fuhr langsam zum Städtlein hinaus, in der Platanenallee war es schon herbstlich kahl; ich konnte zwischen den Stämmen eine Reiterin erkennen, die in langsamem Trab daherkam und dem Zug nachschaute. Es war Gunhild; und als ich die stolze Frau noch einmal so fein und königlich auf ihrem Pferd sitzen sah, lief es mir heiß die Backen hinunter. Ich blickte nach ihr zurück, solang ich sie sah und weinte bitterlich.

Mir ist, als habe sich von jener Reise an in meinem Leben eine bedeutsame Wandlung vollzogen; war ich seither, durch Kindheit und frühe Jugend gleichsam wie von einem gemächlichen und eigentlich garnicht zu mir gehörigen Strom zumeist durch traurige oder doch sehnsüchtige und halberfüllte Zeiten weiter gespült worden, so wurde jetzt mein Fahrwasser zur Brandung, ich stand mitten drin in Wirbeln und Geschehnissen, und es wurde mir wohl bewußt, daß dies zu mir gehörte, denn ich mußte streiten und mich wehren und festhalten, daß ich nicht unterging.

Wiewohl mein Leben auch heute noch bewegt und bunt genug hinläuft, so hat es doch mit jenen Stürmen nichts mehr zu tun; das alles drängte sich damals in ein paar kurzen Jährlein zusammen. Mit jener Reise war das zarte und träumerische Vorspiel zu Ende; brausend und hinreißend brach nun die große und seltsame Musik meines Lebens über mich herein.

Zunächst ging es nun noch betrüblich und langweilig genug zu.

Ich kam in eine fremde große Stadt als Kindermädchen, und ich, die Kräfte gehabt hätte, sechs wilde Buben zu versorgen, mußte nun, ohne daß ich im Haushalt mitangreifen durfte, ein kleines, schläfriges und sanftes Mädelchen hüten. Des Abends um neun Uhr mußte ich im Bette liegen und während der Nacht sollten fein säuberlich Fenster und Läden geschlossen bleiben, da ich mit der Kleinen in einem Zimmer schlief.

Ich durchlebte Stunden voll namenloser, drängender Unruhe, in denen sich meine Jugend, Gesundheit und Schaffenslust empörten gegen dieses aufgezwungene Müßigsein, – Augenblicke, in denen alles an mir zitterte vor zurückgedrängter Kraft und Vollblütigkeit und deren unerlöste Qual mich bedrückte wie eine Krankheit. Manchmal befiel mich dieses Fieber am Tage, wenn ich Leute schwere Arbeit tun sah, manchmal abends, wenn ich im Vorübergehen aus festlichen Sälen Tanzmusik hörte, meistens aber in der Nacht, wenn ich ohne Schlaf und Müdigkeit auf meinem Bette lag und alle Sehnsüchte, aufzustehen und etwa ein Stück in die Nacht hinauszulaufen, in mir unterdrücken mußte, da ich das Kind nicht allein lassen durfte.

Und ich war es doch gewöhnt, die halben Nächte durchzuschwärmen! Nun lag ich trostlos allein im Dunkeln, durfte kaum ein Fensterriegelein offen haben, indeß doch von draußen mein liebes Leben in vielen lockenden Stimmen herein drang. Und meine wache, begehrende Seele lag wie ein gefangenes Raubtier und durfte nicht mittun, und jeder Katzenschrei in der Ferne konnte mich zum Stöhnen bringen vor Jammer.

Die langen Winterabende verbrachte ich so gut es ging mit Lesen; auch fing ich, halb aus Langeweile, halb aus wirklichem Interesse an, mein bißchen Französisch und Englisch aus der heimatlichen Realschule weiter zu treiben; doch fehlte mir hierzu die Konversation und zum ersten ein geistiges Gewecktwerden überhaupt. Wohl hatte ich mit Urschel zusammen geschichtliche Romane und Dramen mit Genuß und Verständnis gelesen, aber die moderne Literatur und vor allem Lyrik schienen mir lediglich Empfindung und Ausdrucksform einer gebildeten, mir unendlich fernstehenden Menschenklasse zu sein, davon ich mich bald im Innern unberührt abzog und deren Sinn mir unverständlich und unerschlossen war.

Im Frühsommer aber ging mir wieder ein Türlein zum Leben auf. Mein Pflegling bekam den Keuchhusten und wir verreisten zum Zwecke einer Luftveränderung in eine hochgelegene und waldreiche Gegend, um für einige Wochen in einem von allem Verkehr meilenfernen ländlichen Wirtshaus Wohnung zu nehmen. Das Anwesen lag einsam inmitten Wiesen und Wald; man ging bis zum nächsten Dorf wohl eine Stunde. Es war ein großer Bauernhof mit Knechten, Mägden und vielem Vieh; früher hatte das Wohnhaus, hart an der Landstraße gelegen, den vorbeiziehenden Fuhrleuten als Herberge gedient, nun war es zu einer Art Kurhaus umgewandelt, und man wußte nicht, machte es die köstliche Luft da droben oder die gedeihliche Sorge der alten Wirtin für das Leibliche, die es einem so wunderlich wohl werden ließ.

Mit brennendem Neide sah ich die Mägde auf dem Hof und in den Ställen ihre Arbeit tun, hörte am frühen Morgen, wenn sie aufs Feld fuhren, ihr Gelächter und ihre fröhlichen Stimmen, und an den Sonntagen stand ich mit zuckenden Füßen an meinem Fenster, wenn ich wußte, daß sie drüben in der Scheuer mit den Knechten tanzten und die dünne Drehorgelmusik mir in den Ohren war. Einmal, als man die ersten Heuwagen einführte und alles, was auf dem Hof war, mit äußerster Kraft das seine dazu tat, um vor einem heraufziehenden Wetter das Heu hereinzubringen, ließ ich das Kind allein im Zimmer oben sitzen, rannte verbotenerweise in den Hof hinunter und half diebisch vergnügt beim Abladen. Die Wirtin sah es im Vorbeigehen, nickte mir zu und lachte ein bißchen; auch sprach sie später am Abend, als wir uns im Haus oben begegneten, eine Weile mit mir, wie dies schon öfters geschehen war. Ich faßte zu der freundlichen und klugen Frau ein sonderbares Zutrauen, schüttete ihr mein Herz aus und sagte mit etlicher Verzweiflung, daß ich es in diesem faulen und untätigen Zustand nimmer lang aushielte. Sie sagte aber nichts darauf und bot mir bald Gute Nacht.

Am andern Morgen, als ich mit der Kleinen früh ein wenig spazieren lief, sah ich sie durch ihre Aecker gehen, um zu besehen, was das Wetter geschadet habe. Als wir näher kamen, rief sie uns zu sich her und sagte, sie wolle etwas mit mir besprechen. Ich sah sie erstaunt an.

»Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen,« begann sie. »Ich möchte Sie Ihrer Herrschaft nicht abspenstig machen; aber wenn Sie sich doch einmal eine andere Stelle suchen, – dann können Sie zu mir kommen. Ich bin eine alte Frau und komme mit manchem, was getan sein sollte, nimmer so recht zustande; z. B. mit dem Briefschreiben und der feinen Wäsche, Flicken und solchen Sachen. Eine Bauernmagd kann ich dazu nicht brauchen, und meine eigenen Kinder sind verheiratet und weit fort von hier. Sie sollen es gut haben bei mir, auch im Lohn; und Sie können das Kochen lernen und das Feldgeschäft, wenn Sie das doch so gern tun.«

Als sie aber meine freudige Rührung heraufsteigen sah, fügte sie schnell hinzu: »Sie dürfen sich die Sache aber nicht so leicht vorstellen; Sie müssen schaffen wie ein Ochs und was dran kommt, – man kann da bei uns keinen Unterschied machen. Auch sagt man hier nicht Fräulein zu Ihnen, wie Sie das wohl gewöhnt sind, und Sie müssen mit den andern Mägden und den Knechten in der Küche essen. Ueberlegen Sie sich's wohl; ich will jetzt noch gar keine Antwort.«

Mir schoß einen Augenblick durch den Kopf, daß, wenn Frau Griffländer damals nicht gestorben wäre, ich jetzt wohl Studentin sein könnte, auch, daß ich in der Schule einstens Englisch gelernt habe und daß mein Bruder ein gelehrter Herr sei; – und daß ich trotz alledem eben im Begriff war, als Bauernmagd auf einem weltfernen Hof zu landen, wo ich mit den Roßknechten und Säutreibern zusammen am Tisch essen mußte.

Aber es brachte mich bloß zum Lachen; ich streckte der alten Frau, rot vor Freude und Dankbarkeit, die Hand hin: »Ich kann es Ihnen jetzt schon sagen, Frau Finkenlohr; ich weiß es heut so gut wie in einem Vierteljahr: ich komme, sobald ich kann!«

Somit war der Bund geschlossen; wir lachten eins das andere an, und nach sechs Wochen hielt ich in einer stillen, niedlichen Stube des alten Wirtshauses meinen Einzug.

Drittes Buch

Das Haus hieß »Zum gottlosen Zinken«; und wenn dieses sich auch aus seiner ruhmreichen Vergangenheit, wo es allem fahrenden Volk und Gesindel zum Unterschlupf gedient hatte, schon einigermaßen erklären ließ, so kam mir der Name zu Anfang doch mächtig befremdlich und lächerlich vor. Hör ich ihn aber heute, nach all den vielen Jahren, einmal nennen oder ist er mir selber auf den Lippen, so kommt mir eine Innigkeit und quellende Wehmut zum Herzen, als ob man von einer vergangenen Liebschaft, einer seligen Kindheit oder etwas ähnlichem Schönen und Köstlichen spräche. Ich habe die glücklichste Zeit meines Lebens dort oben zugebracht; es war, als sei mir dort der Boden geschaffen, für den ich geboren sei und die Luft, in die ich gehöre und das Leben grad so, wie es für mich am herrlichsten war.

Das Land war eine Hochebene, von sanften Hügeln unterbrochen und an ihrem Ende gegen waldige Flußtäler steil abfallend. Der Winter war lang und rauh, von ungeheuerlichen Stürmen begleitet, die in rasender Wucht über das freie Land hinfuhren und deren ähnliche ich anderorts nirgends erlebte. Sie tobten Tage und Nächte lang ununterbrochen; als sie in meinem ersten Herbst droben einsetzten, schlief ich die Nächte nicht vor Zittern und jämmerlichem Elendsgefühl und lief bei Tag herum wie ein verwehtes Blättlein. Die Knechte hatten ihren Spott mit mir; ich gewöhnte mich aber bald daran; später hatte ich die Stürme gern und liebte besonders die föhnigen, warmen, feuchten im April und Mai.

Zwischen dem sich endlos hinziehenden, herben Winter lag, kaum, daß Frühling oder Herbst gewesen wäre, ein kurzer, glühender Sommer. Die Sonne hatte eine wunderliche Kraft dort oben, sie schien mir stärker zu brennen als in meiner Heimat und an allen Orten, die ich kannte; man meinte, ihr näher zu sein, als im Tal drunten. Das Köstlichste aber war die Luft droben, im Winter und Sommer gleich klar und rein und würzig vom Wald her. Auch in sturmfreien Zeiten war sie leise bewegt, sodaß selbst in die glühendsten Tage ein Hauch von Frische und Kühle kam.

Zu Anfang war ich auch bei der mäßigsten Arbeit sterbensmüde, matt und abgeschlagen in allen Gliedern; Frau Finkenlohr aber lachte dazu und meinte, es ginge allen Fremden so in der ersten Zeit; man müsse die gute Luft erst ertragen lernen. Und es war so; wie sich meine Seele mit den Stürmen vertraut machte, so gewöhnte sich mein Körper an Luft und Sonne und was es an Gutem droben noch gab. Ich ging in die Höhe und Breite und war am Ende des Sommers braun wie eine Haselnuß.

Die Leute dort oben paßten zu ihrem Land; sie waren rauh, derb, außen und innen und ihren Stürmen und Wettern gewachsen; aber es war, als sei von der Glut ihrer Sonne ein Teil in sie übergegangen; selten hab ich so ein lebenslustiges und leichtsinniges Völklein beieinander gefunden, wie im gottlosen Zinken droben. Mir war es recht. – Auch die Wirtin stammte von der Gegend; sie war eine Bauerntochter, hatte aber einen Geschäftsmann geheiratet und ihr Leben im Unterland zugebracht. Erst im Alter und als ihr Mann gestorben war und die Kinder versorgt und verheiratet, war sie wieder heraufgezogen und hatte den gottlosen Zinken gekauft, der damals in einem bösen, verlotterten Zustand war.

Diese Frau genoß ein Ansehen in der ganzen Gegend wie ein König. Es waren eine Menge Anekdötlein und absonderlicher Geschichten über sie im Umlauf, da sie schon als Kind ungemein klug und willensstark gewesen sein mußte. So habe einst ihr Vater mit einem Nachbarn in einem bösen Streit und Prozeß gelebt; kein Advokat und kein Richter der Umgegend habe zu ihrem Vater geholfen, obwohl das Recht auf seiner Seite gewesen sei; denn der Nachbar war der reichste und mächtigste Hofbauer weit und breit. Da sei sie kurzer Hand eines Morgens auf einen Gaul gestiegen und gerades Wegs zum Herzog in die Residenz geritten und habe ihm und seinen Räten die Geschichte vorgetragen. Worauf der Herzog, der an dem kühnen und wohlgestalteten Bauernmädchen, das kaum zwanzig Jahre alt war, seine Freude hatte, denn auch für eine glänzende Abhilfe sorgte.

In ihrem Alter nun machte sie keine solchen abenteuerlichen Sprünge mehr. Als ich sie kennen lernte, war sie schon über siebzig; sie war ein bißchen dick und ihr freundliches Gesicht von einer Menge winziger Fältchen bezogen; auch saß auf der linken Seite ihrer Nase eine komische, kleine, braune Warze gleich einem unverschämten Witzlein. Sie arbeitete von früh bis spät in einer geruhsamen und vergnügten Art, die es einem unendlich wohl machte, um sie zu sein. Im übrigen bestand ihr Wesen aus vielen wunderlichen, halb gütigen, halb heiteren und spassigen Eigenheiten. Wenn sie ins Dorf ging, führte sie in ihrer Rocktasche stets eine Schnupftabaksdose voll gestoßenen Zuckers mit sich; schon von weitem sprangen ihr dann die Kinder entgegen und zeigten ihre Hände her. Wer aber eine sauber gewaschene Hand hatte, durfte seinen Zeigefinger ablecken und damit in die Dose fahren, sodaß er um und um mit Zucker behangen war.

Von der ganzen Gegend kamen die Leute zu ihr, um sich Rat und Beistand zu holen. Sie wies nie einen ab und gab einem jeden freundlich und so gut sie konnte Bescheid; nach einer Weile aber streckte sie ihm vergnügt die Hand hin: »Ich will Sie jetzt nimmer aufhalten; Sie werden pressieren!« und geleitete ihn mit sanfter Entschiedenheit zur Tür.

Hängte sie Wäsche auf, so war, wie auf Kommando, fast stets der strahlendste Sonnenschein; darob war Frau Finkenlohr weit und breit berühmt. Im Heuet schickten die Bauern ihre Mägde, zu fragen, wann im gottlosen Zinken gewaschen werde, damit man sich mit dem Heuen darnach richten könne. – Hatte man einen bösen Buben, so schickte man ihn auf den Zinken als Knecht; Frau Finkenlohr brachte ihn zurecht. Hatte man ein Geldlein nötig, so lieh es Frau Finkenlohr; war eine Kuh krank, wußte jene mehr als der Tierarzt, und kam einer zum Sterben, so schickte man zur Zinkenwirtin vor dem Pfarrer.

Dazu trug sie Sommer und Winter Kleider von einer fröhlichen rötlichbraunen Farbe mit einem sanft abtönenden Geflimmer schwarzer Strichlein drin; zum Ausgehen einen kühnen und leise wippenden Kapotthut nach längst entschwundener Mode, zum Arbeiten aber eine blaue Schürze dazu, sodaß sie, wenn man noch das graue Haar und die roten Bäcklein ansah, allezeit einen vergnüglich farbigen und aufheiternden Eindruck machte.

Was es auf dem Hof an Gutem, Schönem, Wertvollem und Heiterem gab, sei es an Arbeit oder Genuß gewesen, das ging fast alles von dieser Frau aus; und je mehr ich mich diesem wonnigen Leben hingab, desto tiefer wurde in mir die Verehrung und Liebe zu ihr. Ich war noch gar nicht lang im gottlosen Zinken, als ich in einen verwunderlichen und komischen Zustand geriet: ich spürte mit einemmal, daß ich in die dicke alte Frau verliebt war – verliebt mit allen Finessen und zu diesem Zustand gehörigen Stimmungen und gelegentlichen Nöten, wie ich es etwa in einen schönen jungen Herrn hätte sein können. Nahm ich mir voller Ernst und Energie des Morgens vor, ihr nicht den ganzen Tag lang nachzulaufen wie ein Hündlein, so war ich, kaum sah ich die blaue Schürze hinter irgend einem Stall oder Wiesenhang auftauchen, unversehens an ihrer Seite, um zornentbrannt über mich selber und beschämt wie ein armer Sünder alsobald wieder wegzulaufen, wenn sie mich fragend und verwundert ansah. Ihr wachstuchenes Brillenfutteral auf der Fensterbank der Wohnstube, ihre grauwollenen Schlupfpantoffeln unter dem Ofen erfüllten mich mit sonderbar zärtlicher Wonne und Innigkeit, sobald ich sie erblickte; rief sie mir oder nannte meinen Namen, so lief es mir wie ein süßes Gestreichel über den Leib; und zeigte sie mir in der Küche etwa, wie man einen Hasen abzog und spickte und stand dabei so dicht hinter mir, zusehend, wie ich Speckstreifelein schnitt und durch das Fleisch zog, griff auch zuweilen über meine Schulter, indem sie mirs besser wies, so stieg mir das Blut zu Kopfe vor seliger Beklemmung, so nah und vertraulich bei ihr zu sein. Auch ergriff mich manchesmal ein kindischer Neid, wenn ich sie ein Bauernbüblein streicheln sah, das von ihrem Zucker bekam, und ich hätte selber noch klein sein mögen und aus ihrer Dose schlecken.

Je länger ich aber um sie war und ihr einfaches und gesundes Wesen auf mich wirkte, je öfter ich ihr in die lieben, vergnügten Augen guckte, um so mehr fielen meine hanswurstigen Gefühle von mir ab; ich begann sie ohne alle sentimentalen Abschweifungen und Verwirrungen allmählich gerade heraus und ohne viele Worte einfach von Herzen lieb zu haben; und das so unabänderlich und ohne jede Trübung wie außer meiner Mutter wohl keinen Menschen mehr.

– Im Sommer fuhr ich zumeist mit aufs Feld; man blieb die ganzen, langen, heißen Tage draußen und kam des Abends todmüde heim, wo man denn auch ohne viel Feierabend gleich nach dem Abladen in seine Kammer zum Schlafen ging; kaum, daß die Mägde beim Heimfahren ein Lied vor sich hinsangen oder die Knechte nach der Abendsuppe noch eine Pfeife rauchten. Aber selig, schön und wie lauter strahlende Feste standen jeweils zwischen den schweren Wochen die Sonntage. Frau Finkenlohr litt es nie, daß man am Sonntag aufs Feld ging oder etwas auf dem Hof schaffte, wie es die Bauern in den Dörfern auch meist am Sonntag taten; und mochte es noch so dringend sein. Nach dem Mittagessen ging man auf seine Kammern und hielt einen langen herrlichen Schlaf, darein einem kein Kurgast schellen durfte; die späten Nachmittage aber vertanzte man in einer leeren Scheuer hinter dem Haus. Es kamen noch junge Leute vom Dorf dazu; die Mädchen hatten helle und sonntägliche Kleider an, die Knechte und Bauernburschen aber tanzten in ihren weißen Hemdärmeln. Zumeist waren es große und kraftvolle Leute mit braunen, schönen Gesichtern; sie waren oft wie rasend vor ausgelassener Fröhlichkeit, rochen nach Heu und nach Sonne und man hing beim Tanze köstlich leicht und sicher in ihren starken Armen. Ein barfüßiger Bub saß auf einem Strohhaufen im Eck und spielte uns auf einer Ziehharmonika; je und je sah uns ein Kurgast zu, der draußen vorbeiging oder trat Frau Finkenlohr vergnüglich lachend unter die Tür, freute sich an uns und stellte uns ein paar Schüsseln mit Küchlein hin oder einen Korb voll Birnen und einen Krug mit einem kühlen Wein. Wurde es dunkel, so ging man auseinander; die Knechte besorgten das Vieh, die Mägde gingen zum Melken, taten die Hennen ein und kochten zu Nacht. Hatte man aber gegessen, so war man noch lang in die Nacht hinein beieinander. Es waren im Hof dicke, tannene Stämme zum Trocknen hingelegt, darauf saß es sich bequem und wer keinen Platz mehr bekam, hockte auf die Küchenstaffel oder auf den Brunnenrand. Die, die einander gut waren, küßten sich ohne Scheu und hielten sich umschlungen; und die Jungen unter den Mägden, die noch keinen Schatz hatten, taten kaum minder zärtlich miteinander, wisperten, schäkerten und lachten in die Nacht hinaus. Man trieb allerlei Spässe miteinander, sang Lieder mit vielen schwermütigen Versen und einer zog die Harmonika dazu; auch erzählte man Geschichten, war einmal fröhlich, einmal traurig und ging oft erst um Mitternacht in seine Kammern.

Im Winter war es nicht so schön; fiel auch die strenge Feldarbeit weg, so ließ doch die herbe Jahreszeit die ausgelassene Fröhlichkeit der warmen Tage nicht aufkommen. Doch war an den langen Abenden alles in der großen warmen Küche beieinander; die Knechte kamen vom Holzfällen im Wald heim, stellten die vereisten Rohrstiefel gegen den Herd, daß Wasserbäche davon liefen und zündeten sich die Pfeife an. An der niedrigen Decke liefen köstliche Gerüchlein hin vom Gansbraten und Butterkuchen der Kurgäste sowohl wie von der geschmälzten Abendsuppe und dem geräuchten Speck des Gesinds. Im Backofen lagen mit lieblichem Gebrutzel die roten Winteräpfel, von denen Frau Finkenlohr allabendlich eine Schürze voll für uns hineinschob. Die Kittel der Knechte tauten allmählich auf; man saß in einem warmen Dampf, untermischt mit dicken Pfeifenwolken, rings um einen herum war ein heiteres Gesumme und Gespräch, und hörte man noch dazu von draußen den Schneesturm ums Haus gehen, so wurde es einem ohne Grenzen wohl und geborgen zu Mut.

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
30 июня 2018
Объем:
250 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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