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Читать книгу: «Die Ströme des Namenlos», страница 3

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– – – »Ich will ja!« sagte ich schluchzend, und sie streckte mir darauf ihre Hand hin.

»Ich danke dir schön! Jetzt geh nur wieder heim.« Dann beugte sie sich ganz tief über die Zaunlatten und sagte leise, so leise, daß ich sie kaum verstehen konnte: »Ich glaube ja, daß es schwer für dich ist; aber du mußt denken, daß es mir noch tausendmal weher tut! O du – das ist nicht zum sagen! – – Geh jetzt heim, bitte, und laß mich allein; ich kann jetzt nimmer sprechen!«

Da lief ich wie gejagt, durch die Stadt, durch Wiesen und auf dunklen, nie gegangenen Wegen in den rinnenden Regen hinein. Ich dachte nichts und spürte nichts, als daß mir etwas verzweifelt weh tat; ich rannte atemlos, wie in wilder Flucht; aber es war hinter mir und über mir und es schüttelte mich in Scham und Schmerz und Zorn.

Um einen Baum war hoch und locker ein Heuhaufen geschichtet, willenlos ließ ich mich fallen und wühlte mich zitternd hinein.

Ich lag ganz still, der Regen fiel leise und das Rauschen wurde schwächer und schwächer; durch den Baum, unter dem ich lag, fiel manchmal ein Tropfen herunter, schlug auf die Blätter und kam immer tiefer; der Wind wehte leise in den Wipfeln, das Heu roch um mich und über mir, und meine Tränen liefen hinein.

Die Gedanken wollten mir vergehen; müd und fremd sah ich noch einmal den Vikar dastehen und wieder verschwinden, dann schloß ich die Augen und wußte nichts mehr.

Mitten in der Nacht erwachte ich, frierend, und es war mir unbehaglich in den nassen Kleidern; ich machte, daß ich nach Hause kam und ins Bett, und alles andere war mir gleichgültig.

Am Tag darauf war die Gräther nicht in der Schule, es hieß, sie sei krank. Und zufällig wurde auch gerade in diesen Tagen der Vikar in eine andere Stadt versetzt, daß ich ihn nimmer sah. So waren wir beide einer Stunde enthoben, die quälend peinlich für uns gewesen wäre.

Die Gräther kam seltsam lang nicht mehr in die Schule; ich machte mir allerlei Gedanken darüber; da sah ich sie eines Tages auf der Straße und rief sie an. Sie blieb stehen und wollte mir in einer plötzlich herzlichen Freude die Hand reichen, ließ sie aber schnell wieder sinken. Ich fragte, wenn sie wieder in die Schule käme.

»Ueberhaupt nimmer,« sagte sie. »Ich habe schon lang nach einer Gelegenheit gesucht, es dir zu sagen. Ich gehe im Herbst ins Gymnasium zu den Buben, ich will Medizin studieren. Ich glaube schon, daß ich mitkomme. Also, du weißt es ja jetzt. Adieu, Agnes.«

Da war sie schon ein paar Schritte weg! »Elsbeth,« rief ich ihr nach, und ich weiß, daß sie es hörte. Sie blieb stehen, als ob sie sich besänne, umzukehren und wendete halb den feinen Kopf, ich sah eine lichte Welle in ihr Gesicht steigen, röter und dunkler werden und sah sie jäh wieder erblassen, still und stolz geradeaus sehen und weitergehen.

Da lief sie nun von mir weg, weil es ihr Stolz nicht litt, mit jemand weiter zu verkehren, der sie einmal gedemütigt und verzweifelt gesehen hatte, und sei es ihre beste Freundin gewesen. Es war mir, als gehe ein feines liebliches Stück meiner Kindheit da die Gasse hinauf, um zu verschwinden und mir verloren zu bleiben.

Von dem Augenblick an aber wußte ich, daß ich auch Aerztin werden wolle. Ich spürte eine ungeheure Stärke in mir und sah ein Ziel in Klarheit vor mir liegen wie noch nie. Ich lächelte beinahe, so froh war ich über die Erkenntnis und so erstaunt über meine plötzlich umschwingenden Lebenskräfte.

Ich sagte es meiner Mutter, war aber kaum erstaunt und nicht im mindesten entmutigt, als sie mir nicht zustimmte. »Aber gelt, wenn ich jemand gefunden habe, der mir das Geld dazu gibt, hast du nichts mehr dagegen und läßt mich weiter machen?« Das gab sie mir zu.

Da richtete ich meine Schulzeugnisse sauber zusammen, entlehnte von der Margret ein Paar gute Stiefel und machte mich aufgeregt und mächtig gespannt, aber felsenfest entschlossen auf den Weg zu einer reichen Fabrikantenwitwe, von der ich wußte, daß sie jungen Leuten Geld zum Studium vorstreckte und manchmal auch schenkte.

Ich fragte nach ihr und wurde sogleich in ein helles, nüchternes Kontor geführt, wo sie am Schreibtisch saß und rechnete. Sie sah flüchtig auf und dann, während sie sprach, immer auf ihre Papiere, so daß man den Eindruck hatte, als rede sie mit sich selber.

»Was willst du?« fragte sie mit einer Mannsstimme.

»Ich möchte die Frau Kommerzienrat um eine Unterstützung bitten, weil ich Medizin studieren möchte und wir kein Geld dazu haben. Ich würde der Frau Kommerzienrat, sobald ich verdiene, ganz sicher alles wieder zurückzahlen.«

»Wie heißt du?«

»Agnes Flaig.«

»Und was ist dein Vater?«

»Er war Uhrmacher und ist vor zwei Jahren gestorben. Meine Mutter strickt Strümpfe auf der Maschine.«

»Warum willst du studieren?«

Da kam ich in eine heillose Verlegenheit; ich wußte um alle Welt nicht was sagen und schwieg gepeinigt. Endlich kam ich auf das allerdümmste, ich streckte ihr meine Zeugnisse hin. So mußte sie meinen, ich sei von meiner Begabung und Schulklugheit so überzeugt, daß ich darum aufs Studierenwollen verfallen sei. Die Frau las und gab mirs zurück.

»Wenn du nicht gescheiter bist, als es in deinem Zeugnis steht, wirst du es auf einer Universität auch nicht weiter als andere bringen. Und im übrigen unterstütze ich nur Knaben. Guten Tag!«

– Ich fiel aus allen Himmeln und stand einen Augenblick wie betäubt, und obgleich ein grenzenloser Ekel vor allem weiteren Unternehmen und Planen in mir war und es mich würgte vor Scham und unterdrücktem Heulen, gelüstete es mich, der Frau da mit dem großen, harten Gesicht noch einen Trumpf hinzuschmeißen und heiser und besinnungslos sagte ich:

»Vielleicht darf ich dann die Frau Kommerzienrat bitten, mir in ihrem Geschäft eine Stelle als Fabrikmädchen zu verschaffen, an irgend einen Platz, wo meine Gescheitheit reicht, und wo Buben zu gut dafür sind.«

Die Frau blieb völlig unbewegt. »Jawohl,« sagte sie ruhig. »Wann kannst du eintreten?«

»Vom 26. Juli ab muß ich nimmer in die Schule.«

»Gut,« meinte sie, »so komm am 1. August morgens um sieben Uhr in die Fabrik hinüber und bringe eine große Schürze mit. Adieu!«

Auf dem Heimweg dachte ich: ich zünde ihr die Fabrik an oder ich hetze die andern Mädchen gegen sie auf, sie soll nichts als Not und Verdruß mit mir haben!

Ach – und am andern Morgen bekam ich den ersten Brief in meinem Leben und er hieß so: »An Agnes Flaig, hier, Kirchhofsteige. Ich habe gemerkt, daß es dir an einigem Trotz und festem Willen, wenn er auch bös war, nicht fehlt; und weil ich weiß, daß solche jungen Leute nicht gerade die unbrauchbarsten sind, habe ich meinen Entschluß geändert. Ich bin bereit, dir die Mittel zum Studium vorzustrecken; du kannst im Anfang des nächsten Monats einmal zu mir kommen, um das Nötige zu besprechen; vorher habe ich keine Zeit für dich. Frau Berta Griffländer, Kommerzienratswitwe.«

– Es tropfte mir heiß über die Backen hinunter, ich lief zur Tür hinaus, vors Haus und in den strahlenden Morgen hinein. Vor dem Gesicht flimmerte mirs vor Sonne und Glück, meine Augen waren des Lichts ungewöhnt und schwer von Tränen und taten mir leise weh; ich hielt die Lider halb geschlossen, und doch sah ich einen Himmel über mir aufgetan, so gottesnah leuchtend und unendlich wie nie vorher und sah in einer plötzlichen Erkenntnis die köstliche Welt daliegen, Tal und Fluß und Berg, und hinter den Bergen fing sie erst recht an; und sie gehörte mir, ich trug's verbrieft in meiner Tasche. –

Ich lief über gemähte Wiesen und kam in die Felder, die still und demütig in der Sonne standen, ich strich über die Halme und lachte, und das Papier knisterte mir im Rocksack. Noch nie war es mir so bewußt geworden, daß ich ein Mensch war und lebendig, und Kräfte und warme Ströme, Herzschläge und tiefe Atemzüge hatte. Ich spürte jedes Glied meines Leibes und war froh darüber, daß es zu mir gehörte. Es zuckte mir in Füßen und Händen von einer unbändigen Kraft, und mitten in diesem süßen Bewußtwerden meines jungen Menschentums quoll plötzlich etwas in mir empor wie ein mächtiger Brunnen und brach stürmend durch alle Adern; ich kannte tausend Namen dafür, und keiner war der rechte. Ich wußte, daß ich alle Menschen lieb hatte, mit einem gewaltigen Willen, für sie zu schaffen und mein Leben und meinen ganzen quellenden Reichtum freudig in ihren Dienst zu stellen; ich war nimmer ich selber, es waren tausend wogende Ströme, die sich jauchzend in die Welt ergossen, es war so herrlich stark und ohne Ende, und es fiel mir ein, daß es an des Namenlos Grab entsprungen war.

Und ich dachte, daß das gewiß noch kein Mensch gespürt habe und daß ich es niemand sagen konnte, weil es keinen Namen und keine Worte dafür gab; ich konnte nur schaffen, schweigend und ohne Aufhören schaffen und die großen Kräfte brauchen.

Ach, und ich hätte es doch am liebsten in die ganze Welt hinausgeschrien, wie es mit mir war, es sprengte mir fast die Adern vor heißem Blut, und ich geriet vor lauter Lust und strömender Kraft in eine schmerzende Bedrängnis, aus der ich mir nimmer zu helfen wußte. Da stand oben am Wald eine alte Buche mit mächtigem Stamm, ich lief drauf zu und legte in einem überquellenden Gefühl meine Arme darum, aber es fehlte eine halbe Spanne, bis die Hände zueinanderreichten. Da lachte ich hell auf: das war die Kraftprobe.

Ich dehnte die Arme bis aufs äußerste, die Gelenke knackten und es sauste mir im Kopf; auf einmal war es gewonnen. Da war es die ganze weite Welt, die ich in meinen Armen hielt, und die Ströme meiner Liebe umspannten sie fest.

Die Tage, die jener Sonnenstunde folgten, waren ruhig und schön, und ich kostete die leise, leuchtende Weihe aus, die von der Buche her noch darüber lag.

Mit einer überlegenen Fröhlichkeit saß ich die letzten Schultage vollends ab; auf dem Heimweg liebäugelte ich schon mit dem Gymnasium. –

Ich brachte die tiefblauen Sommertage hinter mich in einer schweren Arbeit, wie ich sie noch nie getan hatte; und doch war's oft so, daß ich, wenn ich abends todmüd ins Bett gegangen war, nach ein paar Stunden festem Schlaf munter und völlig ausgeruht, mitten in der Nacht erwachte, und mich wunderte, daß es noch nicht Tag war. Dann war mir aller Schlaf aus den Augen, es litt mich nimmer im Bett; ich zündete mir ein Licht an, stahl des Greiners lateinisches Lexikon und seine Grammatik und verlebte darüber köstliche Stunden in einer verschämt glücklichen Neugier und saß nachher noch unterm Kammerfenster, oft lang in die schweigenden Nächte hinein.

Oder kleidete ich mich leise an und verließ das Haus, um droben im Wald einsame Gänge zu tun; und es schien mir, als liege da mein Leben vor mir, wie im Mondlicht die stillen Landstraßen, die durch den Wald führten; leuchtend von einer feierlichen Helle, geradeaus und weit, und kam ein Querweg, wars wieder so: weiß und eben, und verschwindend in einem schimmernden Duft dem Mond zu oder dunkel in den Wald sich neigend.

Und immer wieder war das wunderliche Gewoge in mir, auf und nieder, da die Ströme meiner Liebe wach wurden und gewillt waren, sich der Erde und allen Menschen hinzugeben.

Zweites Buch

Da starb Frau Griffländer, meine Gönnerin, infolge eines Unglücksfalles, der sie auf ihrer Sommerreise betroffen hatte, und obwohl ich, den Brief vorweisend, bei ihren Erben verzweifelte Anstrengungen machte, die mir versprochene Unterstützung dennoch zu bekommen, nützte doch alles nichts mehr; ich war ärmer als zuvor und zerschlagen und unsäglich erbittert.

Ich suchte eine Stelle als Dienstmagd und nahm ziemlich weit von meiner Heimat weg eine an, ohne lang zu prüfen und mich zu erkundigen; es war mir so gräßlich gleichgültig, wo ich hinkam, ich wollte nur fort von zu Hause, wo nun alle Dinge ohne Traum und Schimmer so abscheulich grell und nüchtern dastanden und mich höhnisch anstierten.

Es ist mir schlecht gegangen damals und nichts erspart geblieben; und jene Zeit, da ich an nassen Novembertagen durch fremde Städte und unter kahlen Bäumen ging, da ich in bösen Winternächten, von Kälte und Heimweh geschüttelt, in wüsten Kammern wachlag, da ich verzweifelte Eisenbahnfahrten wagte, die doch immer wieder dem gleichen Elend zuführten, und da alles so schauerlich kalt und fremd war und ich verlassen und ohne Licht und Weg und Rat im Dunkeln stand, jene Zeit steht noch immer peinigend deutlich und so voller Schwermut und Bitterkeit in meinem Gedächtnis wie keine andere.

Und dennoch meine ich manchmal, es liege gerade von jener Zeit her ein leiser Schimmer über meinem Leben, wie ein schmerzlicher Reichtum. Das ist ein tiefes, demütiges Verstehen aller menschlichen Not, eine Weisheit und ein seltsames Licht, das mir mit traurigem Lächeln in jede Armut und Einsamkeit hinableuchtet; und seither ist mir jeder Landstreicher Bruder und jedes verirrte Mädchen Schwester; unser aller Mutter ist die herbe schöne Erde, und heimatlos und verlassen eine Nacht unter freiem Himmel an ihren Schollen geborgen schlafen zu müssen, kommt keinem andern Weh und keiner andern Süßigkeit gleich.

Ich war nun sechzehn Jahre alt geworden; da hatte ich aufs Frühjahr eine Stellung als Hausmädchen bei einer vornehmen jungen Witwe in einer süddeutschen Stadt angenommen. Es war gegen Abend, als ich vom Bahnhof her durch die Straßen lief und nach dem Haus fragte. Hoffnungen hegte ich kaum mehr, und ich war müde und hungrig von der Reise; aber wie ich so vor dem schönen, alten Gebäude stand und einer sauberen jungen Magd zusah, die pfeifend die Glockenzüge putzte und den grünen Fluß hörte, der dicht hinter dem Haus vorbeifloß, da wurde es mir besser und ruhiger zu Mut als seit langem.

An der Glastüre empfing mich eine dicke Köchin, lachte mich gutmütig an, als ich sagte, ich sei das neue Hausmädchen und gab mir zum Einstand gleich einen kräftigen Patsch. Dann führte sie mich zur gnädigen Frau. Es war ein hohes Zimmer, am Fenster in einem kühlen, hellen Licht stand eine Dame, die war schön wie eine junge Göttin. Sie reichte mir in einer vornehmen Freundlichkeit die Hand und sprach mit einer tiefen, warmen Stimme, die das ganze Zimmer mit einem sonderbaren Klang füllte: »Guten Abend, Fräulein Flaig, haben Sie eine gute Reise gehabt?« – »Ja!« – »Dann ist's recht. Ich hoffe, es gefällt Ihnen bei mir!«

Und wie nun ihr Blick prüfend auf mir lag und ich in dem klaren, kühlen Lichte der reinen Augen stand, war es mir, als fiele alles Elend der letzten Zeit von mir ab wie ein schmutziger Kittel, ich war wieder jung und gut und unberührt und wußte von nichts als von dem Wunsche, daß mich die schöne Frau einmal liebhaben möchte und daß ich den stolzen Mund einmal mir lächeln sähe. In die Stille hinein hörte ich mein Herz schlagen; ich freute mich daran, und es war wieder so ruhig und beinahe fröhlich klar in mir wie damals, als ich studieren wollte. Ich spürte eine neue Macht über meinem Leben und gab mich ihr hin wie einer Erlösung.

Später am Abend erfuhr ich, daß die schöne Frau mit dem Vornamen Gunhild heiße, ich sah ihr blondes Haar, ihre feingebogene Nase und den schmalen, stolzen Mund, und es war mir, als habe ich ihren Namen schon gewußt, als ich sie mit dem ersten Blick gesehen hatte.

Als wir unsere Arbeit getan hatten und alles im Hause still war, nahm die Köchin eine Ampel und zeigte mir meine Schlafstätte. Es war eine saubere Kammer unter dem Dach mit einem Fenster, das gegen den Fluß zu ging. Wir wünschten einander Gut'nacht, ich packte meinen Koffer aus, löschte das Licht und entkleidete mich. Dann stand ich noch eine Weile unter dem Fenster in der kühlen Nacht, hörte den Strom in der Ferne über ein Wehr gehen, schloß die Augen und dachte in einem süßen Schauer an Frau Gunhild.

Als ich etwa acht Tage im Hause war, begegnete ich eines Abends der jungen Magd, die damals am ersten Tag vor dem Haus die Glockenzüge geputzt hatte, auf der Treppe. Sie war Lehrerstochter und bekleidete bei der alten Regierungsrätin im oberen Stock eine Stellung als Stütze der Hausfrau, worunter man hierzuland eine Tochter aus guter Familie versteht, die in ihrem Dienste alle Vorrechte eines Gebildeten zu genießen Anspruch hat. Wir grüßten uns und sprachen ein paar Worte miteinander; als wir dann vor meiner Kammertüre standen, lud ich sie ein, noch eine Weile zu mir hereinzukommen. Wir saßen auf meinem Koffer nebeneinander; die hübsche schwarzhaarige Person gefiel mir, wenn sie auch eine sonderbare Art, sich zu geben hatte, und mir ein wenig frech vorkam. Sie fragte mich, wo ich herkomme, ich seufzte und suchte verlegen, ihr mein Schicksal zu erklären. Ach, ich wollte nimmer alles aufwärmen; es gehörte nichts davon in die heitere, saubere Gegenwart.

»Ach so,« meinte sie lebhaft – »Sie haben Pech gehabt? Lassen Sie doch, das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Und trösten Sie sich, das geht den meisten so – viel Rutschen macht blöde Hosen – das ist gar nicht so. – Pfeifendeckel – ich bin froh, daß ich ein Stück in der Welt herumgekommen bin!«

»Wie man's nimmt,« sagte ich, »so schlimm wie mir wird's Ihnen wohl nicht gegangen sein.«

»O jerem,« lachte sie, »bis zu meiner fünfzehnten Stelle hab ich's noch gezählt; seither lass' ich's bleiben. Als ich eine Woche in der Fremde war, bin ich einmal rittlings das Treppengeländer hinuntergerutscht, und die vier Kinder, die ich hüten sollte, hinten nach. Ach, es war elend schön! Nur wurden wir unten von der Frau abgefaßt und ich bekam eine an die Ohren – da bin ich ihr im Zorn aus dem Dienst gelaufen. Ich bin auch einmal ein Vierteljahr lang bei einer Seiltänzertruppe gewesen!«

»Aber sind Sie denn in Ihrer jetzigen Stellung befriedigt?« fragte ich lachend.

»Vollkommen. Sehen Sie, der Mensch muß halt auf seine Kosten kommen. Meine alte Regierungsrätin ist ein liebes Schaf; ich habe es gut bei ihr und sie kann noch hundert Jahre alt werden. Und sie ist stocktaub, wissen Sie, das ist himmlisch! Ich kann den ganzen Tag singen und juchzen und Mundharmonika spielen und sie hört kein Schnäuferlein; wenn ich ihr Antwort geben soll, muß ich's auf eine Tafel schreiben. Und dann – es gibt einfach im ganzen Land kein so schönes, altes, köstliches Haus mehr an einen Fluß hingebaut wie dieses. Das werden Sie auch noch herauskriegen, wenn Sie sich wahrscheinlich jetzt erst nur drüber freuen, daß keine Kutterkiste im Hause ist, weil man alles ins Wasser schmeißt. Aushalten werden Sie's schon. Die Gunhild ist anständig.«

»Anständig –?« fragte ich. »Ich meine, sie sei wunder, wunderschön.«

»Nein, was die Ansichten verschieden sind! Ich kann sie nicht schmecken! Haben Sie sie auch schon einmal lachen oder schimpfen oder jammern hören?«

»Es braucht doch nicht jeder sein Herz auf der Zunge zu tragen,« sagte ich.

»O, Sie können ruhig sein, die Gunhild hat überhaupt keins. Es ist bei ihr ein Kieselbatzen statt einer Seele im Leib.«

»Sie ist so schön und fein und stolz,« sagte ich nachdenklich. »Ich glaube, sie hat mehr Seele als eins von uns. Es wird eben tiefer bei ihr liegen als bei andern Leuten und sie wird nicht wollen, daß jeder hineinsehen kann.«

»Ach, wissen Sie, wenn's so tief ist, dann lassen wir's lieber liegen!«

Da mußte ich lachen, wie sie mich so drollig treuherzig dabei ansah. Sie erzählte, sie heiße Urschel Pfannenschmid und sei da oben bei Heidenheim irgendwo zu Hause.

»Seltsam,« sagte ich, »ich hätte eher gedacht, Sie seien Italienerin oder etwas ähnliches!«

Sie nickte. »Es wird auch so sein. Wissen Sie, die Zigeuner fuhren einmal im Galopp durch unsern Ort und ein Kindle fiel hinten aus einem Wagen heraus und blieb liegen. Da fand's die Schulmeisterin und zog es auf; das bin ich. Jetzt sagt sie natürlich, ich sei ihr Eigenes!«

Ich wußte nicht recht, war das zu glauben oder nicht.

Urschel aber stand auf und ging zum Fenster, wo sie in den Fluß hinuntersah, stieß die kräftigen, braunen Arme gegen die Decke und sagte halb lachend, halb seufzend: »Ach, ich spür's doch in allen Gliedern, daß ich eine Zigeunerin bin. Es liegt mir eine Unrast und eine Musik und ein Tanz im Blut, das treibt mich unablässig zu Streichen und Dummheiten und Lumpereien. Die Leute legen mir's als Leichtsinn und Bosheit aus, es ist aber nichts als Musik und Zigeunertum, man kann nichts dagegen tun.

Das Schönste und das Gräßlichste aber ist die Sehnsucht, zu wandern und in die Fremde zu ziehen. O, wenn ich nachts den Fluß höre und den Wind wehen, bringt es mich fast um vor brennender Lust, in die Ferne zu gehen. Zur Tröstung habe ich mir einen großen, feinen Atlas gekauft; da sitze ich abends oft darüber und mache schöne Reisen, nach Indien oder nach Südamerika; – Sie müssen einmal zu mir herüberkommen, ich möchte Ihnen meine Sachen zeigen.«

Wir blieben den Abend beieinander und saßen unter dem Fenster in die geruhige Dämmerung hinein. Urschel war doch ein prächtiges Mädchen, schwätzte, lachte, und war voller Witz und seltsamer Einfälle. Als wir uns dann getrennt hatten, spät in der Nacht, und ich eben zu Bett gehen wollte, klopfte es noch einmal an meine Kammertür; Urschel stand draußen im Unterrock, ein langer schwarzer Zopf hing ihr über den weißen Hemdärmel herein, und sie sagte fröhlich: »Ich habe etwas vergessen! Wissen Sie, Agnes, ich möchte gern Du zu Dir sagen!«

Und sie streckte mir ihre warme Hand hin.

Von da aber war unsere Freundschaft geschlossen; ich fand in Urschel einen Menschen, wie ich ihn so prachtvoll und natürlich und heiter nimmer gesehen habe.

Ueberhaupt war mein Leben damals so hell und leicht wie noch nie. Ich genoß die heimliche Schönheit des grünen Flusses, der sommerschweren Kastanien und die des alten, hohen Hauses mit dankbaren, empfänglichen Sinnen. Die Arbeit ging mir gern und flink von der Hand, ich spürte, daß sie mir guttat, und der schönen Frau dienen zu dürfen, war allein schon eine immerwährende Seligkeit, die alle Mühe leicht machte.

Urschel's warmherzigem, spring-lebendigem Wesen stand die Frau freilich fast kalt und seelenlos gegenüber, aber ich glaube, dies war nur eine seltene Selbstbeherrschung, die durch eine feine, sorgfältige Erziehung zur vollendeten Vornehmheit geworden war. Was ich einst an Elsbeth bewundert und geliebt hatte, jene köstliche Würde, die sich niemals etwas vergibt und jener adelige Stolz, der klugen, schönen Geschöpfen manchmal eigen ist, das fand ich nun bei Gunhild wieder zu einem wahrhaften Königinnentum gereift.

Um Gunhild herum war ein seltsamer Duft oder Schimmer, den ich später nirgends mehr gefunden habe, nur in Träumen meine ich manchmal noch, ihn zu spüren, und es wird mir wunderbar wohl dabei. Er hing in ihrem Haar, an ihren Kleidern, er wehte durch ihre Zimmer und lag über dem kleinen alten Garten neben dem Haus, wo sie im Sommer saß und las oder nähte. Es war eine reinliche, helle Kühle, eine klare, seltsam leichte Luft und jedesmal, wenn ich sie atmete, kam eine kindliche Fröhlichkeit und Dankbarkeit über mich; ich war wunschlos und von Herzen glücklich, daß ich in dem guten Lichte stehen durfte, das von Gunhild ausging.

Nur ein oder zweimal kann ich mich von diesem ersten Jahr, das ich bei ihr diente, erinnern, daß mich eine leise, dunkle Gewalt von Liebe und schmerzlicher Leidenschaft erfaßte, in der ich Gunhild schweigend näher kam und da auch sie ihre Kühle und Vornehmheit abstreifte und mir in einer sonderbar köstlichen Art ihre Zuneigung zeigte.

– Im Mai mußte ich einmal an einem warmen Regenabend Frau Gunhild von einer Gesellschaft abholen. Ich hatte mit Urschel Dummheiten getrieben, gelacht und am Schluß gestritten und ging nun müde und heiß durch das laue, feuchte Dunkel der Platanenallee; der Wind ging in den Bäumen, die Tropfen fielen schwer und lässig durch die Blätter und von den nächtlichen Gärten kam eine verlorene süße Luft herüber. Mit jedem Schritt fiel die Müdigkeit mehr von mir ab; die Schönheit der Nacht brachte mich in eine leise Erregung, und in einer seltsamen sehnsüchtigen Freude dachte ich daran, daß ich nachher an Frau Gunhild's Seite noch einmal und mit doppelter Lust unter diesen Bäumen gehen dürfe.

Als ich aus der Allee heraustrat, sah ich, daß es aufgehört hatte zu regnen. Da war auch das Haus, ein breites Licht fiel aus der Glastüre in die Nacht hinaus, aus einem offenen Fenster hörte man Musik und lachende Stimmen. Ich trat abseits in den Schatten; und auf einmal kam mir der Wunsch, es möchte doch wieder anfangen zu regnen. Dann würde Gunhild den Schirm, den ich ihr gebracht hatte, nehmen und mich bitten, mit darunter zu kommen, da ich nicht auch einen bei mir hatte. Der Gedanke aber, so gedrängt nah bei der schönen Frau zu sein, brachte mich in eine plötzliche Seligkeit und beglückende Unruhe, wie ich sie kaum zuvor gespürt hatte.

Ich mußte lange warten. Endlich ging die Haustür auf; Gunhild kam eine hell erleuchtete Treppe herab, sie trug ein paar Blumen in der Hand und sah festlich schön und vornehmer aus als je; unten verabschiedete sie sich von jemand, lächelte und trat dann spähend vor das Haus.

»Ah, Agnes, hier sind Sie! Nicht wahr, Sie mußten warten? Das tut mir leid, ich kann nichts dafür!«

»Oh,« sagte ich beglückt, daß sie so lieb zu mir war, »die Zeit ist mir nicht lang geworden. Ich habe an etwas sehr Schönes gedacht.«

»An was denn, darf ich's wissen?«

Da sagte ich ihr, daß ich wünsche, es möchte wieder regnen; und wie schön ich es mir dächte, mit ihr zusammen unter einem Schirm durch die dunkle Allee zu gehen.

Und als ich es gesagt hatte, kam ich mir auf einmal maßlos frech vor und war erschrocken und verlegen. Gunhild aber streckte ihre Arme aus, stand einen Augenblick prüfend still und sagte dann heiter: »Ich glaube, ich habe einen Tropfen gespürt.«

Und wie sie den Schirm aufspannte und sich zum Gehen wandte, fiel das Licht vom Hause her noch einmal hell über ihr Gesicht: ich sah, daß sie lächelte, ein wenig belustigt, aber strahlend gütig und lieb; dann gingen wir durch die Allee, über die Brücke und in einer stillen, dunklen Straße nach Hause. Und keines sprach ein Wort; aber ich meine, es sei mir nie reiner und wohler zu Mut gewesen als bei jenem stummen nächtlichen Gang, da meine Liebe so reich und erfüllt war durch Gunhild's Lächeln und ihre köstliche Nähe.

Als ich die Haustüre aufschloß, trat sie plötzlich neben mich, faßte mich unter dem Kinn und bog mein Gesicht zu ihrem herauf, indem sie warm und leise fragte: »Sind Sie nun glücklich?«

»Ja,« sagte ich, und suchte im Dunkeln das Licht ihrer Augen zu sehen, »ich bin sehr, sehr glücklich!«

Dann gingen wir ins Haus.

– Am nächsten Tag war Frau Gunhild kühl, vornehm und ruhig wie immer. Das tat mir weh und wenn ich in ihre Nähe kam, war ich verwirrt und befangen. Ich wurde nicht klug aus ihr. Was war nun ihr wahres Wesen – ihre zurückhaltende Herbe oder die zarte, hingebende Güte jener Nacht?

Diese Zwiespältigkeit warf mir einen bösen Schatten über ihr Bild und quälte und bedrückte mich besonders abends stark, so daß ich der lustigen Urschel oft unmutig weglief, ihre Witze blöd und geschmacklos fand und dann noch stundenlang jämmerlich einsam in meiner Kammer saß und schließlich traurig zu Bette ging.

Und da geschah es oft noch spät vor dem Einschlafen, daß ich in einer plötzlichen Klarheit das Bild der lieben Frau vor mir schweben sah, ungetrübt, tröstlich süß und heiter lächelnd; ich hörte ihre Stimme wie damals in der Nacht: »Sind Sie glücklich?« – Ich spürte ihre Nähe, ich atmete ihre Luft, und ich lag still und beseligt in ihrem Lichte. Und ich nahm gern den ganzen verquälten Tag auf mich, um dieser flüchtigen, wonnig schönen Augenblicke willen.

Einmal lag ich mitten in der Nacht wach und meinte plötzlich, unten im Hause ihre Schritte gehört zu haben, eilte hinab und sah sie aus der Küche kommen, in einem langen, weißen Nachtkleid, ein Tuch und ein brennendes Licht in der Hand. – Sie erschrak, als sie mich sah. »Agnes! Warum schlafen Sie nicht?«

Ich fragte, ob ich ihr nicht irgend etwas tun könne, ob sie nicht wohl sei, und ich sah sie voller Angst an und konnte nicht hindern, daß mir ein Zittern über die Glieder lief. –

»Ich habe ein wenig Kopfweh gehabt und konnte nicht einschlafen. Nun habe ich mir ein nasses Tuch geholt, das ist alles!«

Sie stellte den Leuchter weg und sah mich klar und lieb, aber ohne Lächeln an. – »Ich muß einmal mit Ihnen reden, Kind. Sehen Sie, Sie meinen wohl, ich merke nicht, wie Sie mich liebhaben und an mich denken und einen Engel oder Halbgott oder sonst irgend ein vollkommenes Wesen in mir erblicken. Nicht wahr? – Ich sehe und merke und spüre das alles, und es ist mir leid. Es freut mich immer, wenn ein Mensch mich gern hat; aber so wie Sie mich lieben, ist es nicht recht. Sie vergeuden ihre besten Kräfte und Gefühle ohne Nutzen und Ziel mit dieser törichten Schwärmerei, und im Grunde haben Sie gar nichts davon. Das müssen Sie sich selber sagen!

Ich meine, wenn man jemand liebhaben will, muß man erst in sich selber fest geworden sein und gelernt haben, auf eine gute Art seine Kämpfe und Leiden zu verschweigen und zu verwinden. Sehen Sie, Agnes, Sie sind noch so jung und so gewöhnt, Ihren Stimmungen und Neigungen nachzugeben und sie wichtig zu nehmen, es geht ja allen jungen Leuten so. Aber wenn man älter wird, sieht man ein, wie töricht und egoistisch das ist. Man muß immer mehr lernen, an allem Schicksal nur das zu sehen, was einen gut und tüchtig macht, und sich mit dem andern, Haß und Verdruß und überlaufende Freude oder Schwärmereien, still und ruhig abzufinden, bis man es bezwungen hat und darüber steht. Im Grunde ist das Leben auch einfach und gar nicht so viel dran wie wir oft in der Jugend meinen!« – Sie fuhr sich müde über die Stirn.

Wir waren eine Weile still.

»Ach, gnädige Frau,« sagte ich, »so wie Sie das meinen, werde ich's niemals können. Wenn etwas schön ist, muß ich mich halt dran freuen und wenn ich traurig bin, kann ich's nicht verbergen. Und – ich habe Sie eben so sehr lieb und weiß mir nimmer zu helfen!«

Das letzte sagte ich ganz leise und fast ungewollt und die Augen standen mir voll Tränen.

Da legte mir Gunhild ihre Hand auf den Kopf, ganz fest und schwer. Ein anderes wäre mir vielleicht übers Haar gefahren oder hätte mich gestreichelt, aber es war wohl ihre Art so, und in ihrem Gesicht war wieder das schöne, verzeihende Lächeln, daß es mich heiß und selig überlief.

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
30 июня 2018
Объем:
250 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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