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Eines frühen Morgens trug ihr der Meister unerwartet auf, ein paar Habseligkeiten zusammenzuschnüren. Gemeinsam brachen sie auf in das Tal des Flusses Yarlung Tsangpo, zum Kloster seines alten Lehrers. Die Klosteranlage bestand aus unzähligen Gebäuden mit roten und goldenen Dächern. Schon von ferne hörten sie den Schall der schnarrenden Knochentrompeten, der Trommeln und Gongs, welche die Mönche bei ihren Gebeten begleiteten. Geschützt durch einen hohen Bergrücken und umgeben von Ziegenherden und sonnenüberfluteten Weiden lag das Kloster vor ihnen am Fluss wie ein sattes Tier. Eine uralte Eisenbrücke, über und über geschmückt mit Gebetsfahnen, ermöglichte den Weg über das Wasser. In dem Häusergewirr wimmelte es von Geschäftigkeit. Mönche bereiteten Mittagessen zu, andere fegten den Hof, wieder andere arbeiteten an einem farbenprächtigen Mandala aus buntem Sand. Eine Gruppe Kindermönche ließ ausgelassen fröhlich Papierdrachen im Wind flattern. Die beiden Ankömmlinge wurden willkommen geheißen, der Meister und seine Gehilfin. Am Nachmittag streifte Özel Li aufgeregt durch die Anlage. Noch nie hatte sie eine so große Klosterstadt besucht und die ameisengleiche Geschäftigkeit, mit der alles, einem Uhrwerk gleich, vonstattenging, faszinierte sie. Jeder wusste, was er zu tun hatte, sogar die Katzen mit den safrangelben Augen nahmen ihre Aufgabe, Mäusen nachzustellen, ernster als anderswo. Auf ihrer Entdeckungsreise erreichte sie endlich auch den großen Tempel, das Herz des Klosterlabyrinths. Eine dichtgewebte Zauberwelt sog sie wie ein Walfisch in seinen Schlund, Pilger in bunten Trachten, würzige Räuchereien, Hunderte brennender Butterlampen und tiefes, unablässiges Gemurmel von Mönchen wogten wie ein Meer um sie herum. Diese gewaltige Welle spülte sie vor eine riesige Buddhastatue. Guru Rinpoche schaute ruhig und ziellos in die Ferne, seine goldenen Hände im Schoß, seinen rechten vorgestreckten Fuß berührten die Pilger ehrerbietig mit der Stirn. Gedankenverloren wanderte Özel Li durch das Heiligtum und folgte einem niedrigen Gang in einen benachbarten Tempelraum. Er war rund wie ein Stupa, die Wände über und über bedeckt mit kunstvollen Malereien. Dort war es ganz still, und obwohl kein Mensch zu sehen war, fühlte sie sich im dämmrigen Flackerschein der Butterlampen seltsam beobachtet. Bedächtig schritt sie die Rundmauern entlang, betrachtete an den Wänden Buddhas in den Farben der fünf Elemente, Guru Padmasambava mit wachen Augen und dem Bärtchen auf der Oberlippe, sie erkannte historische Gestalten wie den hochverehrten ersten König Bhutans, der das Land einst geeint hatte. Am Ende des Rundgangs stieß sie auf eine steile Holzleiter, sie stieg vorsichtig und lautlos in den Turm hinauf, die Atmosphäre lag wie eng anliegende Lederhaut auf ihr. Unwillkürlich flüsterte sie ein Schutzmantra, als sie an den Wänden mächtige Schützergestalten erkannte. Mahakala, der Schützer ihres Landes, offenbarte sich furchteinflößend mit weit aufgerissenen Augen, manche Wesen trugen menschliche Züge, andere waren wilde Gestalten, schienen geradewegs ihren Träumen entsprungen, wieder andere umschmeichelten weite, fließende Gewänder und glücksverheißende Symbole. Vielarmige Wesen schauten auf sie herab, manche mit Tierköpfen, andere schwangen zornig Skorpione über dem Haupt und tanzten auf gequälten Menschenleibern, so als wollten die grimmigen Schützer unerwünschte Besucher abschrecken. Aber warum? Welches Geheimnis barg dieser Raum? Als sie an der Säule in der Mitte zahllose Bilder aus dem Bardo, der Zwischenwelt zwischen dem Tod und einer neuen Wiedergeburt, erblickte, öffnete sich in ihrem Geist eine Schleuse und Bilder überschwemmten sie. Schlafwandlerisch kletterte sie die nächste Leiter hinauf ins zweite Stockwerk, sie schaute auf die Bilder und staunte. Überwältigend anmutig tanzten nackte Frauen und Göttinnen in allen Farben an den Wänden, ähnlich der blauen Löwentänzerin Simhamukha in der Hütte des Meisters. Manche trugen Knochenschmuck und Blumen, andere hielten die Vase des langen Lebens, einen Pfeil oder eine Glocke in Händen. Liebespaare saßen ineinander verschlungen, eine junge nackte Frau auf dem Schoß eines Mannes, Wolken und Flammen rankten sich schützend um die beiden. Rund um Özel Li drehte sich die Welt, der Tempel, der Raum – sie war eingetreten in das Auge des Zyklons, in ein lebendiges Mandala, das sich wie ein Wirbel tief hinein in ihr eigenes Wesen grub. Bilder aus jener rätselhaften Nacht in der Hütte des Meisters kamen ihr in den Sinn. Scheu sah sie sich um, doch sie war allein. Sie setzte sich in eine Nische, unter eine uralte goldene Statue des Yogi Milarepa. Dort lauschte sie dem wellenartig an- und abschwellenden Gesang der Mönche im angrenzenden Tempel und ihrem Gedankenmeer. Darüber nickte sie ein.

Vor ihr auf der Lichtung stand ein schöner junger Mann. Nackt. Beide waren sie nackt. Wärmende Sonnenstrahlen fielen durch das Blätterdach des Waldes. Die Kleider waren im Gras verstreut. Ihr langes, schwarzes Haar umspielte den schlanken Körper. Der Jüngling streichelte sanft ihre Brüste, mit tastenden Fingern liebkoste er ihren Körper. Dann nahm er ihr Gesicht in beide Hände und sie spürte seinen heißen Atem. Sie schloss die Augen. Seine Lippen fanden ihren Mund und drückten sich warm auf die ihren …

Özel Li schreckte hoch, strich sich verlegen über die Stirn, wie um den Traum fortzuscheuchen, und erhob sich. Zum Glück hatte Meister Norbu sie nicht gesehen. Er, der in ihre Träume zu schauen vermochte. Sachte stieg sie die Leitern hinunter, lief zur Unterkunft und begleitete wenig später Meister Norbu zu einem auf einem Hügel gelegenen Häuschen. Auf einem dunkelroten Kissen saß ein sehr alter, hagerer Mann und streckte ihnen warmherzig die Arme entgegen. Die Männer legten ehrerbietig die Stirn aneinander und umarmten sich schweigend. Özel Li verbeugte sich vor dem Alten und setzte sich neben ihren Lehrer auf einen Schafteppich. Im Abendlicht betrachtete sie den darin eingewebten Glücksknoten, er war endlos in sich selbst verflochten. War das so? Fand sich Glück in sich selbst? Die Männer raunten sich Neuigkeiten zu, dann wurde es still, nur die Butterlampen flackerten, als plauderten sie über geheime Geschichten. Nach einer Weile streckte der alte Mönch seinen Rücken durch und begann, in eigentümlich wehklagendem Singsang einen längeren Text zu rezitieren. Jetzt war seine raue Stimme fest und klar. Seine flinken Äuglein flogen gesammelt über das Papier wie eine emsige Biene um eine Apfelblüte. Rhythmisch schlug er dazu eine kindskopfgroße Trommel in der rechten und läutete eine Glocke in der linken Hand. Nach einer Weile fiel auch Norbu Legpa ein in die ungewöhnliche Praxis. Özel Li versuchte die Worte zu erfassen, doch die eindringliche, samtene Melodie schien wie ein Tausendfüßler in ihren Geist einzudringen. Von unsichtbarer Kraft geleitet, zogen Landschaften, Berge und verlassene Verbrennungsstätten durch ihren Geist, dabei verspürte sie eine körperlose Freiheit wie sonst nur in ihren Träumen vom Fliegen. Die lockende Stimme der beiden Alten trug sie über die Mauern des Klosters hinaus wie die Wellen ein Fischerboot auf dem Ozean. Die kraftvolle Praxis der Wanderyogis lehrte sie etwas Neues: das Loslassen von Angst, von Wünschen, von Anhaftung. Melodie, Trommel und Glocke verschmolzen immer inniger, und als der Gesang seinem Höhepunkt zustrebte, nahm Meister Norbu eine Knochentrompete zur Hand und entlockte ihr solch flehende Klagetöne, dass Özel Schauder durchrieselten. Die Dämonen wurden herbeigerufen, für sie wurde das Opfer des eigenen Körpers dargebracht. Das war die uralte Praxis des Durchschneidens des Ich: das Chöd-Ritual der Dakini Machig Labdrön. In den nächsten Tagen wiederholten sich die Besuche beim alten Meister Sönam Gyaltso und sie erhielt mündliche Anweisungen zur Ausführung der geheimen Praxis. Gewöhnliche Menschen ängstigten sich schrecklich vor Dämonen. Sie tat ihr Bestes, um alle Erklärungen zu behalten. In der Übertragungslinie ihres Meisters war sie von nun an als Schülerin angenommen.

Am fünften Tag machten sie sich mittags auf den Heimweg. Özel Li freute sich, in die Einsiedelei zurückzukehren, als der Meister an einer Wegkreuzung vom gewohnten Weg abbog und einem ihr unbekannten Pfad folgte, bis sie einen verlassenen Platz erreichten, eingesäumt von alten, ausladenden Bäumen. Auf dem Boden glommen noch Reste verkohlter Äste, dünne Rauchschwaden stiegen auf und es roch trocken nach verbranntem Holz. Özels Herz zog sich ungemütlich zusammen. Eine Verbrennungsstätte für Verstorbene. Freiwillig hielten sich Menschen nicht auf an einem solchen Ort, an dem die verwirrten Geister der Toten umherirrten und ihre Körper suchten. Was wollten sie hier, da der Abend schon dämmerte? Meister Norbu setzte sich an einen dicken Baumstamm, drei Männer hätten nicht ausgereicht, ihn zu umarmen. Aus seiner zerschlissenen Tasche zog er eine bronzene Glocke und eine Handtrommel. Beide Gegenstände reichte er Özel, die an seiner Seite auf der Erde kauerte.

»Das sind nun deine Glocke und dein Damaru, sie gehören zur Praxis, die du von Meister Sönam gelernt hast. Lass mich ihren Klang aus deiner Hand hören, Özel«, forderte Norbu sie auf und musterte seine Schülerin.

Verstört von dem unheimlichen Ort, war es Özel Li unmöglich, sich zu sammeln, und sie blickte verlegen auf ihre Hände. Sie zitterten. Sich etwas im Geist vorzustellen war manchmal doch völlig anders ,als es am eigenen Leib zu erfahren.

Der Meister schmunzelte, was sie nur noch mehr verunsicherte.

»Ist es etwa Angst, was ich in deinem Gesicht sehe? Sollte dir dieser Ort Furcht und Schrecken bereiten, Özel?«

Özel nickte kleinlaut.

Der Meister runzelte die Stirn: »Möchtest du womöglich am liebsten auf und davon laufen?«

Die Furcht hatte Özel übermannt, ihr Herz war erstarrt. Sie zog die Beine an, schlang die Arme um die Knie und versuchte, die Gedanken im Kopf wie aufgestöberte Fledermäuse zu bändigen.

»Ja, Meister, die Angst vor den umherirrenden Geistern macht mich schier kopflos«, flüsterte sie tränenerstickt.

»Schau, Özel«, Norbu strich mit der Hand beruhigend über ihren Scheitel, als verscheuche er die Schreckgespenster, »darum üben wir den Chöd an ungemütlichen Orten, um uns kennenzulernen und selbst unsere tiefsten Ängste loszulassen.«

Özel starrte ihn an.

»Als du zu mir auf den Berg gekommen bist, hast du gesagt, du willst nicht weniger als alles. Alles zu erlangen ist nur möglich, wenn du alles aufgibst, dazu gehörst du selbst und dein Körper genauso wie jede Hoffnung, Sehnsucht und Angst aus den geheimsten Winkeln deines Herzens«, verkündete der Meister ungerührt.

Schon legte sich Dunkelheit auf den Berg.

Özel seufzte tief, ehe sie antwortete: »Langsam wird mir klar, was dieser Wunsch wirklich bedeutet, Meister. Phantasien und Träume eines Mädchens haben mit der Wirklichkeit wenig zu tun. Aber ich will wenigstens versuchen, hier auszuharren.«

Der Meister stand auf und schüttelte die Erde vom Gewand.

»Gut so, dann bleibe jetzt unter dem Baum und übe«, erklärte er, »wir sehen uns hoffentlich morgen.«

Bange dachte Özel an die Stunden vor ihr. Die letzte Hoffnung, die Nacht nicht völlig allein an diesem Ort des Grauens verbringen zu müssen, verflog, als sich der Meister mit festem Schritt entfernte. Inzwischen war es stockdunkel und totenstill. Özel schaute in die Nacht, die schwarz war wie Moor. Kaum wagte sie, sich zu rühren. Ihr Atem ging flach und rasch. Am liebsten wäre sie selbst zum unsichtbaren Geist geworden. Phantasien von Dämonenfratzen plagten sie, zupften an ihren Kleidern, flüsterten ihr unselige Wünsche ins Ohr, drohten sie zu verschlingen. In der Nähe raschelte etwas im Gras und sie zuckte zusammen. Aufspringen wollte sie und weglaufen! Endlose Stunden voller Angst und Ungewissheit lagen vor ihr und doch gab es nur zwei Wege: Entweder sie würde versagen und einfach tot umfallen oder verrückt werden vor Panik oder aber sie fände einen Weg durch diese Nacht hindurch. Und lebte. Sie hatte von Geschichten gehört, wo Menschen vor lauter Angst verrückt geworden waren.

Einem unbestimmten Drang folgend, tastete Özel in der Dunkelheit nach der Trommel, befühlte die raue Haut und die zwei Holzkugeln, die an roten Schnüren zu beiden Seiten herabhingen. Sie war kindskopfgroß. Sachte bewegte sie das Instrument in der Hand, selbst auf die Gefahr hin, die Geister auf sich aufmerksam zu machen. Plopp machte die Trommel. Dumpf, schüchtern und trocken. Plopp, plopp, plopp. Mochte die Trommel lauter sein als die hämmernde Panik in ihrem Kopf, das allein wäre es wert. Nach einer Weile wurde das Klacken regelmäßiger, ihr Herz folgte erleichtert seinen Spuren durch die Dunkelheit. Nach und nach wurden die aufgescheuchten Ängste von der gleichmäßigen Bewegung der Trommel in ihrer Hand aufgesogen wie Wasser von einem Schwamm. Das karge Ploppen fand Widerhall in ihrem Bauch, ihr Atem schloss sich, zögerlich noch, seinem Rhythmus an, plopp, plopp, plopp, plopp drang es durch die Dunkelheit, unnachgiebig wie der Ruf des Kuckucks in einer lauen Frühlingsnacht. Özel straffte ihren Rücken, schlug die Trommel und starrte wütend in die Nacht, nun fest dazu entschlossen, jeden Angreifer in die Flucht zu schlagen. Die Stimmen der Geister in ihrem Kopf wurden leiser. Und aus einem Winkel ihres Herzens erhob sich irgendwann die Melodie von Meister Sönam. Zum Klang der Trommel und der Glocke sang Özel Li in die Schwärze der Nacht hinein:

»Furchtlos rufe ich zu euch, Schützer der Lehren, Weisheitsdakinis, verwirklichte Meister, an welchen heiligen Orten ihr auch weilt, ich nehme Zuflucht zu euch und zu Dir, große Mutter! Kommt, ich lade euch ein zu dem Tanz, bei dem mein Körper zur Nahrung wird für die hohen und niederen Gäste aller sechs Welten. Euch opfere ich meinen Körper und befreie Anhaftung und Leidenschaft, auf dass mein Geist eins werde mit dem ungeteilten Raum und ich die große Verwirklichung erlangen möge, frei von aller Begrenzung, ob aus Hoffnung oder Angst.«

Die Melodie durchdrang sie und die Angst. Gelegentlich entlockte sie auch der kleinen Knochentrompete, die ihr der alte Meister zum Abschied in die Hand gedrückt hatte, wimmernde Laute. Der Himmel vor ihr füllte sich mit den eingeladenen Gästen, den Hungergeistern und Verstorbenen, mittendrin stand die große Mutter. Stunde um Stunde schlug Özel Li die Trommel, ihr Gesang wurde klar, ihre Stimme fest. Die fremden Worte nahmen Gestalt an und ihr Herz flog auf den Flügeln der Melodie durch das Dunkel. Özel Li hatte ihren Weg gefunden und sie sang um ihr Leben. Sie brachte ihren Körper dar und ihre Ängste. Die umherwandernden Gedanken, die Schreckensphantasien, das Grauen, all dies verlor langsam an Bedeutung. Die schwarze Nacht verwandelte es in große Leere. Was vermochten ihr Geister schaden, wenn ihr wahres Sein jenseits von Zeit und Raum weilte?

Als der Morgen dämmerte, übermannte sie bleierne Müdigkeit und die Anstrengung der durchwachten Nacht fiel von ihr ab. Sie lebte, das war genug. Nebelschwaden zogen den Berg hinauf, Feuchtigkeit hing in der Luft und Morgentau an den Gräsern. Sie verstaute Glocke und Damaru im Sack, rollte sich zusammen und fiel sofort in traumlosen Schlaf. Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie Meister Norbu in einem Reisigfeuer stochern und trockene Zweige hineinlegen, so als wäre nichts geschehen; neben ihm hockte die schwarze Krähe.

»Guten Morgen, Özel Li«, lächelte er, »komm, du hast dir Buttertee verdient.«

Sie betrachtete den Mann am Feuer, er war ihr vertrauter, als es der Vater jemals gewesen war. Alles an ihm atmete Einfachheit, spontane Direktheit. Sie setzte sich zu ihm auf einen Baumstamm. Wie damals nach der ersten Nacht in der Hütte reichte er ihr eine Schale Buttertee mit Tsampa.

»Sag, Özel, was hast du behalten von den kostbaren Erklärungen des Meisters?«

»Ich glaube, vergangene Nacht bin ich einigen Dämonen in meinem tiefsten Inneren begegnet, Meister«, begann sie nachdenklich. »Einer davon war der Dämon der Form. Bisher glaubte ich felsenfest, ich wäre mein Körper. Doch da befand ich mich plötzlich in dieser rabenschwarzen Dunkelheit und konnte rein gar nichts mehr sehen. Jede äußere Gewissheit verlor sich im Nichts und mich packte namenlose Panik. Doch dann, mittendrin im Sturm, blieb etwas unverrückbar. Immer gleich. Ruhig. Unangetastet. Wie ein Fels in der Brandung. Es war ich und doch nicht ich. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Mein Gewahrsein bleibt, wie es immer war. Frei vom Körper. Groß und grenzenlos.«

Norbu goss frischen Tee in zwei Schalen, schweigend tranken sie. Die Krähe hüpfte um den Baum herum.

»Auch Dämonen der Anhaftung sind mir begegnet. Zu Anfang der Nacht haben mir meine Sinne schreckliche Ängste und Trugbilder vorgegaukelt. Die Geister, die ich rief, schienen mich zu zermalmen, ich verzweifelte schier. Doch dann erschuf der bergende Klang der Trommel einen Raum, in dem mich die Erkenntnis wie ein Blitz durchfuhr: ich bin ganz allein die Schöpferin all dessen. Meine Phantasie, meine Angst erschafft alles selbst. Sie ist die große Schöpferin. Und mit einem Wimpernschlag löste sich alles auf.«

Zufrieden nickte Norbu.

»Du hast viel gelernt in dieser Nacht! Sich an furchterregenden Plätzen aufzuhalten ist der äußere Chöd. Der innere Chöd ist das symbolische Opfer unseres Körpers. Der absolute Chöd ist die Erkenntnis der Leerheit aller Dämonen. Mancher Schüler gibt schon vor der ersten Schwelle auf. Manch einer gerät in einer solchen Nacht außer sich vor Angst. Doch vieles liegt noch vor dir, Özel. Mach dir keine Illusionen. Manchmal wird dein Geist verwirrt sein, du wirst keinen Halt finden und niemand wird da sein, um über dich zu wachen.«

Die Krähe flog davon. Norbus Blick war ruhig auf seine Schülerin gerichtet:

»Bald wirst du in die Welt ziehen. Deine Waffen sind Glocke und Damaru, dein Zuhause die Natur, die Friedhöfe und Verbrennungsstätten, und dein Meister die Praxis des Durchschneidens allen Festklammerns.«

Da wurde Özels Herz schwer, das bedeutete nahen Abschied. Norbu Legpa verlor nicht viele Worte. Seine Antworten trafen den Kern des Problems. Wieder und wieder führte er sie zurück auf das Wesentliche, das Eine. Nicht an den Illusionen des eigenen Geistes zu hängen, sie nicht als die Wirklichkeit zu begreifen, sondern das dahinter Verborgene zu erkennen. Sie würde eine Chödpa sein, eine Wanderyogini, sie würde durch das Land ziehen, Tote begraben, Menschen beistehen. So wie sie es immer gewollt hatte. Wie viele dunkle Nächte mochten vor ihr liegen?

In den folgenden Wochen übte sie in dunklen Wäldern und an verlassenen Orten. Die Melodie tauchte ihren Geist in große Leere. Im Geist verwandelte sie sich in eine zornvolle Dakini. Ihren Körper mitsamt dem Herzen bot sie allen bedürftigen Wesen als Nahrung dar. Manchmal versuchte die Angst wie ein Wurm in sie hineinzukriechen und ihr Herz zu umklammern, doch nach und nach gewöhnte sich Özel Li an die einsamen Nächte in der Wildnis. Auch dem letzten Dämon, dem Vergnügen und der Anhaftung, begegnete sie auf Augenhöhe. Ob leckeres Tsampa oder eine wichtige Erkenntnis, sie genoss alles Gute und Schöne, das sie erlebte, hatte Freude daran und war dafür dankbar, doch sie brauchte es nicht mehr. Ihr Herz wurde stark und frei, freier als je zuvor.

Als sie nach einer Vollmondnacht unter freiem Himmel zur Hütte zurückkehrte, saß Norbu Legpa auf einem Holzschemel unter der Esche und schälte Nüsse. Er winkte ihr.

»Die Zeit ist gekommen, Özel Li, du musst dich wieder auf den Weg machen. Bei mir hast du alles gelernt, was du dazu brauchst. Dein Platz ist nicht an meiner Seite, dies war nur der Anfang.«

Özel senkte den Blick, betrachtete nachdenklich ihre Hände und schwieg. Schon längst hatte sie begriffen, dass ein Schüler selbst für sein Leben Verantwortung trug, vom Meister unabhängig werden musste. Trotzdem, sie war traurig über den bevorstehenden Abschied. Niemals zuvor hatte ein Mensch ihre innersten Wünsche, ihr Sehnen so ernst genommen, ihr so zugehört wie er.

»Wandere bis zum friedvollen, blauen See Manasarovar und steige auf den Berg, der das Antlitz einer Frau trägt«, fuhr er fort. »Es ist ein weiter Weg, aber wenn dein Schicksal es so will, wirst du dort deiner wahren Meisterin begegnen. Verliere unterwegs nicht das Ziel aus den Augen!«

Norbu Legpa lächelte. Er wusste, sie war eine Einsame, eine, die in ihrem Herzen mit sich allein sein konnte, und sie war eine Einsgerichtete, eine, der es gegeben war, aus sich heraus in einem einzigen Leben vollständige Erleuchtung zu erfahren. Für ihn war es gleichgültig, in welchem Körper ein Bewusstsein wohnte, wenn der Mensch nur mit all seiner Kraft dem Wunsch in seinem Inneren folgte. Weil nämlich das tiefste Sehnen in einer Menschenseele geradewegs aus dem Herzschlag der Wirklichkeit floss. Doch war sie auch jung und unerfahren und er zögerte, sie so allein in die Welt hinauszuschicken. Und doch musste es geschehen. Ein Schüler muss vieles durch eigene Erfahrung herausfinden, ein Lehrer sollte möglichst sparsame Anweisungen geben, den Schüler anspornen, auf sein Herz zu hören und dem zu folgen, was ihn bewegt und seine Aufmerksamkeit fesselt, beharrlich wie ein Tiger auf der Fährte des Wildes.

»Schau dir diesen Bergkristall an«, Norbu hielt einen durchsichtigen Kristallstein in der geöffneten Hand, die feine Fältchen durchzogen. Das Sonnenlicht brach sich in dem Edelstein und versprühte bunte Funken.

»Beim Chöd beruhigt sich der Geist und die Gedanken sinken wie Kiesel auf den Grund eines Sees. So bleibt nach geduldigem Üben und Stillwerden nur leere Bewusstheit des Geistes übrig, und das Wasser wird so klar wie dieser Kristall. Genauso ist unsere wahre Natur, leer, durchscheinend und voller grenzenloser Möglichkeiten.« Er schloss seine runzlige Hand um den Bergkristall und steckte den Stein wieder in die Falten seines Gewandes.

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