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Kapitel 6

Je näher Anke Deister und Norbert Kullmann der Mülldeponie kamen, umso penetranter wurde der Geruch. Schon von weitem sahen sie das Absperrband im Wind flattern. Einige Männer und Frauen arbeiteten mit groben und feinen Sieben.

Dr. Ernst Kehl löste sich aus der Menge und trat auf Anke zu.

»Na, schöne Frau«, begrüßte er sie in einem anzüglichen Tonfall. Anke mahnte sich zur Beherrschung, dass sie ihm nicht etwas Beleidigendes ins Gesicht schleuderte. »Treibt es die Täterin an den Tatort zurück?« Nachdem sein einsames Lachen erstarb, richtete er seinen Blick auf Kullmann.

»Ach! Der Herr Hauptkommissar a.D. kommt höchstpersönlich«, begrüßte er Kullmann. »Dass Sie noch Zeit haben, sich um Ihre ehemalige Arbeit zu kümmern?«

»Was soll die Bemerkung?« Kullmann reagierte gereizt.

»Sie sind Ehemann, Vater und Großvater gleichzeitig geworden.« Dr. Kehl grinste anzüglich. »So etwas entgeht uns nicht.«

»Schön, dass ich noch im Gespräch bin«, konterte Kullmann, »trotzdem möchte ich gern erfahren, ob Sie schon die Identität des Opfers feststellen können.«

»Sie wissen sicherlich, dass ich Ihnen keine Auskunft über einen laufenden Fall geben darf«, erklärte Dr. Kehl gewichtig. »Aber unserer schönen Kollegin kann ich schon mal mitteilen, dass der Archäologe und ich das Skelett in den Abendstunden untersuchen werden. Wir haben bis jetzt den Fundort weiträumig gesiebt. Sämtliche Fundstücke nehmen wir mit ins Labor.«

Anke wich einen Schritt zurück, weil Dr. Kehl immer näher an sie herantrat.

»Kommen Sie mich heute Abend besuchen, wenn ich mit der Arbeit fertig bin.«

Anke traute ihren Ohren nicht.

Einige Mitarbeiter traten in ihren Schutzanzügen auf Dr. Kehl zu. »Wir haben alles gesichert. Können wir die Absperrung aufheben?«

Dr. Kehl nickte, ohne dabei Anke aus den Augen zu lassen.

»Wann können Sie mehr über das Skelett sagen?«, schaltete sich Kullmann ein, um die Anspannung zu entschärfen. Geschickt schob er Anke zur Seite, damit Dr. Kehl ihn anschauen musste.

»Das kommt darauf an, ob Spuren vorhanden sind«, antwortete Dr. Kehl unfreundlich.

»Was haben Sie denn gefunden?«

»Das Skelett war weit verstreut. Zum Glück haben wir alle Teile gefunden, um es komplett zusammenzusetzen. Außerdem lagen Stofffetzen in der Umgebung. Vermutlich gehören sie zu der Kleidung, die er oder sie getragen hatte. Dazu eine Gürtelschnalle und ein Schlüssel. Die Zugehörigkeit müssen die Kollegen der Spurensicherung feststellen.«

Dr. Kehl machte eine schnelle Drehung. Wieder stand er ganz dicht vor Anke. Während er den Blick über Ankes Körper hinunterwandern ließ, sprach er weiter: »Das Interessanteste kommt aber noch!«

»Und das wäre?«, fragte Kullmann.

»Ich frage mich, mit wem ich hier spreche«, wurde Kehl plötzlich unhöflich. »Mit der diensthabenden Beamtin oder einem Rentner, der hier nichts verloren hat?«

Anke verschlug es fast die Sprache. Bei dem Gedanken, in dem Fall eng mit Dr. Kehl zusammenarbeiten zu müssen, wurde ihr übel.

»Nicht in dem Ton«, entgegnete sie bestimmter, als ihr zumute war, »Kullmann ist weiterhin beratend für die Polizei tätig. Also geben Sie uns die nötigen Informationen oder wollen Sie unsere Arbeit behindern?«

Dr. Kehl war verdutzt. Eine Weile schaute er Anke an, wobei er den Kopf senkte, um besser über den Rand seiner Brille sehen zu können.

»An jedem Gerücht ist ein Fünkchen Wahrheit«, bemerkte er zusammenhanglos.

Anke und Kullmann schauten sich staunend an.

»Weiß Ihre erst kürzlich Angetraute, was Sie ihr damit antun?« Dr. Kehl richtete seine Frage an Kullmann.

Anke wurde es ganz heiß vor Zorn. Was ging hier vor? Welche Absicht hegte Dr. Kehl mit seinen boshaften Unterstellungen.

»Sie dürfen nicht von sich auf andere schließen. Warum Ihre Frau Sie verlassen hat, ist schon lange kein Geheimnis mehr«, sprach Kullmann betont gelassen. »Leider bekomme ich den Eindruck, dass Ihre privaten Entgleisungen sich auf Ihr Urteilsvermögen im Gebiet der forensischen Anthropologie auswirken. Das ist schade, denn das müssen wir melden, damit ein fähiger Mann auf den Posten kommt.«

Damit hatte Kullmann Dr. Kehl den Wind aus den Segeln genommen. Eisiges Schweigen herrschte auf dem Waldweg. Die goldenen Laubbäume rauschten im Wind, einzelne Blätter fielen herab, was den Eindruck vermittelte, es regnete Gold. Das alles nahm Anke nur am Rande wahr. Die beiden Alten standen sich mit einer Feindseligkeit gegenüber, die ihre ganze Aufmerksamkeit erforderte. Dabei vertraute sie auf Kullmanns Überlegenheit, die ihm schon aus vielen brisanten Situationen herausgeholfen hatte.

Sie lag mit ihrer Vermutung richtig, denn schon bald lenkte Dr. Kehl ein, indem er die Frage beantwortete, die Kullmann schon vor einiger Zeit gestellt hatte: »Wir haben einen Backenzahn in einem erstaunlich guten Zustand gefunden. Es ist möglich, dass sich daran eine DNA feststellen lässt.«

»Das ist doch ein Anfang.« Kullmann nickte zufrieden. »Ist damit die Vermutung, dass es sich um einen Toten aus der Keltenzeit handelt, entkräftet?«

»Es sieht alles danach aus.«

»Was können Sie aus der DNA entnehmen?«, fragte Kullmann weiter.

»Ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt«, antwortete Dr. Kehl. »Aber die Identität des Toten ist nur dann zweifelsfrei festzustellen, wenn wir eine Gegenprobe zum Vergleich haben.«

»Na, das hört sich für mich so an, als würde die Mordkommission nicht um den Fall herumkommen. Um die Gegenprobe werde ich mich kümmern.«

Kapitel 7

Schritte schallten durch die dunkle Stallgasse. Anke erschrak. Sie griff instinktiv an ihre Seite, aber da war keine Waffe. Schließlich war sie privat unterwegs.

Die Schritte näherten sich.

Anke stellte sich in die Ecke von Rondos Box und verharrte. Sie kamen näher und näher und näher, bis sie direkt vor der Boxentür endeten. Da erst erkannte sie ihn: Es war der Tierarzt. Der Mann, auf den sie wartete, seit Kullmann mit Martha und Lisa nach Hause gefahren war.

Insgeheim ärgerte sie sich über sich selbst, dass sie so ängstlich reagierte. Das könnte in ihrem Beruf hinderlich sein. Der Tierarzt bemerkte nichts von Ankes innerer Zerrissenheit. Er untersuchte Rondo.

Millimeter für Millimeter tastete er das verletzte Bein ab, bis er zu einer Diagnose kam. Er erklärte, die Sehne sei geprellt. Das Bein müsse täglich mit Salbe versorgt und frisch verbunden werden.

Anke ahnte, dass sie bei dieser Behandlung gute Fähigkeiten als Krankenpflegerin erwerben, das Reiten jedoch verlernen würde.

Der Tierarzt fuhr davon und ließ eine frustrierte Anke zurück.

Auf dem Paddock versuchte sie, Kullmann anzurufen, weil sie innerhalb der Stallmauern keinen Empfang hatte.

Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Dunkelheit hüllte sie ein. Eine Schleiereule kreischte und zog ihre Bahnen in Richtung Wald. Ankes Blick folgte ihrer Silhouette und landete genau an der Stelle, wo sie das Skelett gefunden hatte – dicht an der Mülldeponie.

Sah sie richtig?

Leuchtete dort etwas auf?

Gebannt starrte sie in die Dunkelheit. Nichts. Sie hatte sich wohl getäuscht. Sie widmete sich wieder ihrem Handy.

Da sah sie es wieder.

Ein winzig kleiner Lichtkegel flackerte auf.

Plötzlich hörte sie ein lautes Scharren.

Erschrocken zuckte sie zusammen.

Es war Rondo, der hinter ihr mit den Hufen über den harten Boden kratzte.

»Rondo«, schimpfte sie leise. »Wie kannst du mich so erschrecken?«

Schnauben ertönte als Antwort. Dabei schlug ihr ein feuchter Luftzug ins Gesicht.

Sie drehte sich um und schaute wieder in die Richtung des Waldes. Deutlich erkannte sie, dass sich aus östlicher Richtung ein Lichtkegel auf den Leichenfundort zu bewegte.

Der Lichtstrahl verschwand.

Konnte Anke ihren Augen noch trauen?

Plötzlich sah sie zwei Lichtquellen. Dann sogar drei!

Was ging dort vor?

Eine Weile verharrte sie, beobachtete die kleinen Lichter, die abwechselnd aufleuchteten und verschwanden, bis sie anhielten. Nun glaubte Anke, sogar vier zu sehen. Dann wiederum drei, dann nur noch eins, bis alles dunkel wurde.

Ihr Handy läutete. Kullmanns Stimme lenkte sie ab. Sofort erzählte sie ihm, was sie sah.

»Soll ich nachsehen, was dort los ist?«

»Um Gottes Willen«, rief Kullmann aufgebracht. »Womöglich handelt es sich bei dem Leichenfund um ein Opfer eines Verbrechens. Es könnte doch sein, dass es tatsächlich den Täter an den Tatort zurückgetrieben hat, nachdem er von dem Leichenfund in der Zeitung gelesen hat. Du darfst nicht hingehen, sonst finden wir dich erst Jahre später wer weiß wo!«

»Schon gut!« Anke erkannte selbst, wie leichtsinnig ihr Vorschlag war. »Mach dir keine Sorgen. Während ich hier auf dich warte, rufe ich die Kollegen meiner Abteilung an. Soll Jürgen entscheiden, was er damit macht.«

Kapitel 8

»Der Archäologe hat seine Untersuchungen am Skelett abgeschlossen. Die Knochen fallen nicht in seinen Arbeitsbereich, sondern in unseren.« Mit dieser Enthüllung begrüßte Erik seine Kollegin am Montagmorgen.

Sein Tonfall ließ Anke aufhorchen.

»Und was gefällt dir daran nicht?«, fragte sie.

»Ich arbeite nicht gerne mit unkooperativen Leuten zusammen«, rückte Erik mit der Sprache heraus. »Ich verbringe hier das ganze Wochenende mit dem Fall, aber Dr. Kehl ist nicht bereit, mir seine Ergebnisse mitzuteilen.«

»Wem will er sie denn ausrichten?«, fragte Anke schon ahnend, wie die Antwort ausfallen würde.

»Dir. Und zwar nur dir!«

»So ein Idiot. Damit blockiert er nur die Ermittlungen.«

»So ist es. Aber sein Gegenargument lautet, dass unser Toter schon länger tot ist, also bestehe kein Grund zur Eile.«

»Er sagt uns also, wo die Prioritäten liegen?«

»Sieht so aus.«

»Na gut! Wenn das so ist, trinke ich zuerst einen Kaffee.«

Das verstand Erik als Aufforderung. Er stand auf, verließ das Zimmer und kehrte mit einer funkelnagelneuen Thermoskanne zurück.

»Na, wie findest du meine neue Anschaffung?«

»Toll! Was bezweckst du damit?«

»Ganz einfach: Damit will ich den Kaffee heiß halten, ohne dass er auf der Maschine einkocht und nachher ungenießbar wird.«

»In dir steckt ein talentierter Hausmann«, schmunzelte Anke anerkennend. »Solche Kleinigkeiten würden mir nicht einfallen.«

Die Tür wurde hastig aufgerissen.

Bernhard Diez trat ein.

»Anklopfen hat dir wohl keiner auf deiner Psychologieschulung beigebracht«, schimpfte Anke.

»Wir haben eine Besprechung. Das ist jetzt wichtiger«, entgegnete er unfreundlich.

»Laut Dr. Kehl ist unser Unbekannter schon länger tot«, hielt Anke dagegen. »Deine Hast ist also überflüssig.«

»Jürgen will aber jetzt mit uns sprechen. Ich habe das Gefühl, dass ihm Forseti im Nacken sitzt. Deshalb ist es egal, wie lange unser Unbekannter schon tot ist. Also halt hier keine Reden, sondern schwing die Hufe!«

»Das überlass ich den Pferden«, konnte sich Anke nicht verkneifen.

»Immer musst du das letzte Wort haben.« Bernhard warf die Tür zu.

»Was ist mit dem los?«, fragte Erik, der dem Gespräch stumm gelauscht hatte.

»Keine Ahnung!« Anke zuckte mit den Schultern. »Als er noch Streife gefahren ist, war er ein netter Kollege. Seit seiner Beförderung zum Kriminalkommissar benimmt er sich arrogant.«

»Und seit seinem Lehrgang in Kriminalpsychologie ist seine Selbstherrlichkeit nicht mehr zu ertragen«, fügte Erik grimmig an.

Sie betraten den Konferenzraum.

Der Platz von Esther Weis war leer. Sie befand sich auf einer Weiterbildung, was in Anke gemischte Gefühle hervorrief. Sie wusste genau, dass nur diejenigen schneller befördert wurden, die diese Schulung gemacht haben. Esther war Schnurs Schützling – so, wie Anke damals Kullmanns Schützling war. Deshalb ahnte Anke, dass die Kollegin, die nach ihr mit dem Polizeidienst begonnen hatte, vor ihr zur Oberkommissarin befördert würde.

Anton Grewe saß neben Horst Hollmann, der auch von Schnurs Beförderung zum Dienststellenleiter profitierte. Er war gerade dabei, die Kriminaldienste zu durchlaufen, eine Vorstufe zur Festanstellung bei der Kriminalpolizei. Anke war jetzt schon gespannt, wie Hollmann seinen Karrieresprung verarbeiten würde. Dabei musste sie an Bernhard Diez denken.

Schnur begann mit der Besprechung: »Nach den Erkenntnissen des Archäologen wird ein Fund aus der Keltenzeit definitiv ausgeschlossen. Nun sind wir auf die Mitarbeit von Dr. Kehl angewiesen. Leider haben wir es seinem Eigensinn zu verdanken, dass wir das Ergebnis seiner Untersuchung noch nicht kennen.« Während er den letzten Satz aussprach, richtete er seinen Blick auf Anke. »Der Anthropologe will nur mit dir darüber sprechen.«

Anke wirkte verdrossen.

»Erik wird dich zur Uniklinik in Homburg begleiten«, fügte er an, ohne auszusprechen, warum er diese Anordnung machte.

Anke nickte.

»Sobald wir das DNA-Ergebnis haben, rede ich mit der Staatsanwältin.«

»Das ist wirklich aufregend! Und was machen wir in der Zwischenzeit?«, unterbrach Bernhard das Geplänkel.

»Du siehst alle Vermisstenanzeigen durch«, wies Schnur den Kollegen an.

Bernhard stöhnte: »Wir wissen noch nicht einmal, zu welcher Zeit unser Opfer verschwand.«

»Eine zeitliche Eingrenzung wird uns Dr. Kehl liefern.«

»Und wonach suche ich: nach einem Mann oder einer Frau?«

»Wie wäre es, nach einem Menschen zu suchen?«, stellte Schnur eine Gegenfrage.

Bernhard schluckte.

»Anton Grewe und Horst Hollmann werden dir dabei helfen. Hier hat sich noch niemand zu Tode arbeiten müssen.«

Bernhard verzog sein Gesicht zu einer Grimasse.

»Ich spreche mit Theo Barthels, dem Leiter der Spurensicherung, welche Spuren am Samstag – nach dem nächtlichen Besuch am Fundort – gesichert werden konnten. Vielleicht hat er Hinweise gefunden. « Mit diesen Worten beendete Schnur die Sitzung.

Anke und Erik verließen den Besprechungsraum.

»Ich finde es nicht richtig, Ernst Kehls Sonderwünschen nachzugeben«, begehrte Anke auf.

Nachdenklich schaute Erik seine Kollegin an.

Ihre dunklen Haare schimmerten rötlich im Schein der Sonne, die durch das Fenster schien. Ihre Haare reichten über ihre Schultern, einige kurze Fransen fielen ihr in die Stirn, wodurch ihr ebenmäßiges Gesicht keck wirkte.

»Da gebe ich dir Recht«, meinte Erik. »Trotzdem kann ich Dr. Kehl gut verstehen.«

Verständnislos schaute Anke Erik an, konnte aber keine Belustigung feststellen.

»Was soll das heißen?«

»Dass Dr. Kehl Geschmack hat.«

»Und ich werde gar nicht gefragt?« Anke kam die Wut hoch.

»Natürlich. Was glaubst du, warum Jürgen darauf besteht, dass ich dich begleite.«

Kapitel 9

Dr. Kehl stand im weißen Kittel vor einer Stahlfläche, auf der ein komplettes Skelett lag. Als er Anke eintreten sah, hielt er mit seiner Arbeit inne, zog seine Latexhandschuhe aus und begrüßte sie mit einer Freundlichkeit, die Anke als Warnung auffasste. Erik bekam nur ein kurzes Kopfnicken.

»Da sind Sie ja endlich.« Ohne seinen Blick von Anke abzuwenden, trat er auf das Skelett zu. »Ich habe die Knochen inzwischen untersucht und zugeordnet. Anhand der Knochennähte, die, wie wir hier sehen können, zusammengewachsen sind, handelt es sich um einen ausgewachsenen Menschen, Alter zwischen dreißig und fünfzig Jahren. Zu Lebzeiten erlitt er eine Fraktur am linken Oberarm. Von seinen Zähnen konnten wir nur einen einzigen finden, an dem wir die DNA–Analyse durchgeführt haben. Das Ergebnis hat das Labor noch nicht ermittelt. Aber im Laufe des Tages werden wir es erhalten.«

»Was ist die Todesursache?«, fragte Erik.

»Unser Opfer wurde doppelt ermordet«, erklärte Dr. Kehl. »Einmal wurde es erwürgt, das erkennt man daran, dass das Zungenbein gebrochen ist.« Er wies mit seiner behandschuhten Hand auf einen kleinen, vorstehenden Knochen zwischen den spärlichen Überresten des Unterkiefers und den oberen Halswirbelknochen, der umgeknickt war. »Weiterhin wurde auf Ober – und Unterkiefer mehrmals eingeschlagen, dass kaum etwas von den Knochen erhalten geblieben ist.« Er hielt kurz inne, schaute Anke eindringlich an. »Allerdings habe ich die erstaunliche Entdeckung gemacht, dass die Knochen bei unserem Opfer so brüchig waren wie bei einem alten Mann.«

»Jetzt wird es kompliziert«, stöhnte Anke.

»Ganz und gar nicht. Ich will damit sagen, dass die Knochen nur dadurch restlos zertrümmert werden konnten. Ansonsten bleibt immer noch etwas erhalten, was wir für Untersuchungen verwenden können.«

»Was heißt das für uns?«

»Entweder war das Opfer nach den Anstrengungen des Erwürgens immer noch nicht tot oder der Täter wollte vermeiden, dass die Identität des Opfers festgestellt werden kann.«

»Wäre das Opfer an der Zertrümmerung der Kiefer gestorben?«

»Bei dieser massiven Verletzung wäre es erstickt.«

»Wurden ihm die Verletzungen vor oder nach seinem Tod zugefügt?«

»Das kann ich nicht mehr feststellen.« Dr. Kehl zuckte mit den Schultern. Wieder blieb sein Blick auf Anke haften, als er anfügte: »Warum übt eine so aufregend schöne Frau wie Sie solch einen morbiden Beruf aus?«

»Das lassen Sie mal meine Sorge sein«, entgegnete Anke schroff und fügte ihre nächste Frage an: »Wie lange lag der Tote an dem Ort, an dem ich ihn gefunden habe?«

»Das ist schwer zu beantworten. Zwischen fünf bis zehn Jahren. Mit Sicherheit wurde er der ungewöhnlichen Hitze und Trockenheit im Sommer 2003 ausgesetzt. So etwas beschleunigt den Verwesungsprozess. Hinzu kommt, dass die Leiche nicht tief genug begraben wurde. Das begünstigt Tierfraß. Außerdem ist von seinen Kleidern nicht mehr viel erhalten geblieben, was vermuten lässt, sie waren blutgetränkt, sonst verrottet eine Hose nicht vollständig.«

»Tote bluten nicht«, funkte Anke dazwischen.

»Das beantwortet deine Frage, ob er noch lebte, als ihm die Verletzungen zugefügt wurden«, reagierte Erik darauf.

»Das sind vage Vermutungen«, schaltete sich Dr. Kehl schnell ein. »Wir wissen nicht, ob das Opfer vollständig bekleidet war, als es im Wald vergraben wurde.«

Die Veranschaulichungen wurden immer schauriger. Anke schüttelte sich bei der Vorstellung, was sich dort abgespielt haben musste, wo sie vom Pferd gefallen war.

»Sie sagten doch, dass Kleidungsreste in der Nähe des Fundorts lagen«, erinnerte Anke Dr. Kehl.

»Nur dürftige Stofffetzen, meine Schöne …«

»Ich bin nicht Ihre Schöne«, unterbrach Anke den Alten.

»… zum vollständigen Bekleiden zu wenig«, sprach der Anthropologe unbeirrt weiter. »Zudem lagen dort eine Gürtelschnalle und ein Schlüssel, gnädiges Fräulein.«

»Für Sie immer noch Kriminalkommissarin Deister. Ihre Verniedlichungen können Sie sich sparen!«

»Ganz schön rebellisch, Ihre Kollegin«, wandte sich Dr. Kehl an Erik, der nur mit einem grimmigen Blick reagierte. »Sämtliche Fundstücke befinden sich bereits im Labor bei Theo Barthels, der die kriminaltechnische Untersuchung daran durchführt.«

Kapitel 10

Erik hörte, dass sich der Arbeitstag seinem Ende näherte. Nach und nach verstummten die Telefone und das leise Klappern der PC-Tas­taturen. Dann erstarben die Stimmen der Kollegen, die sich immer etwas zu erzählen hatten, bis die letzten Schritte auf dem Korridor verhallten. Wie so oft blieb er allein in den Räumlichkeiten zurück. Private Termine, die keinen Aufschub duldeten, hatte er nicht. Auch keine Familie, die auf ihn wartete. Sein Freundeskreis hielt sich in Grenzen. Lag das an seinen Arbeitszeiten? Oder schob er unbewusst die Arbeit vor, um sich nicht auf neue Freunde konzentrieren zu müssen? Er wusste es nicht. Gern übernahm er Dienste für Anke. Sie hatte eine kleine Familie, Menschen, die auf sie warteten. Und ein Pferd. Er gönnte ihr das Glück von ganzem Herzen, wollte seinen bescheidenen Beitrag dazu leisten und ihr einige Arbeitsstunden abnehmen. Leider fühlte er sich dabei nicht wie der fürsorgliche Freund, der er gerne wäre, sondern einsam. Die Stunden im Büro konnte er schon nicht mehr zählen.

Das Läuten des Telefons lenkte ihn endlich von seinen tristen Gedanken ab. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Dr. Kehl. Der Tonfall seiner Stimme verriet, wie enttäuscht er darüber war, nicht Anke persönlich zu hören.

»Wir haben das Ergebnis der DNA-Untersuchung. Es handelt sich zweifelsfrei um ein männliches Opfer.«

»Und?«

»Ich brauche nur noch eine Gegenprobe zum Vergleich. Ich habe mir das Material genau angeschaut. Das Untersuchungsverfahren der Polymerase-Kettenreaktion hat zu einem ausführlichen Ergebnis geführt, sodass Zweifel ausgeschlossen werden können.«

Erik atmete tief durch. Nun mussten sie also die Vermisstendateien nur noch nach Männern absuchen. Das reduzierte ihre Arbeit wesentlich.

Nach Hause fahren wollte er nicht. Dort würde sich seine Einsamkeit nur fortsetzen. Also beschloss er, Anke im Reitstall aufzusuchen.

Zügig fuhr er in Richtung Mandelbachtal. Kaum hatte er den lang gezogenen Anstieg bei Ormesheim hinter sich gelassen, fühlte er sich überwältigt von dem Anblick, der sich ihm bot. Sein Kopf war bis zu diesem Zeitpunkt voll mit Überlegungen über seine Arbeit. Doch mit einem Mal waren alle Gedanken wie weggewischt. Seine Augen erfassten Wiesen, Felder und Wälder, lebhafte Pferde, die über Koppeln galoppierten und Reiter, die auf einem großen Platz direkt an der Straße über bunte Hindernisse sprangen. Eine Schar von Gänsen watschelte majestätisch mit hoch erhobenen Köpfen über den schmalen Zufahrtsweg, womit sie die Autofahrer zum langsamen Fahren anhielten. Anke ging neben ihrem Pferd Rondo auf einem kleinen Sandplatz her. Lisa saß stolz im Sattel.

Was für ein Anblick! Erik schmunzelte.

Er stellte seinen Wagen ans Ende der langen Reihe von parkenden Autos und steuerte auf den kleinen Reitplatz zu. Die späte Sonne verströmte rotes Licht, von Wärme war nichts zu spüren. Lisa trug einen blauen Anorak und einen Reiterhelm. Ihr Gesicht strahlte vor Glück.

»Hallo Erik«, rief Anke überrascht. »Du hier?«

»Ja! Ich wollte unseren Reiternachwuchs bestaunen.«

Die Kleine fühlte sich mächtig stolz. Demonstrativ hob sie beide Arme hoch, um Erik zu zeigen, wie gut sie das Reiten schon beherrschte. Anke fasste schnell die Zügel ihres Pferdes nach, damit es nicht auf die Idee kam, gerade jetzt loszulaufen.

»Sein Bein ist wirklich dick«, stellte Erik mit Kennermiene fest. »Hoffentlich dauert es nicht allzu lange, bis er wieder gesund ist.«

»Na ja! In der Zeit kann Lisa auf ihm reiten. Ihr Gewicht wird seinem Bein nicht schaden.«

Erik übernahm die Aufgabe, das Pferd zu führen.

Mit Rondo in ihrer Mitte drehten sie ihre Runden, während sie das Treiben um sich herum beobachteten. Vom großen Reitplatz hörten sie die laute Stimme des Reitlehrers. Dazwischen ertönte immer wieder das zornige Schnattern der Gänse. Vom Stall erklang in immer kürzer werdenden Abständen das klägliche Wiehern eines Pferdes. Einige Männer versammelten sich vor der Reithalle und lachten. Hunde bellten, Kinderstimmen schallten heiter.

Plötzlich donnerten Hufe so laut, dass Rondo erschrak. Ruckartig blieb er stehen, hob den Kopf und schaute in die Richtung, aus der der Lärm kam.

Im gleichen Augenblick galoppierte ein schwarzes Pferd mit Sattel und Trense – allerdings ohne Reiter – vom großen Reitplatz in einem Wahnsinnstempo den schmalen, asphaltierten Weg hinunter in Richtung Stall. Ein Mutiger versuchte sich dem Pferd in den Weg zu stellen, um es zum Halten zu zwingen. Aber in letzter Sekunde überlegte er es sich anders. Das Pferd wollte sich nicht aufhalten lassen. Hufgetrappel polterte durch die lange Stallgasse. Laute Schreie begleiteten das Donnern der Hufe auf dem Betonboden.

Hinter der langen Stallgasse tauchte der Rappe wieder auf und lief an den Koppeln entlang in Richtung Wald. Reiter kamen ihm im Schritt entgegen.

Mit angehaltenem Atem beobachteten Anke und Erik, was nun geschah. Erstaunlicherweise bremste das wild gewordene Pferd ab, ließ sich von einem der Reiter am Zügel fassen und zurück zum Stall führen.

»Was war das?«, fragte Erik.

»Keine Ahnung!« Anke atmete erschrocken aus. »Für heute reicht es mir. Lisas Reitstunde ist hiermit beendet.«

Trotz Lisas Protest führte Erik das Pferd in den Stall.

»Dr. Kehl hat das Ergebnis der DNA-Untersuchung«, berichtete er, während Anke und Lisa das Pferd versorgten.

Neugierig horchte Anke auf.

»Das Opfer ist männlich. Er braucht jetzt eine Gegenprobe zum Vergleich.«

»Konnte er den Eintritt des Todes inzwischen genauer bestimmen?«

»Er bleibt bei seiner anfänglichen Feststellung, dass der Tote dort fünf bis zehn Jahre gelegen hat.«

»Kullmann hat eine Theorie, wen wir dort gefunden haben könnten. Ob er sich darüber freuen wird, dass aus seinem Mord ohne Leiche ein ungelöster Mordfall aus seiner Dienstzeit geworden ist, werden wir noch sehen.«

Erik spottete: »Solltest du wieder ausreiten, binde dich gut am Sattel fest. Nicht dass du mit deiner Nase auf den nächsten ungelösten Fall stößt.«

Ärgerlich warf Anke ihm einen Striegel an den Kopf. Sie verließen den Stall. Inzwischen war es stockdunkel. Die Mondsichel leuchtete, Sterne funkelten im schwarzen Abendhimmel.

»Wer zuletzt bei dir zuhause ankommt, bezahlt die Pizza!«, feixte Erik.

»Das ist unfair und das weißt du. Mit Lisa im Auto werde ich mich hüten, ein Wettrennen zu starten.«

»Also bezahlst du die Pizza!«, schlussfolgerte Erik.

Hintereinander verließen sie den Parkplatz.

Lisa plapperte vom Fonds des Wagens aus unentwegt über ihre Reit­erlebnisse auf Rondo. Die Freude war ihr ins Gesicht geschrieben. Ihre blauen Augen leuchteten, ihre Wangen waren gerötet, ihre blonden Haare standen zottelig vom Kopf ab. Lisa war glücklich. Der Anblick wirkte wohltuend auf Anke.

Die Straße den Hügel hinunter gab einen ungestörten Blick über die hell erleuchtete Start – und Landebahn des Saarbrücker Flughafens frei. Ein Flugzeug startete. Ein anderes landete. Reger Betrieb herrschte. Sehnsüchtig schaute Anke dem Flieger nach, der in Richtung Süden davonflog. Jetzt ein paar Wochen am Strand, zusammen mit ihrer lebhaften Tochter – ach, wäre das schön! Doch leider war ein Urlaub nicht drin. Das Pferd hatte ihre Ersparnisse gekostet – Rondo würde ab sofort ihr Urlaub sein, ihr Freizeitausgleich, ihr Hobby und alles in einem.

Vor ihrer Wohnung wartete Erik auf sie. Mit der Lichthupe blinkend hatte er sie auf der Autobahn überholt. Sie betraten das Appartementhaus und steuerten ihre Wohnung im dritten Stock an.

Dort kam es wie erwartet. Lisa wollte nicht schlafen. Es dauerte lange, bis es Anke endlich gelang, sie davon zu überzeugen. Anschließend ließen sie sich erschöpft auf der Couch nieder und bestellten Pizza.

»Du bist mir eine große Hilfe«, murrte Anke.

»Was habe ich falsch gemacht?«

»Anstatt Lisa konsequent ins Bett zu stecken, hast du dich von der Kleinen einwickeln lassen.«

Erik schaute Anke eine Weile an, bis er reagierte: »Sie hat es gut drauf, mich um den kleinen Finger zu wickeln.«

Spürte Anke in Eriks Worten eine Sehnsucht? Sah er sein eigenes Kind in Lisa? Eriks Augen sprachen Bände, wenn er Lisa ansah. Hoffentlich war das nicht Eriks wirklicher Grund, sich so liebevoll um Lisa zu kümmern. Seit Anke wusste, dass er durch einen Autounfall Frau und Kind verloren hatte, sah sie ihren Arbeitskollegen anders. Sie bewunderte ihn dafür, wie gut es ihm gelang, mit seinem harten Schicksal zurechtzukommen.

Der Pizzabote klingelte. Eine bessere Ablenkung von schwermütigen Gedanken konnte es nicht geben. Während sie ihre Pizza aßen, überlegten sie, was sie in dem Zeitraum gemacht hatten, in dem das Opfer im Koppelwald zu Tode gekommen war.

»Ich habe erst im Jahr 1996 meine Laufbahn als Kriminalkommissarin in Kullmanns Abteilung begonnen«, sagte Anke.

»2002 warst du im Mutterschutz«, erinnerte sich Erik. »Zum Jahresende hatten wir den Stalking-Fall.«

»Stimmt! Im gleichen Jahr ist Kullmann in Pension gegangen – ich glaube, es war kurz vor Sommeranfang. Also müsste der Tote schon im Frühjahr dort abgelegt worden sein, während wir mit dem Polizistenmörder beschäftigt waren.«

»Dann wüssten wir beide davon.«

»Ich lag kurze Zeit im Krankenhaus«, gab Anke zu bedenken.

»In der Zeit ist nichts passiert.«

Schweigend aßen sie den Rest der großen Pizza auf, schoben die Verpackung beiseite und lehnten sich auf dem Sofa zurück.

»Wir sollten morgen mit Theo Barthels über die Gürtelschnalle sprechen«, unterbrach Erik die Stille.

»Glaubst du, er kann heute noch feststellen, wem sie gehört hat?«

»Ich hoffe es. Was mich stutzig macht, ist die Vermutung von Dr. Kehl, dass das Opfer keine Kleider mehr trug.«

»Das ist schrecklich.« Anke nickte. »Aber warum macht dich das stutzig?«

»Wenn er keine Kleider mehr trug, dann bestimmt auch keinen Gürtel mit Schnalle.«

Anke verzog ihr Gesicht zu einer ironischen Grimasse: »Du hast mich auf des Rätsels Lösung gebracht.«

Erik schaute Anke erwartungsvoll an.

»Es ist der Mann, der nichts anhat als den Gurt auf dem Schild an der Straße von zu Hause in die Stadt, wo ich so oft lang fahr.«

Erik ergriff ein Kissen und warf es mit Schwung in Ankes Richtung.

»Und ich dachte, es käme ein geistreicher Beitrag von dir.«

»Deine Beiträge sind auch nicht besser«, hielt Anke dagegen.

»Das Lied handelt übrigens von einer Frau – nicht von einem Mann.«

»Dann passt es aber nicht auf unseren Toten. Der ist nämlich eindeutig ein Mann.«

»Jetzt sind wir so weit, wie wir waren: Wir können nur hoffen, dass Theo Barthels diese Gürtelschnalle jemandem zuordnen kann.« »Vielleicht hat der Mörder sie getragen. Er wird nicht ebenfalls nackt im Wald herumgelaufen sein«, sinnierte Anke.

»Stimmt! Es könnte ein Kampf zwischen Täter und Opfer stattgefunden haben. Dabei hat der Täter die Gürtelschnalle verloren, ohne es zu merken.«

Anke hatte sich das Kissen geschnappt und versuchte jetzt, Eriks Kopf zu treffen. »Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Dass Mörder ihre Visitenkarte am Tatort zurücklassen, kommt nämlich äußerst selten vor.«

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