Читать книгу: «Kulllmann kann's nicht lassen», страница 3

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4. Kapitel

Über Sybille Lohmann gab es keine Akte. Sie hatte sich in ihrem kurzen Leben – 45 Jahre – nichts zuschulden kommen lassen. Anke bedankte sich bei Fred Feuerstein und kehrte zurück in ihr Büro. Die ganze Abteilung war verwaist. Es gefiel ihr nicht, allein dort zurückzubleiben und sich mit der Suche nach der Versicherungsgesellschaft herumzuschlagen. Außerdem war inzwischen Feierabend, so dass sie ohnehin nichts mehr erreichen konnte. Kurz entschlossen brach sie auf und fuhr zu Susi Holzer. Die anonymen Anrufe beschäftigten sie, obwohl Forseti ihnen keinerlei Bedeutung beimaß. Ankes vage Vermutung, dass Susi mit ihren Freundinnen am Unfallort vorbeigekommen war, wollte sich nicht einfach verleugnen lassen. Wer wusste schon, ob Susi alles erzählt hatte.

Um nach Riegelsberg-Walpershofen zu gelangen, musste Anke über den Ludwigskreisel in die Lebacher Straße am Rastpfuhl vorbeifahren. Dort hatte sich in den letzten Jahren viel verändert. Die alte Fußgängerbrücke am Cottbusser Platz war vor fünf Jahren eingestürzt. Inzwischen war sie durch eine Straßenbahnüberführung ersetzt worden. Seit dem Bau der Straßenbahnschienen, war der Verkehr auf dieser Straße noch dichter geworden, trotz der Bemühungen, durch das erweiterte Angebot an öffentlichen Verkehrsmitteln, den Autoverkehr zu reduzieren. Mühsam kämpfte Anke sich durch bis zur Autobahn A1, die nach Riegelsberg führt. Erst dort konnte sie aufatmen und Gas geben, damit sie schneller ans Ziel kam. Susi wohnte im ersten Stock ihres Elternhauses, ein kleines, altes Haus in der Herchenbacher Straße. Ihre Mutter lebte im Erdgeschoss. Das freistehende, gepflegte Haus stand von der Hauptstraße zurückgesetzt. Als Anke vorfuhr, parkte dort bereits ein Auto, ein sportliches BMW-Coupé in Silbermetallic. Dieses Auto gehörte nicht Susi, das wusste Anke genau. Sie stellte ihren Wagen nur ungern dahinter ab, weil ihr rostiger Kleinwagen schäbig von diesem Luxusgefährt abstach. Neugierig stieg sie aus, umrundete das fremde Fahrzeug mit prüfendem Blick, ob sich daran Unfallspuren zeigten. Aber sie konnte nichts erkennen, der Lack war makellos. Sie klingelte. Kurz darauf wurde die Tür von Susi geöffnet.

»Hallo Anke, schön dass du kommst. Meine Freundinnen Rita und Annette sind auch da.«

Über eine schmale, alte Treppe ging es in den ersten Stock. Weiter führte der Weg durch einen Flur in ein helles, freundliches Zimmer, das trotz seiner gediegenen, altmodischen Einrichtung gemütlich wirkte. Dort saßen zwei Frauen, die sofort aufsprangen, als Anke den Raum betrat. Hastig kam die dunkelhaarige junge Frau auf Anke zu und reichte ihr schon von weitem die Hand.

»Ich bin Rita Rech«, stellte sie sich vor. Sie hatte schwarze, wellige Haare, die bei jeder ihrer Bewegungen mitwippten. Ihr Teint war blass, im Kontrast dazu hatte sie ihre Lippen dunkelrot geschminkt. Die andere Freundin war Annette Fellinger. Ihr Gesicht war leicht gebräunt, als besuchte sie regelmäßig ein Sonnenstudio. Sie trug ihre blonden Haare fast bis zur Hüfte. Beide waren bekleidet mit hautengen Leggins, Turnschuhen und Oberteilen, die so eng anlagen, dass ihre Brüste durchschimmerten. Trainingsjacken hatten sie lässig über ihre Schultern geworfen. Außerdem zierte Annettes Gesicht ein lilafarbenes Stirnband, das besonders gut zu ihren grünen Augen passte. Anke war erstaunt über die Gegensätze dieser Freundinnen. Zwischen Rita und Annette wirkte die kleine, pummelige Susi bieder.

Als Rita die prüfenden Blicke von Anke bemerkte, erklärte sie: »Wir kommen gerade vom Jogging.«

»Seit ihr in einem Lauftreff?«, fragte Anke.

»Ja, im Lauftreff Köllertal. Aber es kommt schon mal vor, dass wir nur für uns laufen. Manchmal braucht man einfach seine Ruhe und wo bekommt man die besser als im Wald.« Rita klang froh gelaunt.

»In welchem Wald lauft ihr?«

»Wir treffen uns in Köllerbach-Rittenhofen, überqueren die Hauptstraße und laufen bis in den Wald bei Schwarzenholz.«

»Das klingt, als sei es eine weite Strecke.« Anke staunte.

»Wir trainieren regelmäßig, deshalb sind wir topfit. Aber deshalb bist du bestimmt nicht gekommen. Wir freuen uns natürlich, dass du unserer Freundin helfen kannst.«

»Ich muss dich leider enttäuschen«, richtete Anke sich an Susi. »Mein Chef hat einer Fangschaltung nicht zugestimmt.«

Enttäuscht seufzten die drei Freundinnen auf.

»Hat er sich wieder gemeldet?«

»Nein.«

»Hast du ihm bei seinem letzten Anruf etwas gesagt, was ihn von weiteren Anrufen fernhalten könnte?«, bohrte Anke weiter.

»Ich habe ihm gesagt, dass meine Freundin beim Landeskriminalamt arbeitet und dass ich ihr alles erzählt habe. Das hat wohl Wirkung gezeigt.«

Das machte die Situation noch interessanter, fand Anke. Darüber musste sie unbedingt mit Erik sprechen, denn nur er machte sich die Mühe, ihre Vermutungen ernst zu nehmen.

»Ist euch beiden etwas auf dem Nachhauseweg Samstagnacht aufgefallen?«, richtete sie sich nun an Rita und Annette.

Die beiden Frauen legten sofort feindselige Mienen auf. Annette übernahm das Reden: »Sybilles Tod trifft uns sehr, aber wir haben nichts damit zu tun.«

»Habe ich das gesagt?«, parierte Anke. »Wollt ihr nicht wissen, wie es zu diesem tragischen Unfall kam, gerade weil es eure Freundin ist?«

Damit hatte sie Annette den Wind aus den Segeln genommen. Sie lenkte ein und antwortete: »Uns ist auf dem Heimweg nichts aufgefallen. Wir waren betrunken und nicht gerade aufmerksam. Susi ist gefahren, weil sie am nüchternsten von uns dreien war.«

Rita begann zu kichern, was Anke stutzig machte. Wie nah ging ihr Sybilles Tod wirklich?

»Was ist jetzt plötzlich so lustig? Euren Stimmungsschwankungen kann ich nicht so ganz folgen.«

»Das Einzige, was ich noch weiß, ist die Sternschnuppe am Himmel«, erklärte Rita. Ihr Lachen wurde immer lauter, bis Annette und Susi mit einstimmten, als habe sie einen urkomischen Witz gemacht. Anke musste warten, bis die drei kichernden Frauen sich beruhigten, bevor sie nachhaken konnte: »Was für eine Sternschnuppe in einer kalten, verregneten Oktobernacht?«

»Das ist es ja gerade: Wir haben schon halluziniert«, erklärte Rita.

»Susi, du hast mir doch etwas von einem Fahrer gesagt, der stark aufgeblendet hatte«, erinnerte Anke sich.

»Das war die Sternschnuppe«, gestand Susi.

»Ist es denn möglich, dass du von deiner Fahrspur abgekommen und auf die Gegenfahrbahn geraten bist, weshalb das entgegenkommende Fahrzeug aufgeblendet hat?«

Susi staunte über diese Theorie. Annette und Rita wurden ebenfalls ganz still.

Anke erhob sich von ihrem Platz und ging zu dem großen Fenster. Von dort reichte die Sicht über Felder und vereinzelte Baumgruppen bis zum nächsten Ort.

»Ist das Riegelsberg, was ich von hier aus erkennen kann?«, fragte Anke.

»Nein, das ist Köllerbach-Etzenhofen«, antwortete Susi.

Der Tag neigte sich dem Ende zu, die Dämmerung brach herein. Im heftigen Wind bogen sich die Bäume, deren Laub in rot, braun und gelb schimmerte. Ankes Blick wanderte zurück zum Hof des Hauses bis hinauf zur Fensterbank, als sie etwas entdeckte, was ihre Aufmerksamkeit erregte. Der Vorsprung war schmutzig und abgenutzt. Neugierig ließ sie ihren Blick nach links zu einer Regenrinne wandern. Diese Rinne war mit stabilen Streben befestigt, so dass sie die Funktion einer Leiter erfüllte. Ankes Blick verfolgte dieses Rohr, das im Hof endete und spürte instinktiv, dass dieser Weg einen Fluchtweg darstellte. Sofort erinnerte sie sich an ihre eigene Jugend. Von ihrem Zimmer aus gab es auch eine Möglichkeit, über das Garagendach in den Garten zu gelangen. Diesen Geheimweg hatte sie oft benutzt, um spätabends noch zu Freunden gehen zu können, wenn sie sich mal wieder von ihren Eltern unverstanden fühlte. Die Spuren vor Susis Fenster machten den Eindruck, als würde dieser Weg immer noch regelmäßig benutzt.

Als sie sich umdrehte, schaute sie in angespannte Gesichter. Was sie dort entdeckt hatte, war also ein Geheimnis. »Mit welchem Auto seid ihr gefahren?«

»Mit meinem Suzuki«, antwortete Susi. »Er steht neben dem Haus.«

Sie begaben sich nach draußen, an Annettes Auto vorbei zur Seite des Hauses, die von der Straße aus nicht einzusehen war. Dort stand ein dunkelgrüner Suzuki, den Anke bei ihrer Ankunft nicht bemerkt hatte. Ein Bewegungsmelder erleuchtete den Abstellplatz, so dass Anke das Auto genauer erkennen konnte. Es war verschmutzt und an einigen Stellen verkratzt. Prüfend ging sie um das Fahrzeug herum. An der vorderen Stoßstange waren mehrere Beulen, unterhalb des linken Scheinwerfers war der Lack ab und der linke Kotflügel leicht eingedrückt. Außerdem waren Rostflecken an der gesamten Karosserie zu erkennen. Da war es schwierig, alte Schäden von neuen zu unterscheiden.

»Wir werden nicht umhinkönnen, das Fahrzeug in unserem Kriminallabor zu untersuchen«, stellte Anke fest und rief sofort den Teamleiter der Spurensicherung, Theo Barthels an.

5. Kapitel

Wie begossene Pudel standen die drei Frauen vor dem Haus und schauten beim Abtransport des Autos zu.

»Du glaubst also, dass wir ein Auto von der Fahrbahn abdrängen ohne es zu bemerken?«, schimpfte Susi, nachdem wieder Ruhe eingekehrt war.

»In eurem Zustand ist so etwas leicht möglich«, beharrte Anke. »Eure Schilderung von der Sternschnuppe hat mich erst auf diese Idee gebracht. Das war keine Sternschnuppe, das war ein entgegenkommendes Fahrzeug, dass euch schon verdammt nah gekommen sein muss, sonst hättet ihr das Licht nicht so deutlich wahrgenommen.«

Die drei Freundinnen kehrten zurück in das Zimmer im Obergeschoss des Hauses. Ankes folgte ihnen.

Rita und Annette setzten sich an den Tisch und schauten sich viel sagend an. Susi warf sich empört auf das Sofa und murrte: »Warum ruft dieser Verrückte nur mich an? Wir waren zu dritt im Auto.«

»Wo haben Rita und Annette gesessen?«

»Auf dem Rücksitz«, antwortete Rita und kicherte los. Sie hatte bereits die Antwort auf Susis Frage: »Der Spinner hat uns nicht gesehen.«

»Wie nahe geht euch Sybille Lohmanns Tod wirklich?« Anke wurde ungeduldig. Das Gekicher nervte.

»Das geht dich nichts an«, konterte Annette giftig.

»Okay. Aber hört mit eurem dämlichen Lachen auf! Die Angelegenheit ist keineswegs lustig.«

»Dann tu etwas dagegen. Es liegt an dir, ob Susi vor diesem Fremden geschützt werden kann oder nicht!«

»Leider ist es nicht so, sonst hätte ich bereits eine Fangschaltung installieren lassen«, wehrte Anke ab. Bei diesem Streitgespräch spürte sie wieder ihre schmerzliche Sehnsucht nach ihrem ehemaligen Chef Kullmann. Bei ihm hätte sie mit Sicherheit sofort die Zustimmung bekommen, weil er ihrem Urteilsvermögen vertraut hatte. Jetzt brauchte sie Beweise und diese würden hoffentlich an Susis Auto gefunden werden.

Anke wollte gerade gehen, als es an der Tür klingelte.

Susi eilte an ein Fenster zur Straßenseite und rief: »Das ist Emil.«

»Den will ich jetzt nicht sehen«, stellte Annette klar.

Anke spürte, dass sich etwas Interessantes anbahnte. Sachte ließ sie sich auf das Sofa sinken. Zum zweiten Mal an diesem Tag sah sie den jungen Mann mit der dicken Hornbrille und dem pickeligen Gesicht. Fragend schaute Emil Tauber auf Anke und wandte sich im Flüsterton an Susi: »Wer ist das?«

Sein Versuch, leise zu sein, gelang ihm keinesfalls, weil Anke alles verstand. Seine Aussprache klang gepresst, als lispelte er. Außerdem sah Anke sofort, dass er beim Reden spuckte, weil Susi sich demonstrativ mit ihrer Hand durchs Gesicht fuhr.

Mit den Worten: »Ich bin Anke Deister, die Kriminalbeamtin, die den Fall Sybille Lohmann bearbeitet«, antwortete sie an Susis Stelle.

»Was wollen Sie hier? Ich habe den Unfall gemeldet, nicht Susi«, reagierte er trotzig, wobei das ›S‹ wie ein Zischlaut klang. Sein Gesicht war übersät mit knötchenartigen Geschwülsten, die teilweise Gewebsflüssigkeit abstießen. Seine Brille wog so schwer, dass sie seine dicke, plumpe Nase eindrückte, seine Lippen waren rissig und spröde.

»Susi Holzer ist meine Hebamme, das genügt Ihnen hoffentlich als Grund für meinen Besuch.«

Die beiden Joggerinnen verabschiedeten sich überstürzt. Anke spürte immer deutlicher, dass es dort mehr gegeben hatte, als eine Party mit viel Alkohol und Sternschnuppen auf dem Nachhauseweg. Auch Emil verabschiedete sich. Als Stille eingekehrt war, fragte sie: »Was hatte das zu bedeuten?«

Susi räusperte sich, als müsste sie sich gut überlegen, was sie nun sagte. Dann meinte sie: »Emils Anwesenheit ist nicht erwünscht.«

»War er auch auf der Party Samstagnacht?«

»Nein! Niemand lädt Emil ein«, empörte Susi sich.

»Wie kommt es dann, dass er auf derselben Straße nach Hause gefahren ist wie du?«

»Das kann nur Zufall sein.«

»An Zufälle glaube ich nicht«, bemerkte Anke dazu, erhob sich schwerfällig vom Sofa und ließ eine nachdenkliche Susi allein zurück. Ihre Fröhlichkeit und ihr Lachen waren verschwunden.

Im Landeskriminalamt waren inzwischen alle Kollegen von ihren Außeneinsätzen eingetroffen. Rasch huschte Anke in ihr Zimmer, um nicht ihrem Chef zu begegnen. Ihre eigenmächtige Aktion würde er bestimmt nicht gutheißen. Aber sie hatte Pech! Forseti saß an ihrem Schreibtisch! Anke erschreckte so sehr, dass sie einen Schrei ausstieß.

»Ich bin derjenige, der hier schreien müsste«, versetzte ihr Chef kühl.

Ankes Knie wurden ganz zittrig. Schnell setzte sie sich auf den Besucherstuhl, bevor sie umfiel, und wartete auf die Tirade, die sie nun befürchtete.

»Wie ich aus zuverlässiger Quelle erfahren habe, waren Sie bei Susi Holzer«, leitete er mit betonter Höflichkeit ein. Doch diese Zurückhaltung sollte nicht von langer Dauer sein, denn schon sprang er auf, so dass er sie von oben herab ansah, während er anfügte: »Was fällt Ihnen ein, auf eigene Faust das Team unserer Kriminaltechniker einzuspannen, um einem Verdacht nachzujagen, der jeglicher Grundlage entbehrt?«

Anke erschrak vor dieser Heftigkeit.

»Herr Barthels, treten Sie ruhig ein«, rief er noch lauter.

Theo Barthels betrat das Zimmer, schaute Anke verlegen an und berichtete auf Forsetis Bitte hin: »Es wurden keine Spuren an Susi Holzers Wagen gefunden, die auf einen Zusammenstoß mit dem Unfallwagen hindeuten.«

Anke hatte sich tatsächlich verrannt, das musste sie sich eingestehen. Schweigend saß sie da und wartete darauf, welche Konsequenzen ihr Schritt für sie haben würde. Zunächst blieb alles still, bis Theo Barthels leise anfügte: »Tut mir leid, Anke.«

»Danke, Sie können jetzt gehen«, befahl Forseti.

Dieser Aufforderung folgte der Chef der Spurensicherung nur zu gern.

Ankes Anspannung wuchs ins Unermessliche. Hatte sie sich eine Versetzung eingehandelt?

Doch es kam anders. Zu ihrem Erstaunen änderte Forseti plötzlich seinen Tonfall, lächelte und meinte: »Sie sind schwanger, deshalb verzeihe ich Ihnen diesen Fehltritt. Ich weiß, dass Sie gerade eine Zeit durchmachen, in der Sie unter einer starken psychischen Belastung stehen. Wenn das Kind einmal da ist, hoffe ich, dass solche Entgleisungen nicht mehr vorkommen werden.«

Er stand auf, ging langsam um den Schreibtisch herum an Anke vorbei. In ihrer Nähe blieb er stehen und sprach weiter: »Sie werden bis zu Ihrer Entbindung nur noch am Schreibtisch arbeiten. Das ist keine Strafe, sondern eine Vorsichtsmaßnahme.«

Anke spürte große Hoffnungslosigkeit in sich aufkeimen.

Bevor er ihr Zimmer verließ, wagte sie sich zu fragen: »Woher kennen Sie sich so gut mit schwangeren Frauen aus? Haben Sie Kinder?«

Es war das erste Mal, dass Anke die Kühnheit besaß ihn etwas Privates zu fragen. Aber ihre Neugierde war so groß, dass sie einfach nicht anders konnte. Außerdem beschlich sie das Gefühl, dass ihre Schwangerschaft in diesem sonst so unnahbaren Menschen etwas berührte, was ihr in dieser peinlichen Situation sogar nützlich geworden war.

Prüfend schaute er sie an, als wollte er abschätzen, ob es richtig war zu antworten. Dann bewegte er sich auf die Tür zu, dass Anke glaubte, mit ihrer Frage einen großen Fehler gemacht zu haben. Er öffnete sie, verschloss sie jedoch wieder von innen, kam einige Schritte zurück und antwortete: »Ja, ich habe Kinder. Zwei Söhne.«

*

Von den Ereignissen des Tages war Anke so aufgewühlt, dass sie heute Abend auf keinen Fall allein sein wollte. Also fuhr sie kurz entschlossen zu Kullmanns Haus in Saarbrücken-Schafbrücke. Hoffentlich traf sie ihn zu Hause an. Es regnete in Strömen, als sie sich durch den dichten Verkehr quälte. Die roten Rück- und Bremslichter der vor ihr fahrenden Autos spiegelten sich so oft auf der nassen Straße, dass es vor ihren Augen flimmerte.

An Kullmanns Haus fiel ihr auf, dass das Dach neu gedeckt worden war. Die Ziegel leuchteten rot – schon wieder rot.

Etwas nervös klingelte sie. Seit er im Ruhestand war, hatten sie sich nicht mehr gesehen. Wie würde er ihren Überfall nun empfinden? Würde er sich freuen, wie er es ihr immer beteuert hatte?

Die Tür ging auf und da stand er vor ihr. Er trug eine hellgraue Weste, die gemütlich und warm aussah, dazu eine dunkelgraue Hose und Pantoffel. Sein Blick war zuerst erstaunt und wandelte sich sofort in hocherfreut.

»Anke, wie schön Sie zu sehen. Kommen Sie rein.« Seine Augen leuchteten vor Freude.

Erleichtert folgte sie seiner Aufforderung und ging durch den langen Flur ins Wohnzimmer. Dort saß Martha im Sessel. Die kleine, rundliche Frau begrüßte Anke mit einer liebevollen Umarmung. Kullmann stand hinter den beiden und beobachtete den Anblick voller Herzlichkeit und Wärme.

»Das ist ja eine Überraschung«, beteuerte er nochmals. »Wie geht es Ihnen und dem Kind?«

»Uns geht es bestens.« Anke lachte.

»Wissen Sie schon, was es wird?«, fragte Martha.

»Nein, bei den Untersuchungen lag das Kind immer so ungünstig, dass der Gynäkologe nichts Genaues erkennen konnte.«

»Martha und ich waren schon in Sorge, dass Sie sich nicht mehr bei uns melden wollen. Lange ist es jetzt her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben«, stellte Kullmann fest.

Das musste Anke sofort widerlegen: »Keinesfalls, ich wollte Ihnen einfach nicht zur Last fallen. Ein junges Glück darf man nicht stören.«

Kullmann und Martha lachten, wehrten jedoch sofort ab, sich durch Anke belästigt zu fühlen.

»Was haben Sie in ihrem neuen Lebensstand so gemacht?«, fragte Anke. »Ist es Ihnen nicht langweilig geworden ohne uns?«

»Ich habe als erste gute Tat nach meinem Abschied das Dach meines Hauses neu decken lassen. Es war schon so alt, dass es fast reingeregnet hätte.«

»Das habe ich gesehen.«

»Dann hat Martha etwas Kultur in meinen Garten gebracht. Dabei habe ich ihr geholfen. Aber nun wollen wir mehr von Ihnen hören. Ihr Leben ist mit Sicherheit viel spannender als unseres.«

Das nahm Anke zum Anlass von dem aktuellen Fall zu berichten. In dieser Zeit verzog Martha sich in die Küche, um das Abendbrot zuzubereiten.

Der erfahrene Kriminalist hörte sich Ankes Schilderungen genau an, dachte lange nach, bevor er sagte: »Der Name Kurt Lohmann sagt mir etwas. Leider kann ich mich nicht mehr genau erinnern, was. Aber bestimmt gibt es eine Akte über ihn.«

Anke berichtete ihm, dass Kurt Lohmann am 11. September im World Trade Center in New York umgekommen war. Kullmann zuckte mit den Schultern und meinte: »Kaum bin ich in Pension, gerät die Ordnung in meinem Gehirn durcheinander. Jetzt erinnere ich mich, dass Kurt Lohmann der einzige Saarländer war, dessen Identität unter den Opfern festgestellt werden konnte. Den Bericht hatte ich sogar auf meinem Schreibtisch.«

Sie berichtete weiter.

»Das hört sich nach Unfall mit Fahrerflucht an. Warum wird die Mordkommission dazugeschaltet?«, fragte er nun genau das, was Anke nicht hören wollte.

»Weil der Verdacht besteht, dass Sybille Lohmann schon tot war, als der Unfall passierte.«

»Vermutet Forseti also, dass mit dem Fahrzeugbrand Spuren vernichtet werden sollten?«

»Er will sich zunächst absichern, ob ein Unfall mit Fahrerflucht vorliegt, bevor er weitere Schritte unternimmt.«

»Was vermuten Sie?«

Anke zögerte etwas, bis sie endlich von ihrer eigenmächtigen Handlung berichtete, die sie in große Schwierigkeiten gebracht hatte. Kullmann hörte sich alles in Ruhe an und bemerkte dann: »Vielleicht schaut ihr einfach nur an der falschen Stelle nach.«

»An welcher Stelle sollen wir denn suchen?«

»Am Ort des Geschehens muss es einen Hinweis geben, liebe Anke. Nur weil Forseti ihn nicht sieht, heißt das nicht, dass er nicht da ist. Ist denn an der Unfallstelle nach Reifenspuren gesucht worden?«

»Das weiß ich nicht«, gab Anke zu.

»Finden Sie es heraus. Je länger ich über Ihre Version des Falles nachdenke, umso überzeugter bin ich, dass sich an der Unfallstelle mehr abgespielt hat als ein Unfall mit Fahrerflucht.«

Ankes Aufregung wuchs. Es war wieder wie in der guten alten Zeit, als sie noch gemeinsam an einem Fall herumgebastelt hatten, bis alles zusammenpasste. Nun musste sie dafür ihren Feierabend nutzen, aber das war es ihr wert. Nur durch gemeinsames Rätseln und gemeinsame Gedankenspiele konnte sie in diesem Fall weiterkommen.

»Sybille Lohmann wollte fortgehen, aber ihr Sohn war dagegen«, wiederholte Kullmann noch einmal Ankes Details.

»Ja! Aber die Tote saß auf dem Beifahrersitz.«

»Also wollte Sybille Lohmann nicht allein fortgehen. Es muss in ihrem Leben einen neuen Mann gegeben haben. Es muss doch in der Nachbarschaft zu erfahren sein, wer dieser neue Mann ist.«

»Ich werde morgen früh mit Erik darüber sprechen. Vielleicht hat er bei seiner Nachbarschaftsbefragung heute Nachmittag etwas darüber erfahren.«

»Zunächst sollte sich die Untersuchung darauf konzentrieren«, schlug Kullmann vor.

»Forseti vermutet, dass Sybille Lohmanns Sohn, Sven Koch, der Fahrer des Wagens war.«

»Wie kommt er darauf? Sie sagten doch, dass der Sohn gegen eine Abreise seiner Mutter war.«

»Sven Koch hat sich auffällig verhalten, was ihn natürlich verdächtig macht. Sonst hat Forseti keinen Verdächtigen.«

»Wurde der Zeuge Emil Tauber überprüft?«

»Noch nicht. Nachdem ich diese Szene in Susi Holzers Haus beobachtet habe, bin ich mir nicht sicher, welche Rolle er in diesem Fall spielt«, gestand Anke ihre Bedenken.

»Der Erste, den es gilt zu überprüfen, ist immer der Zeuge. Es gibt die erstaunlichsten Beweggründe, warum jemand einen Unfall oder einen Mord meldet. Häufig habe ich die Erfahrung gemacht, dass sich mancher Verdächtige als Zeuge gemeldet hat, um damit von sich selbst abzulenken. Deshalb ist es unbedingt wichtig, Emil Tauber unter die Lupe zu nehmen.«

Anke nickte und ärgerte sich gleichzeitig, dass sie nicht selbst darauf gekommen war.

Martha betrat das Zimmer mit Platten voller verlockender Köstlichkeiten. Sie stellte sie auf den Tisch, eilte hinaus und kehrte mit anderen Leckerbissen zurück. Nun erst merkte Anke, dass sie Hunger hatte. So schnell sie konnte stand sie auf und half Martha den Tisch zu decken. Es wurde ein herrlicher Gaumenschmaus für Anke, die sich wenig Zeit dafür ließ, ein gutes Essen zuzubereiten. Es machte ihr einfach keinen Spaß, allein zu essen. Umso wohler fühlte sie sich nun in der Gesellschaft dieser beiden wunderbaren Menschen. Sie aß viel mehr, als sie eigentlich wollte, lachte viel und vergaß dabei die Zeit. Als Martha begann, den Tisch abzuräumen, meinte der Gastgeber: »Martha, Liebes, bleib doch einfach hier bei uns. Der unaufgeräumte Tisch stört uns nicht!«

Anke stimmte zu: »Im Gegenteil. So sieht es erst richtig urgemütlich aus.«

»Ihr seid euch ja einig«, lachte Martha. »Wie in der guten alten Zeit.«

Wehmütig dachte Anke daran, dass ihr Kullmann jeden Morgen fehlte. Der Gang zur Arbeit war früher immer das größte Erlebnis für sie. Heute spürte sie wie es war, wenn man nur zur Arbeit ging, weil man gehen musste.

»Nicht traurig sein«, erkannte der ehemalige Vorgesetzte Ankes Stimmungstief sofort. »Ich habe versprochen, immer zu helfen, wenn Sie mich brauchen, und ich stehe zu meinem Wort. Außerdem möchte ich hiermit das ›Du‹ anbieten. Ich bin Norbert und vor uns sitzt Martha, meine liebe Frau.«

Erstaunt schaute Anke ihren ehemaligen Chef an, doch er ließ ihr keine Zeit zum Überlegen: »Was soll das Kind denn denken, wenn es regelmäßig zu uns kommt und wir uns wie Fremde ansprechen?«

Nun erst spürte Anke die Freude über das Vertrauen, das ihr von den beiden entgegengebracht wurde. Überglücklich umarmte sie die beiden. Tränen der Rührung standen in ihren Augen.

»Jetzt will ich aber keine Tränen, sondern fröhliches Lachen sehen.« Kullmann schmunzelte. »Ich wollte dir eine Freude machen.«

»Ich freue mich riesig, ich kann es nur nicht so zeigen.«

»Doch, doch! Das kannst du«, widersprach Martha energisch.

Gemeinsam besiegelten sie ihren Entschluss, indem sie ihre Wassergläser erhoben und sich zuprosteten.

»Wenn das Kind einmal da ist, stoßen wir mit Wein an.«

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