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Sonnabend, 12. Oktober

Hinter der Hausecke, wo man vom kalten Ostwind geschützt sitzt, ist es noch angenehm warm. Evelin lehnt sich an die Mauer, blinzelt in die Sonne und zieht genüsslich an ihrer Zigarette.

Ben Schmied steht ein paar Schritte von ihr entfernt auf einen Laubbesen gelehnt. Der 35-Jährige ist ein mittelgroßer, schlanker Mann mit glattem, ungepflegtem Haar. Die schmale, gebogene Nase und das fliehende Kinn geben seinem Gesicht etwas Raubvogelhaftes. Er blickt sich vorsichtig um, bevor er ganz nah an die Kellnerin herantritt.

»Spinnst du?« Die Frau weicht aus, als er sie küssen will. »Die verdächtigen uns sowieso schon.«

»Was? Wieso?« Erschrocken tritt er einen Schritt zurück.

»Nein, nicht, was du denkst. Aber dass wir was miteinander haben.«

»Na und? Wär das so schlimm, wenn sie es wüssten? Dann bräuchten wir uns nicht immer zu verstecken.«

»Nein, auf keinen Fall. Dann kommen sie uns irgendwann auf die Schliche. Es läuft gerade so gut, wir dürfen nichts riskieren. Lass die glauben, wir können uns nicht leiden, das ist unsere beste Tarnung.«

»Ich weiß nicht«, murrt der Mann. »Ich glaube, du übertreibst. Niemand ahnt etwas. Die halten uns doch sowieso für ein bisschen blöd.«

Evelin nickt und lacht verächtlich. »Das sollen sie auch. Aber wir müssen trotzdem vorsichtig sein. Die Alte, Berta, ist schlau. – Aber wir sind schlauer«, fügt sie zufrieden hinzu.

Ben lehnt den Laubbesen an die Wand und tritt ärgerlich dagegen. »Die hat auch Schuld, dass ich keinen Laubbläser kriege, sondern wie ein Steinzeitmensch hier mit der blöden Harke herumlaufe. ›Das Ding macht nur unnötigen Lärm und stört die Tiere …‹ Die spinnt doch, die Alte! Am liebsten würde ich alles hinschmeißen.«

»Komm, halt noch ein bisschen durch!« Auch Evelin sieht sich nach allen Seiten um, bevor sie leise und verschwörerisch auf ihren Freund einredet: »Wir haben doch schon so viel Geld zusammen. Und den Schmuck, den können wir auch noch verkaufen. Denk immer an die Zukunft, dann macht dir das alles hier nichts aus. Da stehen wir doch drüber.«

»Ja, und du?« Ben lacht leise. »Du kannst dich doch auch nicht immer zusammenreißen. Wer hat denn das Essen versalzen, über das sich die Hotelgäste beschwert haben? Renate sicher nicht. Ich hatte nur Glück, dass ich hier draußen war, sonst hätten sie doch gleich wieder mich verdächtigt.«

»Das wusste ich doch. Ich konnte es eben einfach nicht mehr ertragen, wie die Renate gelobt haben: ›Die beste Köchin in Bansin.‹ – ›Wir haben noch nie so leckere Fischsuppe gegessen.‹ – Das ist doch nicht mit anzuhören!« Evelin kichert. »Na, die Suppe habe ich ihnen gründlich versalzen, im wahrsten Sinne des Wortes. Am Ende hat Renate selbst geglaubt, dass sie sich vertan hat. Und Sophie war das so peinlich. Herrlich!« Sie drückt ihre Zigarette aus. »Hin und wieder braucht man eben ein bisschen Spaß, dann fühlt man sich nicht mehr so klein und ausgenutzt.« Sie gibt der grauen Katze, die hinter einem kleinen Strauch sitzt und angespannt die Vögel auf dem Rasen beobachtet, im Vorbeigehen einen Fußtritt, dann setzt sie eine naiv-freundliche Miene auf und läuft ins Haus.

Berta ist unzufrieden. Nachdenklich nimmt sie das Telefon in die Hand, legt es dann aber wieder auf den Tisch.

Sophie beobachtet sie. »Was ist los? Du bist schon den ganzen Tag so gereizt. Ist es wegen Frau Hagemeister? Fang ja nicht wieder an …!«

»Nein, ist ja gut. Ich bilde mir da wohl wirklich nur etwas ein. Aber du musst doch zugeben, nach all dem, was wir in den letzten Jahren erlebt haben, kann man schon mal misstrauisch werden. Bisher hat sich mein Verdacht ja meistens bestätigt. – Leider«, fügt sie seufzend hinzu.

»Aber diesmal war es doch eindeutig Selbstmord, oder?«

»Ja, ich denke schon. Wer hätte die alte Frau auch ermorden sollen und vor allem – warum? Andererseits, welchen Grund hatte sie, sich das Leben zu nehmen? Wenn ich das nur wüsste.«

»Das wirst du wohl herausbekommen müssen, vorher hast du ja keine Ruhe.«

»Ja. Nur ist das gar nicht so einfach. Ich hätte gern mit ihrer Tochter gesprochen oder dem Schwiegersohn. Aber die Gaststätte ist geschlossen und zu ihnen nach Hause mag ich nicht gehen. Und die Nachbarin, die bestimmt etwas wüsste, die beiden waren auch befreundet, die ist gerade zur Reha-Kur. Was ja auch schon wieder verdächtig ist«, überlegt sie.

»Du wolltest die doch nicht etwa anrufen?« Sophie deutet auf das Telefon.

»Nein, ich hab ja gar keine Nummer. Ich wollte Fred Müller fragen, ob der was Neues weiß. Das mache ich jetzt auch.«

Nach ihrem Gespräch mit dem Ortspolizisten ist Berta zumindest sicher, dass die alte Frau nicht ermordet wurde. Sie glaubt ihm, dass es sich eindeutig um einen Suizid gehandelt hat. »Aber den Grund möchte ich trotzdem wissen«, erklärt sie ihrer Nichte, als sie zusammen Mittag essen. »Sobald Frau Hagemeisters Nachbarin wieder zu Hause ist, werde ich ihr einen Besuch abstatten.«

Montag, 14. Oktober

»Nun guck dir die an, wie fett die geworden ist! Ein Arsch wie ein Zehntalerpferd«, tuschelt Gesa und deutet auf eine Frau, die ihren Einkaufswagen zwischen den Regalen hindurch schiebt. Ihre Gesprächspartnerin grinst erfreut, sie ist selbst nicht gerade schlank. Außerdem riecht sie unangenehm, was Gesa nicht daran hindert, sich noch näher zu ihr hin zu beugen. »Kein Wunder, dass der ihr Mann fremdgeht«, bemerkt sie in falschem Deutsch gehässig.

»Meinst du?« Die kleinen Schweinsäuglein in dem runden Gesicht blitzen aufgeregt. »Ich dachte immer, das wäre die große Liebe bei den beiden.«

Sie beobachten, wie ein kleiner, dürrer Mann der Frau etwas in den Einkaufswagen legt und sie gemeinsam lachen. Obwohl die beiden äußerlich so unterschiedlich sind, wirken sie sehr harmonisch.

»Das ist doch meistens so. Gerade bei denen, die immer so nett zueinander sind, stimmt was nicht. Die verstellen sich nur.«

»Ja, das stimmt. Mein Alter war auch immer besonders freundlich, wenn er was zu verbergen hatte. Weißt du denn, mit wem? Mit welcher er was hat, meine ich?«

Gesa blickt sich eifrig um und überlegt kurz. Es ist heute nicht sehr voll im Rewe-Markt, man erkennt jetzt wieder die Einheimischen, die sonst im Sommer zwischen den Urlaubern verschwinden. »Na, mit ihrer Nachbarin natürlich«, behauptet sie dann. »Sie hält die für ihre Freundin. Wenn die wüsste, was die so hinter ihrem Rücken treiben. Vielleicht sollte ihr das mal einer sagen.« Sie schiebt ihren Wagen weiter und beobachtet nach einer Weile zufrieden lächelnd, wie ihre Gesprächspartnerin eifrig mit einer anderen einheimischen Frau tuschelt.

Auch heute ist die Sicht wieder ungewöhnlich klar, der Himmel strahlend blau und das leuchtend bunte Laub gibt dem ganzen Ort ein fröhliches Aussehen. Es ist jetzt viel ruhiger als im Sommer, aber noch sind Gäste da. Meist ältere Leute, die die Nachsaison den hektischen Sommermonaten vorziehen, und Familien mit kleinen Kindern. Einige Körbe stehen noch am Strand, Kinder buddeln im Sand, die Eltern sitzen auf Decken daneben. Nur baden will wohl niemand mehr, bei 15° C Wassertemperatur.

›Außer Arno, natürlich‹, denkt Berta, als sie langsam über die Strandpromenade schlendert. Der Fischer geht zu jeder Jahreszeit beinahe jeden Tag in der Ostsee baden, aber meist ganz früh am Morgen.

Die Tür zur Fischerbude steht auch heute weit offen. Paul Plötz hat zwar schon einen Eimer voll Briketts und einige Holzscheite neben dem Ofen stehen, aber bei 20° C draußen mag selbst er noch nicht heizen. Dabei liebt er die Wärme. Selbst im Sommer trägt er seine langärmligen, karierten Hemden und die Cordhose, die er Manchesterhose nennt und die von Hosenträgern gehalten wird. Berta hat ihn im Verdacht, dass er auch in der warmen Jahreszeit eine lange Unterhose darunter anzieht. Jedenfalls kommt er nie auf die Idee, die Hose auszuziehen oder auch nur die Hosenbeine umzukrempeln. Wenn er durch das flache Wasser zu seinem Boot geht, zieht er hohe Fischerstiefel, die bis zu den Oberschenkeln reichen, an.

Heute ist Bertas Stammplatz, der alte Küchenstuhl neben dem Ofen, besetzt. Boto Thor, ein Kollege von Paul und Arno, hat es sich darauf bequem gemacht. Während er dröhnend über die Fangquoten der EU schwadroniert, schwenkt er wütend seine Bierflasche. Der Mann stammt aus einer alten Fischerfamilie. Schon sein Vater, sein Großvater und wahrscheinlich auch sein Urgroßvater sind vom Bansiner Strand aus zum Fang auf die Ostsee gefahren. Während der DDR-Zeit waren sein älterer Bruder Ansgar und sein jüngerer Cousin Cuno mit ihm auf dem Boot, jetzt ist er allein. »Ansgar, Boto, Cuno. Klingt wie eine Hundezucht«, hatte Anne einmal festgestellt. Berta hatte lachend genickt und geantwortet: »Stimmt, die sehen auch so aus. Also – nicht wie Hunde, aber alle drei sehen sich ähnlich. Groß und hager, alle drei haben rote Haare und Hakennasen. Boto ist ein bisschen kleiner und kräftiger als die anderen beiden. Als Kind haben sie ihn Bötchen genannt, das hört er aber nicht gern.«

Paul blickt zum Eingang, in dem Berta stehen geblieben ist und verzieht missmutig das ohnehin faltige Gesicht in Richtung Boto. »Hör endlich auf mit dem Thema! Ich kann es nicht mehr hören. Setz dich lieber woanders hin! Das ist Bertas Stuhl.«

Der Fischer stutzt einen Moment, steht dann aber bereitwillig auf und lächelt die alte Frau freundlich an. Er zieht sich einen Stapel umgedrehter Fischkisten heran und nimmt darauf Platz. »Na, Berta, du wirst ja gar nicht älter«, schmeichelt er. »Der Ruhestand bekommt dir.«

»Ja«, Plötz mustert seine alte Freundin wohlwollend, »frische Seeluft, viel Fisch essen und Grog trinken, das hält jung und gesund. Dafür sorg ich schon.«

»Na, ich nehme an, ihre Nichte kümmert sich auch gut um Berta«, schmälert Boto das Verdienst seines Kollegen.

»Was macht denn dein Neffe?«, lenkt Berta von sich ab. »Kümmert der sich um dich?«

»Wie ein eigener Sohn.« Er nickt zufrieden. »Ist ein guter Jung, unser Mick. Wenn es nach ihm geht, muss ich gar nicht mehr fischen. Ich mach das ja auch nur noch als Hobby.«

»Was regst du dich denn über die Fangquoten auf?«, unterbricht Plötz.

»Aus Prinzip. Weil es eine Schweinerei ist. Und weil es bald gar keine Fischer mehr auf Usedom geben wird, wenn die so weitermachen.« Augenscheinlich steigt Boto Thors Blutdruck wieder.

»Hast ja recht«, stimmt Paul Plötz ihm resigniert zu. »Fischfang ist das älteste Handwerk überhaupt, eine jahrhundertealte Tradition an der Küste. Und die schaffen uns einfach ab. Aber was soll man machen? Da kommen wir nicht gegen an.«

»Ich komm gut zurecht«, fährt sein Kollege fort. »Ich hab ja meine Rente, wenn es auch nicht viel ist. Meine alte Wohnung in der Bergstraße könnte ich davon ja nun nicht mehr bezahlen. Ich hatte schon so halbwegs beschlossen, ins Dorf zu ziehen, in eine kleine Wohnung im Plattenbau. Aber mir hat wirklich davor gegraut – so weit weg vom Strand.«

Berta nickt mitfühlend. »Das versteh ich. Wenn man sein Leben lang auf die Ostsee geguckt hat, wird man da, hinter den Bahnschienen, nicht glücklich. Und nun ziehst du zu Mick, hab ich gehört?«

»Ja.« Boto strahlt. »Der hat doch ein Haus da hinten an der Promenade gekauft, Richtung Heringsdorf. Da sehe ich die Fischerbuden zwar nicht mehr, auch nicht das Wasser, weil meine Wohnung nach hinten raus geht, aber ich bin dicht am Strand.«

»Ich bin da neulich vorbeigegangen«, erzählt Berta. »Das alte Haus hat er wirklich schön restauriert.«

»Ja, das hat er sich was kosten lassen. Aber er hat ja gut verdient als Kapitän. Und unten zur Straße hin hat er Ferienwohnungen gebaut. Die bringen auch ein bisschen was ein.«

»Und die Wohnung oben, mit dem Balkon zur Promenade, ist doch wohl auch eine Ferienwohnung, oder?«

»Ja, na klar«, bestätigt Boto nach kurzem Zögern, was ihm einen misstrauischen Blick von Berta einbringt. »Mick wohnt unten und ich nach hinten raus«, bekräftigt er noch einmal.

»Aber die Bude hier und das Boot behältst du doch noch, oder?«, fragt Plötz und atmet erleichtert auf, als Boto nickt.

»Ja, Mick hat ja nun Zeit. Er will auch ein bisschen fischen und hin und wieder mal mit Gästen rausfahren. Ist schließlich ein Seemann, den zieht es immer wieder aufs Wasser.«

Freitag, 18. Oktober

Wer Gesellschaft sucht und das Neueste aus dem Ort erfahren will, geht am Freitagabend ins Kehr wieder. Dann sind die acht Plätze am großen runden Stammtisch besetzt, manchmal werden noch ein oder zwei Stühle dazu gestellt, dann wird es eng. Und laut. Auch wenn Berta sich bemüht, den Lärmpegel gering zu halten, indem sie Streit schlichtet und die Gäste, die dazu neigen, betrunken oder auch nur angetrunken die Stimme zu erheben, zu pöbeln oder gar grölend zu singen, rechtzeitig warnt. Es ist nicht einfach für die alte Wirtin. Sie möchte die gewohnte Freitagabendstimmung an ihrem alten Stammtisch nicht verderben, aber auch nicht ihre Nichte verärgern, der dieser ohnehin ein Dorn im Auge ist. Sophie findet, dass er das Niveau ihres Restaurants beeinträchtigt. Ihre Gäste, die Fremden, die Urlauber, sollen in Ruhe essen können. Wenigstens darf man jetzt in der Gaststätte nicht mehr rauchen. Als Berta hier noch Wirtin war, konnte man die Gäste am Stammtisch manchmal gar nicht erkennen, weil sie in dichten Qualm gehüllt waren. Obwohl Berta selbst nie eine Zigarette angefasst hat, hat sie vermutlich mehr Nikotin eingeatmet, als so mancher Kettenraucher. Aber sie meint, dass die frische Seeluft ihre Lunge immer wieder gereinigt hat.

Gesa Huber mault immer mal wieder, dass sie zum Rauchen nach draußen gehen muss, und wirft Sophie bitterböse Blicke zu, als hätte die das Rauchverbot in Gaststätten erfunden.

Na, immerhin findet die es gut und setzt es konsequent durch. Außerdem hat sie verboten, dass sich die Raucher direkt vor die Tür stellen, sie müssen auch noch um die Ecke gehen.

»Eine Zumutung und Diskriminierung«, meint Gesa. »Aber früher, in der DDR, war sowieso alles besser. Dann würde ich jetzt schon seit sechs Jahren Rente kriegen. Nicht viel, aber ich würde auch nur 30 Mark Miete zahlen und niemand könnte mich aus meiner Wohnung werfen. Haben wir denn nicht viel sorgloser gelebt? Die Leute haben auch viel mehr miteinander geredet und besser zusammengehalten.« Während sie weiter schwadroniert und von ihrer Zeit beim FDGB-Feriendienst schwärmt, fängt sie einen Blick von Berta auf und wird plötzlich unsicher. Sie stottert noch ein bisschen herum, dann schweigt sie endlich und sieht die alte Frau ängstlich an.

Die beachtet sie nicht mehr, sie unterhält sich mit Anne und Mick Thor, die beide nebeneinander sitzen.

Erst nach einer ganzen Weile, als am Tisch alle laut durcheinander reden, wagt Gesa es, Berta anzusprechen. »Der Vorfall von damals – du weißt schon – bleibt doch unter uns, oder?«

»Ja, natürlich.« Die alte Frau antwortet ebenso leise, aber etwas zögernd. »Es sei denn … weißt du, was da gerade im Ort passiert, erinnert mich sehr an damals.«

»Aber ich habe nichts damit zu tun!«, unterbricht Gesa sie empört und dämpft ihre Stimme gleich wieder, als Anne sie misstrauisch anblickt. Fast verzweifelt schüttelt sie den Kopf.

»Schon gut. Wir reden ein andermal darüber.« Berta hat keine Lust, sich mit Gesa zu unterhalten, und eigentlich glaubt sie auch nicht, dass die an den aktuellen Einbrüchen beteiligt ist. Wie hätte sie das machen sollen? Wahrscheinlich ist die Ähnlichkeit der Vorfälle nur ein Zufall. Oder jemand weiß davon und ahmt sie nach. Ihr Blick gleitet zu Evelin. Nachdenklich beobachtet sie die junge Frau eine Weile. Manchmal kommt sie ihr falsch vor. So übertrieben freundlich. Aber damit überdeckt sie wohl nur ihre Unsicherheit. Und natürlich schleimt sie, um mehr Trinkgeld zu bekommen. Berta lässt sich nicht anmerken, dass sie Evelin misstraut, und ein bisschen schämt sie sich dafür. Objektiv betrachtet ist die Frau fleißig, zuverlässig, freundlich, hilfsbereit, eine gute Kellnerin und Angestellte eben. Für ihre Mutter kann sie ja schließlich nichts. Im Gegenteil, die macht ihr nur das Leben schwer. Sie wendet sich wieder ihren Stammtischgästen zu.

»Da beißt man bei mir auf Kredit«, verkündet Anne gerade.

Mick Thor grinst, korrigiert sie aber nicht.

›Die würden gut zusammenpassen‹, denkt Berta und betrachtet die beiden wohlwollend. Der Kapitän im Ruhestand muss drei oder vier Jahre jünger sein als Sophies Freundin, aber das ist gut. Frauen werden meist sowieso älter als Männer. Und Anne wirkt durch ihre lebhafte, aufgeschlossene Art jünger, als sie ist.

Mick ist sogar noch etwas größer als sie, was ihr selten begegnet. Die Familienzugehörigkeit ist zu erkennen, auch er ist groß und hager, hat die auffällige Hakennase der Thors, das rote Haar ist inzwischen grau, aber immer noch dicht und wellig. Wäre es blond und anders frisiert, sähe er Thomas Gottschalk verblüffend ähnlich. Aber es ist gut geschnitten, auch seine Kleidung wirkt hochwertig und gepflegt. Er ist deutlich attraktiver als seine Vorfahren, was vielleicht auch an besseren Umgangsformen liegt.

›Auf jeden Fall hat er Charme‹, denkt Berta. Eine Eigenschaft, die man weder mit seinem Vater Ansgar, noch mit dessen Bruder Boto oder mit Cuno in Verbindung bringen würde. Diese Männer, die alle Fischer waren, kennt man nur schweigend oder laut fluchend. Berta versucht, sich an Micks Mutter zu erinnern, hat aber nur ein blasses Bild vor Augen. Dass die Ehe nicht besonders gut war, glaubt sie noch zu wissen.

»Ging es uns denn nicht gut? Es war doch nicht alles schlecht damals.« Gesa Huber hat den Schreck von vorhin vergessen und verkündet mal wieder ihren Lieblingsspruch.

Sie redet auf Paul Plötz ein, der widerwillig nickt und hilfesuchend zu Berta blickt. Er mag weder die Frau noch das Thema. »Lass mich mit deinem Gequatsche in Ruhe!«, knurrt er sie dann auch an. »Ich will hier mein Bier trinken, aber nicht über Politik reden. Außerdem kann ich mich dunkel erinnern, dass du früher auch nur gemeckert hast. Also – es war auch nicht alles gut.«

»Warum bist du denn nicht abgehauen aus der DDR? Du hättest es doch gekonnt.«

»Ja, hätte ich. Ich war sogar in Bornholm und hätte nicht wieder zurückkommen müssen. Aber warum sollte ich? Wie du schon sagtest: Mir ging es doch gut hier.«

Mick Thor behagt das Thema offensichtlich auch nicht. Er wirft Gesa einen finsteren Blick zu, dann bittet er Sophie: »Bring uns noch eine Runde, jedem, was er trinken will, ich geb einen aus.« Er beugt sich unter den Tisch, um seinen Hund zu beruhigen, der hinter seinen Füßen unter der Bank liegt und den er gerade versehentlich getreten hat. »Ist ja gut, Moses, schlaf weiter!«

»Ist der verdammte Köter etwa wieder hier?«, fährt Gesa auf. »Nicht mal rauchen darf man hier mehr, aber Hunde mitbringen. Was sind das für Zustände?«

»Der tut dir doch nichts«, wundert sich Anne. »Was regst du dich so auf?«

»Ich mag nun mal keine Hunde. Ich traue ihnen nicht.«

»Und ich traue keinem Menschen, der keine Hunde mag«, mischt sich Sophie ein, während sie die Getränke auf den Tisch stellt. Sie würde gern einen Streit mit Gesa Huber anfangen, vielleicht fände sich dann ein Grund, sie hinauszuwerfen.

Aber so schlau ist die auch. Gesa schluckt ihre Wut hinunter und hütet sich, darauf einzugehen. Sie könnte schwören, dass der Hund sie hämisch angrinst.

Sonntag, 20. Oktober

Anne hat an diesem Sonntag erstmals seit Monaten frei und mit Sophie zusammen Mittag gegessen. Sie hat extra gewartet, bis alle Gäste versorgt waren und ihre Freundin Zeit hatte. Jetzt lehnt sie sich zufrieden zurück und sieht aus dem Fenster. Der Himmel ist klar und blau, nur über der Ostsee liegt noch ein leichter Nebelschleier. Die Fähre am Horizont scheint in der Luft zu schweben, sie wirkt wie ein Geisterschiff. »Mit dem Morgennebel ist es wie mit einem Ehemann«, erklärt sie Sophie. »Wenn er sich am Vormittag verzieht, kann es noch ein schöner Tag werden.«

»Na, du musst es ja wissen«, lacht die Wirtin. Im Gegensatz zu Anne, die eine böse Scheidung hinter sich hat, war sie nie verheiratet und gedenkt auch nicht, diese Erfahrung nachzuholen.

»Trinken wir noch einen Kaffee? Wo steckt deine Tante Berta eigentlich? Ich habe sie heute noch gar nicht gesehen.«

»Sie ist heute morgen ins Krankenhaus nach Wolgast gefahren, um eine alte Freundin zu besuchen. Eine Bekannte hat sie mit dem Auto mitgenommen.«

»Das ist doch Mist, dass es das Krankenhaus in Heringsdorf nicht mehr gibt«, entgegnet Anne. »Da konnte man immer mal schnell hingehen. Jetzt bist du als alter Mensch ohne Auto aufgeschmissen. Man muss von hier aus erst einen Kilometer zum Bahnhof laufen, dann eine Stunde lang mit der Bahn über die ganze Insel fahren, in Wolgast noch mal einen Kilometer zum Krankenhaus gehen. Und das gleiche zurück. Das ist doch eine Zumutung!«

Sophie nickt ihrer Freundin etwas gedankenversunken zu, wirft einen Blick aus dem Fenster. »Lass uns noch einen Kaffee trinken und danach ein bisschen rausgehen! Das Wetter ist so schön. Einfach mal am Strand entlang. Hier passiert doch heute Nachmittag nichts.«

»Hast recht. Ich möchte auch mal an die frische Luft. Außerdem ist Evelin hier, falls doch jemand kommt.«

Die Kellnerin, die mit am Tisch gesessen hat, läuft eifrig zur Kaffeemaschine, um ihre Chefin und deren Freundin zu bedienen. Dabei wirft sie heimlich einen Blick auf die Kasse hinter dem Tresen. Ob Sophie die wohl abgeschlossen hat? Und ob sie das Geld darin gezählt hat? Sicher nicht. Eine günstige Gelegenheit. – »Natürlich, mach dir keine Sorgen!« Sie stellt den Freundinnen die Kaffeetassen auf den Tisch und lächelt schüchtern. »Ich räume inzwischen die Gaststätte auf und poliere die Gläser. Und wenn wirklich jemand kommt, kriege ich das schon hin.«

Sophie und Anne gehen auf der Strandpromenade an der Rückseite der Fischerhütten vorbei. Kurz haben sie um die Ecke gesehen, aber am Fischerstrand ist heute Nachmittag niemand. Die Autos von Paul und Arno sind nicht da und auch kein Mensch. Nur die blau-weiße Fahne mit dem roten Pommerngreif steht einsam in den Dünen und hält die Stellung. Sie flattert in der leichten Brise und ist das Einzige, was sich hier noch bewegt.

Dort, wo die Promenade endet, gehen sie hinunter zum Strand und schlendern im feuchten, festen Sand am Ufer entlang. »Der Kapitän hat dich ja am Freitag ganz schön angebaggert«, stichelt Sophie, nachdem sie eine Weile schweigend gegangen sind.

»… der ehemalige Kapitän. Aber ja, hat er. Ist doch nett. Ich hab mich jedenfalls gut unterhalten. Sein Hund ist auch nett«, fügt sie hinzu.

Sophie lacht. »Super. Wenn das nichts ist: ein netter Hund. Und sonst?«

»Nichts sonst. Abwarten!«

»Aha.« Sophie wird ernst. »Du sag mal, was ist das eigentlich mit dieser Familie? Ich wollte Tante Berta fragen, das hab ich ganz vergessen. Sie hat mit Paul darüber gesprochen, dass Micks Vater tot ist. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist er bei einem Fluchtversuch ertrunken. Stimmt das? Weißt du was darüber?«

»Ja, klar, das ist eigentlich kein Geheimnis. Die alten Bansiner wissen das alle. Die haben zusammen gefischt: Micks Vater Ansgar, sein Onkel Boto, das ist der jüngere Bruder seines Vaters, und deren Cousin Cuno. Vor Ansgar hatte ich als Kind immer ein bisschen Schiss. Ich musste ja manchmal vom Strand Fisch holen, aber zu Ansgar bin ich nicht so gern gegangen. Boto, zu dem haben die am Strand alle Bötchen gesagt, war ruhiger und freundlicher. Ich glaube, er stand immer im Schatten seines Bruders, der hat ihn ganz schön herumkommandiert. Er hatte auch keine Frau und keine Kinder, Mick war für ihn wie ein eigener Sohn. Der weiß das auch und kümmert sich jetzt um ihn. – Und dann war da noch Cuno. Der sah genauso aus wie die beiden Brüder. Sie hatten ja auch alle den gleichen Großvater. Aber Cuno hatte einen ganz anderen Charakter. Der steckte ständig in Schwierigkeiten. Bei jeder Prügelei – nach den Tanzabenden im Meeresstrand haben die sich früher immer geprügelt – war er mittendrin, er hatte dauernd Frauengeschichten und mindestens ein uneheliches Kind im Ort. Gesoffen haben die ja alle, aber Cuno hat im Suff nur Blödsinn gemacht. Und sonst auch. Ansgar wollte ihn eigentlich nicht am Strand haben, deshalb hat er auch erst mal Maler gelernt. Aber dann hatten sie das große Boot und brauchten wohl doch einen dritten Mann. Und Blut ist eben dicker als Wasser, sagt man ja. Ich kann mir vorstellen, dass Boto ganz froh darüber war. Cuno war immer lustig, der hat die Arbeitsatmosphäre bestimmt ein bisschen aufgelockert. Ansgar hingegen war jähzornig, der konnte brüllen wie ein Ochse und immer so ernst und streng und ziemlich hochnäsig, denke ich heute. Es hieß, dass er der reichste Mann in Bansin war, aber auch sehr geizig. Seiner Frau hat er jedenfalls nichts gegönnt, die musste immer nur arbeiten. Nur für Mick, seinen einzigen Sohn, da hat er alles getan. Er wollte auch nicht, dass der bei ihm einsteigt, er sollte was Besseres werden. Ein richtiger Seemann, der auf allen Meeren der Welt zu Hause ist. – Ah, jetzt habe ich nasse Füße«, unterbricht Anne kurz ihren Monolog, als eine Welle ihre Schuhe überspült. »Aber das hat man natürlich erst später erfahren, als Kind kriegt man das ja nicht so mit. Mir hat es Tante Berta erzählt, als Ansgar gestorben ist. Er wäre bestimmt stolz auf Mick gewesen, aber dass der Kapitän wurde, hat er nicht mehr erlebt.«

Sie sind jetzt etwa einen Kilometer am Strand entlanggegangen und bleiben stehen. Links von ihnen führt eine Treppe hinauf zur Steilküste. »Wollen wir da hochsteigen oder gehen wir weiter und drehen nachher um?«, fragt Anne. »Also bis nach Ückeritz laufe ich nicht.«

»Nein, das will ich auch nicht. Ich muss ja auch zurück in die Gaststätte. Lass uns durch den Wald gehen!«

Die beiden steigen die steile Treppe hinauf und bleiben oben eine Zeit lang stehen, um ihre Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen, während sie über das Meer blicken. Anne atmet tief ein. »Ist das nicht herrlich? Man muss wirklich öfter mal die Seele in den Schoß legen und die Hände baumeln lassen.«

»… oder so«, murmelt Sophie. »Was ist denn nun mit Ansgar passiert?«, fragt sie dann, während sie langsam an der Steilküste entlang zurückgehen.

»Die waren Fischen, ziemlich weit draußen, in der Nähe von Dänemark. Das war 1988. Cuno hatte sich in Bansin mal wieder in Schwierigkeiten gebracht und wollte abhauen. Er wollte heimlich den Motor beschädigen, damit sie in Bornholm anlegen müssen. Aber Ansgar hat ihn dabei erwischt. Es kam zum Handgemenge, Cuno hat Ansgar über Bord gestoßen. Sie wollten ihn retten, aber es war Sturm, die Wellen hoch, und Ansgar ist ertrunken. Seine Leiche wurde später in Dänemark angespült. Boto hat Cuno dann trotzdem nach Bornholm gebracht. ›Offiziell‹, hat er gesagt, Cuno hätte ihn gezwungen, aber natürlich wollte er ihn auch nicht an die DDR ausliefern. Die hätten ihm nicht nur versuchte Republikflucht, sondern auch noch einen Mord angehängt.«

»Aber schließlich hat er ja auch seinen Cousin ermordet!«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Boto war der Einzige, der dabei war. Er hat später mal erzählt, Cuno wollte das gar nicht. Er wollte einfach nur abhauen und das mit Ansgar war ein Unfall.«

»Armer Mick. Wie alt war er da?«

»Zwanzig, glaube ich. Er war schon auf der Seefahrtschule.«

»Dann war er wenigstens kein Kind mehr.«

»Ja, was denkst du denn? Der ist gar nicht so viel jünger als wir.«

»Ist ja gut.« Sophie grinst erfreut, weil sie Anne aus der Reserve gelockt hat. Erstaunt stellt sie fest, dass ihre Freundin verlegen ist, ein ganz ungewöhnlicher Anblick. Aber schön.

»He – du hast dich verknallt.«

»Also ehrlich, wie redest du? Wir sind doch keine 17 mehr.« Annes Protest klingt verhalten, sie bleibt am Rand der Steilküste stehen und blickt aufs Meer.

»Na, und? Ist man zwischen 13 und 30 nicht ständig verliebt? Aber mit 55 ist es schon etwas Besonderes. Ich finde es toll, wirklich«, sagt Sophie lächelnd.

»Na, ich weiß nicht. Wie du das sagst, hört es sich an, als hättest du mich bei etwas Verbotenem ertappt. Oder etwas Kindischem. Ach, ich weiß auch nicht. Einerseits fühlt es sich total gut an, aufregend. Ich dachte nicht, dass ich noch mal so für einen Mann empfinden würde. Andererseits stehe ich neben mir und sehe fassungslos zu, wie albern ich bin.«

Sophie legt den Arm um ihre Freundin. »Jedenfalls sieht der Kerl gut aus und ist sympathisch. Also, meinen Segen hast du, falls du Wert darauf legst. Albern bist du auf keinen Fall, lass es einfach zu!«

Anne nickt nachdenklich und etwas erleichtert.

»Nun komm, sonst ist Tante Berta noch früher zurück als wir«, wechselt Sophie das Thema. »Außerdem ist es blöd für Evelin, wenn Gesa kommt und sie sie bedienen muss, weil ich nicht da bin.«

»Das Problem verstehe ich ja nun gar nicht. Ist doch schließlich ihre Mutter, mit der wird sie wohl nicht zum ersten Mal allein sein.«

»Aber irgendwas ist zwischen den beiden. Die haben Krach, ich weiß nicht genau, warum.«

»Frag Tante Berta, die wird das schon wissen.«

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