Читать книгу: «Generationenkonflikt und Gedächtnistradierung: Die Aufarbeitung des Holocaust in der polnischen Erzählprosa des 21. Jahrhunderts», страница 2

Шрифт:

2.1 Literatur der unmittelbaren Nachkriegsjahre

In den ersten Jahren nach Ende des Zweiten Weltkrieges kann man eine deutliche Tendenz zur so genannten Testemonialliteratur feststellen. Die Darstellungen beruhen auf authentischen Dokumenten und Gesprächen, wie etwa bei Zofia Nałkowskas Medaliony (1946). Die Autorin leiht in ihren Prosaminiaturen verschiedenen Menschen ihre Stimme, so zum Beispiel in Dno einer Frau, die die Lebensbedingungen in einer Frauenbaracke beschreibt und an der Last ihrer Erinnerungen beinahe zerbricht. Die Frage nach dem Ursprung menschlicher Abgründe und dem Verhalten des Menschen in Extremsituationen ist zwar zentral, dennoch erlaubt sich der Erzähler in keinem Fall eine Kommentierung des Ganzen. Vielmehr scheint das ‚Zu-Wort-kommen-Lassen‘ das Hauptanliegen zu sein.

Jerzy Andrzejewski thematisiert mit seinem Roman Wielki Tydzień von 1948 als einer der ersten das schwierige polnisch-jüdische Nebeneinander im Zweiten Weltkrieg. Der Autor setzt dabei eine sensible Betrachtung aus zwei Blickwinkeln an: Zum einen wird anhand eines neben der Ghettomauer stattfindenden Jahrmarktes die Existenz des Ghettos auf eine banale Alltäglichkeit reduziert. (Hierbei wird unter anderem auf das Karussell auf dem Warschauer Plac Krasińskich angespielt, das in der polnischen Literatur als Symbol für die Beschreibung dieser Perfidie gelten kann, wird es zunächst 1945 bei Miłoszs Campo di Fiori, aber auch Jahrzehnte später bei Szczypiorskis Początek von 1986 erwähnt.)10 Mit der Hauptgeschichte, in der eine Jüdin Zuflucht bei einer polnischen Familie findet, wird zum anderen jedoch auch versucht Existenzängste und Nöte auf beiden Seiten darzustellen.

Neben eher klassischen Erzählhaltungen wie dem extradiegetischen Erzähler hier (der erneut auf Kommentierung verzichtet), vermischen sich bei Tadeusz Borowskis Erzählsammlung Kamienny Świat (1948) die Rolle des Autors, des Erzählers und des Hauptcharakters. Um dem Unvorstellbaren ein Gesicht zu geben, wählt Borowski eine Sprache, die den Leser einzig durch ihre provokativ-drastische Färbung schlichtweg überwältigt. Die literarische bewusst undokumentarische Darstellung von etwas wie einer KZ-Normalität ist derart radikal, dass gerade hierdurch wieder ein Entfremdungseffekt hervorgerufen wird – was wahrscheinlich eine Grundeigenschaft aller Holocaustwerke der frühesten Periode ausmacht,11 in der in erster Linie versucht wird, Mechanismen der Dehumanisierung auf verschiedene Weise zu erklären. Somit stellt die Narrationsstrategie Borowskis bis heute einen Wendepunkt für die künstlerische Aufarbeitung der Kriegsthematik dar: Autoren distanzieren sich entweder von ihr, oder gebrauchen sie als Grundlage für weitere experimentelle Erzählvorgänge.12 Ein polnisch-jüdischer Autor dieser Phase ist Adolf Rudnicki, der in seinen Erzählungen oft mittels Beschreibung religiöser Symbole das kulturelle Leben der Juden zu beschreiben versucht. Dabei erzeugt die Verwendung der Perspektive ‚Wir‘ ein Zusammengehörigkeitsgefühl, was im Vergleich zu den sonst individuellen Standpunkten eine Neuheit darstellt (zum Beispiel in der Erzählung Wielkanoc aus dem Erzählband Żywe i martwe morze von 1952). Mit den einsetzenden politischen Umbrüchen ändern sich auch die Anforderungen seitens des Staatsapparates an die Literatur. Es sollen demzufolge Werte vermittelt werden, die eine Art moralisches Asyl, aber auch Grundlage für einen Neuanfang darstellen. Von der Literatur, die zuvor auch eine hohes Maß an Hilflosigkeit angesichts der erst kürzlich erfahrenen Gräuel thematisierte, wird nun erwartet, auf Weltbilder zu rekurrieren, deren Prägung aus der Zeit der polnischen Romantik stammt. Mit Rekursen auf die Gründungsmythen der polnischen Nation soll einmal mehr der Glauben an den Neubeginn des polnischen Staates bestärkt werden.13 In der Liberalisierungsphase des Kulturlebens nach Stalins Tod reagieren viele Autoren auf diese staatlich erwünschte Haltung mit einer Art innerer Emigration. Aber auch Reflexe aus der Zwischenkriegszeit, in der vor allem das Individuum und der psychologische Roman im Vordergrund standen, gewinnen wieder an Aktualität. Es scheint also, als begibt sich die polnische Literatur in den ersten Jahren nach Kriegsende einerseits auf die Suche nach einer neuen Literatursprache, die alleine die (bedauernswerte) Einzigartigkeit des Themas erfordert, und knüpft andererseits gleichzeitig an Vorheriges an. Neben den Kriegserfahrungen mit den Deutschen werden vor Einsetzen der Zensur aber auch Themen wie die Lagererfahrungen in Russland verarbeitet, wovon Józef Czapskis Na nieludzkiej ziemi (1949) zeugt. Festzuhalten bleibt jedoch, dass gerade nach Stalins Tod allgemeine Reflexionen über die Entstehung von Totalitarismen (z. B. mit Miłoszs Zniewolony umysł, 1953) das Primat der literarischen Erinnerung an den Holocaust angreifen.

2.2Literatur und Politik: Tauwetter und der März 1968 als Zäsur

Diese einsetzende Entwicklung bedeutete aber nicht, dass das Thema als solches aus dem Bewusstsein der Autoren verschwindet. Während sich in der unmittelbaren Nachkriegsphase vor allem jüdischstämmige Autoren des Themas annehmen, schreiben in den folgenden Jahren immer mehr nichtjüdische Schriftsteller über die Erlebnisse des Krieges. Teils geschieht dies in sehr politkonformer Manier, was die klischeehafte Darstellung der westdeutschen Figur in Dancing w kwaterze Hitlera (1966) von Andrzej Brycht beweist.

Als Hauptstimme der jüdischen Schriftsteller Polens darf Henryk Grynberg gelten, der mit seinem noch in Polen entstandenen Buch Żydowska wojna (1965) die Holocaustliteratur in den 1960er Jahren entscheidend prägt. Die Erzählung ist autobiographisch motiviert und schildert die Flucht des Ich-Erzählers in eine Welt, in der Verrat und Rettung, Glück und Unglück dicht beieinander liegen und gleichzeitig die jüdische Welt um ihn herum immer kleiner wird.14 Somit konfrontiert der Autor den Leser mit unbequemen Fragen wie der nach dem Platz des jüdischen Bevölkerungsteils in der polnischen Gesellschaft nach 1945. Tatsächlich kann man von einer Art Novum sprechen, da es bis dato vermieden wurde, dem polnischen Leser diese und andere Fragen zu stellen: Die Rückkehr der Juden in die polnische Gesellschaft wird mit dem Befreiungsmoment 1945 postuliert und somit das weitere Schicksal in den meisten Darstellungen ausgeblendet.15 Grynberg ist auch der Erste, der das Genre der autobiographischen Fiktion ausbaut, indem er einerseits versucht, sich nicht zu sehr mit der Erzählerstimme zu identifizieren, andererseits durch viele Randbemerkungen den Leser dazu veranlasst, Analogien zwischen dem Leben des Autors und dem des Erzählers zu suchen. Man kann seine Bücher also auf zwei unterschiedliche Weisen lesen, als Zeugnis und als Erzählung.16

Der Einfluss Grynbergs zu dieser Zeit auf die nachfolgenden Autoren ist auch deshalb recht hoch, da ihm die Veröffentlichungen im Exil und die Verbreitung im literarischen Untergrund, dem drugi obieg, auch Darstellungsfreiheit garantiert. So zeigt der Autor insbesondere mit seinen Werken der 1970er Jahre auf, dass eine Gleichstellung polnischer und polnisch-jüdischer Intelligenz in der Volksrepublik Polen nur auf dem Papier existiert und warnt davor die Shoah der Juden mit dem Schicksal anderer Bevölkerungsgruppen gleichzusetzen. Sein oft zitierter Ausruf Ludzie Żydom zgotowali ten los17 macht darauf in plakativer Weise aufmerksam.18

Betrachtet man jedoch weitere wichtige Veröffentlichungen aus der Zeit vor 1968, die innerhalb der Landesgrenzen publiziert wurden, so ist festzustellen, dass sich durch die erneut einsetzende Repressionspolitik des Generalssekretärs Władysław Gomułka die meisten Autoren zu Reflexionen über das Schriftstellertum gezwungen sehen und damit oft den Unglauben in die propagierte Weltordnung zum Ausdruck bringen. Das mangelnde Glaube der Menschen an einen gerechten Staat kommt vor allem im Posener Juni 1956 zum Ausdruck und setzt sich in den Folgejahren fort.19

W latach sześćdziesiątych zaczął się proces [...]. Proces na jaki nikt nie zwrocił wtedy uwagę, tak był spontaniczny i arefleksyjny: obywał się całkowicie bez programów i wynurzeń pisarzy. Myślę o zjawisku, które można by nazwać emigracja wyobraźni. Emigracja w przeszłość albo wrecz w zmyślenie. Literatura buduje sobie własną – całkiem nieoficjalną, chociaż niekoniecznie opozycyjną – ojczyznę, zbudowaną z prowincji i środowisk, które dotąd mało zajmowały pisarzy. [...] Pisarze zdaja się mówić [...]: Mieszkamy w innej Polsce niż ta oficjalna. Mieszkamy przede wszystkim pamięcią. Rodzinną, zaczepioną o wspomnienia, ale także historyczną czy intelektualną.20

Diese im Zitat angesprochene Imaginierung Polens und die Reflexionen über den Zustand des Landes finden Ausdruck in Romanen mit historischem Bezug, wenngleich es selbst Literaturhistorikern schwer fällt eine Quelle für diese Tendenz auszumachen. Dieser eklektische Charakter der polnischen Literatur der späten 1960er Jahre ist gekennzeichnet durch Rückgriffe auf das Zeitalter der Dekadenz: Die Lust am Untergang und der Provokation halten wieder Einzug in alle Genres und drängt den Holocaust als literarisches Sujet an den Rand. Außerhalb der Staatsgrenzen wurde Marek Hłaskos Piękni dwudziestoletni (1966) zum Symbol des Aufstandes einer ganzen Generation, während Tadeusz Konwicki mit seinem Roman Wniebowstąpienie (1967) innerhalb des Landes für Aufruhr sorgte. Hierin entwirft der Autor das surrealistische Bild eines Warschaus, in dem soziale Randgruppen wie Trinker, Diebe, Prostituierte, aber auch das ganz alltägliche Leben in all seiner Trägheit, Langmut und Melancholie vorkommen. Typisch für die Zeit ist wieder die autobiografische Erzählhaltung, deren Hauptmerkmal eine unbändige Wut gegen die gegenwärtigen Verhältnisse in Polen ist.

Wenngleich, wie bereits angedeutet, Literaturgeschichten nur eine Auswahl an Werken erfassen können, so finden sich unter den wirklich bekannt gewordenen Werken zur Holocaustliteratur nur jene Grynbergs, welche nicht in Polen entstanden sind, denn dort galt es vorrangig auf die politischen Veränderungen zu reagieren.

Als erstes Zwischenergebnis kann darauf hingewiesen werden, dass die polnische Literatur ihre hohe Wertschätzung für dokumentarische Darstellungsarten wie sie in den unmittelbaren Nachkriegsjahren populär waren (beispielsweise der Zeugenbericht oder das faktographische Erzählen bei Artur Sandauer), langsam aufgibt. Der Umgang mit der durch die Zäsur des Weltkrieges begründeten „neuen ethischen Empfindsamkeit“21 stellen nach 20 Jahren keine Überforderung mehr da, sodass man sich auch fiktionalen Erzählstilen gegenüber öffnet. Der thematische Schwerpunkt verschiebt sich allerdings zugunsten zeitgenössischer, sozialpolitischer Probleme – eine Tendenz, die sich vor allem in den 1970er Jahren weiter verstärkt.

Die politischen Vorgänge, das heißt die Repressalien gegen das Kulturleben in Polen stehen im Gegensatz zum wirtschaftlichen Aufschwung, den das Land vor allem zu Beginn der 1960er verzeichnet, sodass die erste Hälfte von Gomułkas Amtszeit einem großen Teil der Bevölkerung oft positiv in Erinnerung verbleibt. Nach den Pogromen gegen jüdische Intellektuelle 1968, die die nahezu gesamte Ausreise der jüdischen Bevölkerung aus Polen nach sich zog,22 erscheint es nur als logisch, dass auch in der Literatur der Ton verschärft wird: Aktuelle Themen wie die geistige Unfreiheit, aber auch der sich anbahnende Staatsbankrott durch Rückzahlungen der Fremdkredite, aus denen der vermeintliche Wohlstand erwuchs, treffen die Gesellschaft tief. Um der Zensur zu entgehen wählen einige Autoren die Verlegung der Handlung in längst vergangene Zeiten, was beispielsweise Andrzej Szczypiorski in Msza za miasto Arras (1970) beweist. Auch düstere Zukunftsvisionen werden von Autoren wie Konwicki weiter bedient. Sein wohl bekanntestes Werk aus dem Jahre 1979, das unter anderem durch die augenfälligen religiösen Allegorien skandalträchtig erscheint, trägt bereits den Namen Mała apokalipsa.

Die zweite Auffälligkeit in der Literaturwelt nach dieser gesellschaftspolitischen Zäsur von 1968 ist die Wiederbelebung des ‚jüdischen Themas‘. Hanna Krall eröffnet mit ihrem Buch Zdążyć przed Panem Bogiem (1977) erzähltechnisch neue Perspektiven: Hier liegt eine Interviewsituation mit dem Ghettoüberlebenden und Teilnehmer des Warschauer Aufstandes Marek Edelman vor, in welche Szenen aus dessen Memoiren Getto walczy (1945) eingeflochten werden. Die Interviewerin tritt aber in ihrer gesprächleitenden Rolle zurück und gibt somit dem Erinnernden Raum und Zeit, seine Sicht erneut darzulegen. Sicherlich zeugt dieses Verfahren davon, dass sich mit wachsendem zeitlichem Abstand zu den Geschehnissen auch die Art der Erinnerung ändert. Hierbei gilt es zu bedenken, dass die Zahl der Augenzeugen abnimmt, jedoch die Zahl der Verarbeitungen des Aufstandes steigt. Edelmans wiederholte Schilderungen können mit dem Bestreben erklärt werden, ein möglichst unverfälschtes Bild bewahren zu wollen. Die Tradierung der Erinnerung ist hier demnach, wenn auch indirekt, Thema. Ein weiterer ehemaliger Gefangener des Warschauer Ghettos, der seine Erinnerungen literarisch aufarbeitet, ist Bogdan Wojdowski. Im Jahr 1971 erscheint mit Chleb rzucony umarłym ein umfangreicher Roman, der vor allem den psychologischen Veränderungen des Menschen in Gefangenschaft gewidmet ist. Die sequenzartige Komposition erweckt den Eindruck, als sollten besonders Details wieder in das Bewusstsein rücken. Insofern kann auch Kralls Veröffentlichung (und ebenso andere stark faktografische Literatur wie Kazimierz Moczarskis Rozmowy z katem, 1972–74) als Antwort auf diese immer stärker werdende Fiktionalisierung der Erinnerung gesehen werden, die einem Bedürfnis des Lesers nach Authentizität („potrzeba autentyku“23) gerecht werden.

2.3 Wiederentdeckung des Themas in den 1980er Jahren

Die bisher dargestellten Werke verbindet ein wichtiger Aspekt: In ihnen erscheint der polnische Bevölkerungsteil meist als mitleidender Zuschauer bei den Gräueltaten, der jüdische Bevölkerungsteil als Opfer. Ferner werden die deutschen Besatzer oftmals als anonyme Täter ohne individuelle Züge dargestellt, sowie das heroische Bild des polnischen (und jüdischen) Aufständischen genährt. Diese schematische Darstellungsweise wird in den 1980er Jahren grundlegend überdacht: Als medienübergreifendes Großereignis kann Claude Lanzmanns Film Shoah (1985) gesehen werden, in dem der Regisseur alle beteiligten Gruppen erzählen lässt. In gewisser Weise ist das ‚Zu-Wort-kommen-Lassen‘ der Täter- und Mitläuferseite eine Wende in der Aufarbeitung, die sich auch in der polnischen Literatur niederschlägt. Daher verwundert es wenig, dass vor allem Mitte der 1980er Jahre eine ganze Fülle derartiger Erzählungen und Romane auf dem Buchmarkt erscheint: Hanna Krall setzt die Beschäftigung mit dem Thema Holocaust in Sublokatorka (1985) fort und berichtet hierin von ihren eigenen Erfahrungen als jüdische Untermieterin unter falschem Namen. Ein Jahr später erscheint Szczypiorskis Roman Początek, der ihm international zu Berühmtheit verhalf. Vor allem die sensible Darlegung der Psyche des deutschen Kommandanten Stuckler wirkt in ihrer Neuartigkeit zunächst verstörend – ebenso wie die zahlreichen im Buch dargestellten Kontroversen (antisemitische oder kollaborierende Polen stehen neben polonophilen Deutschen und einer offenen Kritik am März 1968), die diesen Querschnitt durch die polnische Psyche an manchen Stellen recht oberflächlich machen. 1988 legt Jarosław Marek Rymkiewicz mit Umschlagplatz das zweite Buch vor, das auf zwei zeitlichen Ebenen spielt. Hier bedient sich der Autor zweier Stimmen: in der Zeit des Krieges jener der Figur Itzhak Mandelbaums und im gegenwärtigen Polen einer Stimme, die der des Autors nahe steht. Beide Positionen fragen nach der Passivität der eigenen Landsleute. Spätestens seit Jan Błonskis Essay Biedni Polacy patrzą na getto (1987) wird diese Frage auch auf journalistische Weise diskutiert. Der deutliche Paradigmenwandel wurde alsbald auf gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Ebene wahrgenommen und intensiv reflektiert.

Die Öffnung der polnischen Literatur für eine zusehends fiktionalere Darstellungsweise lässt sich schon alleine durch den Generationenwechsel nicht abwenden: Mit Piotr Szewc und Paweł Huelle treten zwei Autoren in Erscheinung, die deutlich nach Kriegsende geboren wurden. Um über den Holocaust zu schreiben, müssen sie zwangsläufig auf eigene Vorstellungskraft und Überlieferungen zurückgreifen. Ebenfalls im Jahr 1987 veröffentlicht Huelle seinen Debütroman Weiser Dawidek, in dem der einzige jüdische Junge im Dorf nach seinem Verschwinden zur Mystifikationsfigur wird, der die anderen Kinder mit Faszination und Angst zugleich begegnen. Der unsichere und von Vorurteilen geprägte Umgang mit ihm spiegelt zugleich die Herangehensweise an das Thema Judentum wieder, wie sie typisch für jene Generation war, die im Sozialismus groß wurde. Diesem Roman steht Piotr Szewc Mikroerzählung Zagłada gegenüber, die eine absurde Ruhe und Normalität im (Zusammen-)Leben im polnisch-jüdisch geprägten Zamość in einer Geschwindigkeit und Fragmenthaftigkeit darstellt, die das Werk zuweilen wie eine Abfolge von Momentaufnahmen erscheinen lässt. Dies steht im Kontrast zu der das Werk durchziehenden, befremdlichen Ruhe, die maßgeblich durch den Wissensvorsprung des Lesers gegenüber den Charakteren entsteht, die noch nichts vom Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ahnen.

Das Aufbrechen der eher schematischen Darstellung der Polen als Opfer oder mildtätige Retter und das erweckte Interesse der Literatur am polnisch-jüdischen Zusammenleben fasst der Literaturhistoriker Przemysław Czapliński wie folgt zusammen:

Dominująca w latach osiemdziesiątych [...] opowieść o tym, co z nami zrobiła historia, opowieść o złu, które wyrządziły nam nazizm i komunizm, powoli ustępuje narracjom, które, nie negując win Niemców i Rosjan, usiłują opowiedzieć o tym, co robiliśmy sobie nawzajem – jak wyglądały relacje sąsiedzkie w czasie wojny i tuż po niej.24

2.4 Neudefinition und ‚postmemory‘. Die Zeit nach 1989 bis zur Gegenwart

Mit dem Niedergang des Kommunismus fallen auch die Gebote und Verbote, nach denen sich Autoren in heiklen Fragen wie der Geschichtsdeutung richten mussten. Was also bringt das erste Jahrzehnt der völligen Meinungs- und Darstellungsfreiheit an literarischen Werken diesbezüglich hervor, besteht doch nun beispielsweise die Möglichkeit der Neudefinition historisch belasteter Verhältnisse zu den Nachbarstaaten?

Hierbei ist zunächst auffällig, dass der polnische Buchmarkt, wie in vielen postsozialistischen Staaten auch, zusammenbricht: Traditionelle Verlagshäuser müssen schließen und das Leserverhalten ändert sich zu Gunsten ausländischer Literaturen, zumal die Polnische selbst keinen Standpunkt zu den äußeren Umbrüchen bezieht. Diese Erscheinung verwundert zunächst angesichts der sonst recht gesellschaftskritischen, reflektierenden polnischen Literatur: Anstatt großer gesellschaftspolitischer Themen wenden sich Schriftsteller vorwiegend der eigenen Identifizierungs- und Identitätssuche zu, die sich möglichst von Kollektividentifizierungen mit dem Schicksal des Landes abheben soll.25

In dieser Reaktion ist eine ablehnende Haltung zu erkennen, allerdings ist die Tatsache, dass der neu entstandene polnische Staat kaum zum Gegenstand der Literatur wurde (und es auch nicht werden musste) ebenfalls ein Teil der neuen Freiheit. In der Forschung wird daher die Frage stark diskutiert, ob 1989 wirklich eine Zäsur für einen Umbruch in der Literatur darstellt, oder vielmehr nur den Willen nach Umbruch?26 27 Wenn man Umbruch und künstlerische Freiheit auch im Sinne einer pluralistischen Darstellungsweise und Experimentierfreudigkeit definiert, könnten diese als Hauptcharakteristika der Literatur der 1990er Jahre gelten:28 Die Landflucht, das heißt die Wiederentdeckung der polnischen Peripherie in den Werken eines Andrzej Stasiuk (Opowieści galicyjskie, 1995) oder einer Olga Tokarczuk (Prawiek i inne czasy, 1996), stellt auch eine Antwort auf das Konsumverhalten dar, das vor allem das Gesicht der Großstädte änderte. Überhaupt scheint das Konzept des kulturellen Raumes einen wichtigen Aspekt der Identitätssuche der Gegenwart darzustellen: Die Rekonstruierung (fiktiver) Familiengeschichten findet nicht selten im Spannungsfeld ehemals multiethnischer Regionen und Orte statt. Hier seien die Publikationen von Paweł Huelle (Opowiadania na czas przeprowadzki, 1991) oder Stefan Chwin (Haneman, 1995) erwähnt. Am Beispiel von Danzig wird hier das Mit- und Nebeneinander von Deutschen und Polen vor dem Zweiten Weltkrieg beschrieben. Zugleich wird durch die Verwendung der Kindperspektive auch eine naive Faszination von ‚den Deutschen‘ und ihren meist materiellen Hinterlassenschaften deutlich. Diesem neuen Aspekt in der Auseinandersetzung mit den Nachbarn wird sich durch die kindliche Sichtweise vorsichtig genähert und damit Kritikern, die hierin eine Verunglimpfung sehen könnten, eine potentielle Angriffsfläche entzogen. Gleichzeitig veranlasst der versöhnliche und vorurteilsfreie Blick durch Kinderaugen den erwachsenen Leser zur Reflexion. Doch nicht nur das Thema der deutsch-polnischen Beziehungen vor dem Zweiten Weltkrieg und die Diskussion um deutsches Kulturerbe auf heute polnischem Boden sind Gegenstand des literarischen Diskurses. Auch der Holocaust wird wieder thematisiert. So erinnert Joanna Wiszniewiczs A jednak czasem miewam sny (1996) im Aufbau an Kralls Zdążyć przed Panem Bogiem, da auch hier eine Interviewsituation mit einem ehemaligen Aktivisten des Warschauer Aufstandes vorliegt.

Auffallend ist ab Mitte der 1990er Jahre, dass einige Augenzeugen in recht hohem Alter ihr allererstes Zeugnis über die Kriegszeit ablegen. Hierzu zählen zum Beispiel Wilhelm Dichters Roman Koń Pana Boga (1996) oder Roma Ligockas Dziewczynka w czerwonym płaszczyku (2002 erschienen als Übersetzung des zwei Jahre zuvor veröffentlichten deutschen Titels Das Mädchen im roten Mantel), die ebenfalls wieder mit der (eingeschränkten und zugleich offenen) Sicht des Kindes offen legen, dass die Grenze zwischen Verfolger, Verfolgtem und Zuschauer fließend waren. Es scheint, als solle das Thema gerade aufgrund der neuen, schnelllebigen Realität wieder in das Bewusstsein zurückgeholt werden. Neu ist allerdings, dass mit der Jahrtausendwende auch immer mehr literarische Zeugnisse von Frauen veröffentlicht werden. Dies schließt auch Töchter der Shoah-Überlebenden mit ein und eröffnet (neben dem Genderaspekt) so eine weitere Kategorie der Erinnerungsliteratur über den Holocaust – denn die zeitliche Distanz muss nun durch die emotionale ausgeglichen werden, beziehungsweise ist dieser gegenübergestellt.29

Die Perspektiven, aus denen Erinnerung geschieht, werden zusehends vielfältiger: Mit dem Terminus ‚postmemory‘ von Marianne Hirsch ist mitnichten gemeint, dass das Präfix post das Ende der ursprünglichen Erinnerung anzeigt, sondern eher das Weitererinnern einer primären Erinnerung mit einem distanzierten und kritischen Blickwinkel, der medialer Transmissionsstrategien bedarf:

Postmemory describes the relationship that the generation after those who witnessed cultural or collective trauma bears to the experience of those who came before, experiences that they ‚remember‘ only by means of the stories, images, and behaviours among which they grew up. But these experiences were transmitted to them so deeply and affectively as to seem to constitute memories in their own right. Postmemory’s connection to the past is thus not actually mediated by recall but by imaginative investment, projection, and creation.30

Hirsch zählt zu den so genannten mnemonischen Strategien vor allem Fotografien, die es vermögen, den Holocaust in seiner Andersartigkeit und lähmenden Totalität ansatzweise zu erfassen: Angesichts der Tatsache, dass sich die Vergangenheit nur noch in Wortfragmenten wiedergeben lässt,31 ist die symbolische und ikonische Kraft der Bilder nicht zu unterschätzen. Die hier behandelte Erzählung Pensjonat orientiert sich an dieser Vorstellung ebenso wie Marek Bieńczyks Twórki (1999), unter der Voraussetzung, dass Bild hier auch im übertragenen Sinne verstanden wird: Die Umgebung des Hauptschauplatzes, einer einst real existenten Nervenheilanstalt im Zweiten Weltkrieg, evoziert das Bild eines Garten Eden und gleichzeitig werden die geschichtlichen Ereignisse im Buch fast ausgeblendet, sodass die Welt aus nichts anderem zu bestehen scheint, als der erwähnten Anstalt.32 Dort, wo die eigene Erfahrung fehlt und Worte das Imaginierte nicht zu beschreiben vermögen, bedient sich der Autor eben der bildhaften Sprache.

Die Vergangenheit ist Neuinterpretationen gegenüber also wieder offen, sodass polnische Autoren ihre Sprachlosigkeit überwinden und insbesondere die jüngere Autorengeneration den Versuch unternimmt, „sich in die psychomentalen Strukturen der merkwürdigen hybriden staatssozialistischen Gesellschaft mit ihren Defiziten, Freiräumen und Repressionsmechanismen hineinzudenken.“33 Dem komplizierten Verhältnis zu Russland wird – wenn auch nur hintergründig – zum Beispiel im Roman Wojna polsko-ruska pod flagą biało-czerwoną (2002) von Dorota Masłowska auf provokative Weise begegnet.

Zusammenfassend kann man für die neueste Literatur zum Thema Holocaust folgende These formulieren: Neben einigen späten Zeugnissen der Erlebnisgeneration verursacht der natürliche Lauf der Zeit die Übernahme und das Hüten der Erinnerung durch die zweite oder bereits dritte Generation. Diese bedient sich rekonstruktiver Verfahren und Techniken der Ersetzung und Komplementierung von entstandenen Lücken des Gedächtnisses. Bei all der Beschäftigung mit dem Bewahren der Erinnerung und der Geschichte scheint es jedoch, dass gerade die drohende Verwischung der Spuren das Hauptthema der neueren Literatur darstellt.34 Die Bedeutung des Einzelschicksals mit all seinen Widersprüchen steht klar im Fokus, was sie von den frühen Erinnerungen moralisch-appelativen Charakters unterscheidet. Wie sich nun die beiden ausgewählten Werke in diese Diskussion fügen, ist Gegenstand der beiden folgenden Kapitel.

1 Breysach, Barbara: „Intellektuelle Zeugenschaft und die Erfahrung der Überlebenden. Bemerkungen zur polnischen Literatur der Shoah.“ In: Walter Schmitz (Hg.): Erinnerte Shoah. Die Literatur der Überlebenden. Dresden 2003, S. 338–355, hier S. 338.

2 Tippner, Anja: „‚Existenzbeweise.‘ Erinnerung und Trauma nach dem Holocaust bei Henryk Grynberg, Wilhelm Dichter und Hanna Krall.“ In: Osteuropa 1/2004, S. 57–74, hier S. 59.

3 Kowalska-Leder, Justyna: Doświadczenie zagłady z perspektywy dziecka w polskiej literaturze dokumentu. Wrocław 2009, S. 332.

4 Ubertowska, Aleksandra: Świadectwo – trauma – głos. Literackie reprezentacje Holokaustu. Kraków 2007, S. 159.

5 Ziębińska-Witek, Anna: „Problemy reprezentacji Holokaustu.“ In: Przemysław Czapliński und Ewa Domańska (Hg.): Zagłada. Współczesne problemy rozumienia i przedstawiania. Poznań 2009, S. 141– 154, hier S. 142.

6 Wie es beispielsweise der polnische Philosoph Roman Ingarden betonte, der sich den Wechselwirkungen von literarischer Wahrheit und Rezeptionsästhetik widmete.

7 Ziębińska-Witek, Anna: Holocaust. Problemy przedstawiania. Lublin 2005, S. 90f.

8 Krawczyńska, Dorota: „Literaturoznawstwo wobec piśmiennictwa o Zagładzie.“ In: Przemysław Czapliński und Ewa Domańska (Hg.): Zagłada. Współczesne problemy rozumienia i przedstawiania. Poznań 2009, S. 131–139, hier S. 135.

9 Feuchert, Sascha: Oskar Rosenfeld und Oskar Singer: Zwei Autoren des Lodzer Gettos. Frankfurt am Main 2004, S. 52f.

10 Auch die Betitelung von Thomas Szarotas Sammelband Karuzela na Placu Krasińskich. Studia i szkice z lat wojny i okupacji (Warszawa 2008) verdeutlicht diesen Sachverhalt noch einmal.

11 Ziębińska-Witek 2005: S. 114.

12 Wolski, Paweł: „Proszę Państwa na Umschlagplatz. Narrator Borowskiego a współczesne przekształcenia polskiej dyskuzji wokół doświadczenia wojny.“ In: Arleta Galant und Inga Iwasiów (Hg.): 20 lat literatury polskiej. Idee, ideologie, metodologie. Szczecin 2008, S. 251–265, hier S. 251.

13 Kaniewska, Bogumiła: „Proza lat 1939-1956.“ In: Anna Skoczek (Hg.): Historia literatury polskiej. Tom IV: Literatura współczesna. Warszawa 2008, S. 143–157, hier S. 144ff.

14 Tippner 2004: S. 62.

15 Quercioli-Mincer, Laura: „‚Nie będziemy się więcej baċ ludzi‘? Powrót po Zagładzie w literaturze polsko-żydowskiej.“ In: Kwartalnik Historii Żydów 2/2007, S. 199–225, hier S. 201f.

16 Quercioli-Mincer 2007: S. 214.

17 „Menschen haben Juden dieses Schicksal bereitet.“

18 Nasiłowska, Anna: Literatura okresu przejściowego. Warszawa 2006, S. 76f.

19 In Poznań kam es am 28. Juni 1956 zum ersten und auch massivsten antikommunistischen Aufstand der Nachkriegszeit, dessen Ursprung nicht nur in ökonomischer Unzufriedenheit, sondern vor allem in der Ablehnung allem Sowjetischen gegenüber lag. Die blutige Niederschlagung, aber auch die Radikalität des Aufstandes veränderten das politische Klima der polnischen Tauwetterperiode. Da der Aufstand Wellen im ganzen Land schlug, strebte die Politik vor allem im kulturellen und wissenschaftlichen Bereich zunächst Lockerungen der Zensur und Zugeständnisse an die Meinungsfreiheit an, die allerdings nach kurzer Zeit wieder relativiert wurden. Vgl. hierzu Machcewicz, Paweł: Der Posener Juni und der polnische Oktober 1956. Online verfügbar unter http://www.zeitgeschichte-online.de/portals/_ungarn1956/documents/machcewicz _posen.pdf.

20 „In den Sechziger Jahren begann ein Prozess […] Ein Prozess, dem damals niemand Aufmerksamkeit schenkte, so spontan und unreflektierend war er: Er ging völlig programmlos und ohne Bekenntnisse von Schriftstellern vonstatten. Ich denke an jene Erscheinung, die man Emigration der Vorstellung nennen kann. Eine Emigration in die Vergangenheit oder geradewegs in das Erfundene. Die Literatur erschafft sich ihr eigenes – völlig inoffizielles und dennoch nicht unbedingt konträres – Vaterland, das aus Provinzen und Mileus erschaffen wurde, die bis dahin die Schriftsteller wenig kümmerten. […] Die Schriftsteller scheinen zu sagen […]: Wir wohnen in einem anderen Polen als dem offiziellen. Wir leben vor allem mit dem Gedächtnis. Mit dem familiären, in Erinnerungen feststeckenden, aber auch dem historischen oder intellektuellen.“ Błonski, Jan: „Bezładne rozważania starego krytyka, który zastanawia się, jak napisałby historię prozy polskiej w latach istnienia Polski Ludowej.“ In: Teksty Drugie 1/1991, S. 5–24, hier S. 16.

Бесплатный фрагмент закончился.

Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
150 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783838263946
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают