Читать книгу: «Pyria», страница 3

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Der Schatten trat an die Reling und sah auf das nahe Schiff. Der Wind trug Stimmen, aufgeregtes Rufen, über das Wasser an ihr Ohr. Noch waren sie nicht in Reichweite, um sie unter Beschuss zu nehmen, und vermutlich würden sie erst die Herausgabe der Prinzessin verlangen, bevor sie das kleine Schiff den Fluten überantworteten. Trotzdem erwartete Leén – und sie war sich sicher, dass die meisten anderen von einer ähnlichen Angst ergriffen waren – jeden Moment eine Kanonenkugel neben sich einschlagen zu spüren. Der Steuermann, der sichtlich sein bestes gab, sich nicht ständig umzudrehen, hatte die Finger viel stärker um das Steuer geklammert als nötig gewesen wäre. Seine Knöchel traten weiß hervor und er zitterte. Auch der Rest der Crew war in verdächtige Stille verfallen, nur der Kapitän war nirgends zu sehen. Vielleicht gab es eine Absprache mit Machairi, vielleicht wusste er aber auch noch nicht einmal von dem Ärger, der ihnen bevorstand. Gerade als sie Mico danach fragen wollte, weil sie sich nicht traute, Machairi in seinem … Schauen zu unterbrechen, trat ein Mann an Deck, den sie als den Kapitän erkannte.

Der leicht untersetzte Mann war sichtlich mehr ein Händler als ein Seebär. Sie fuhren unter Harethiflagge in den felsigen Gewässern nahe der Küste, die jeder mit einem größeren Schiff und ein wenig Verstand weitläufig umfuhr. Riffe und Felsformationen waren überall an der Küste verteilt und die Legenden erzählten sogar von Seemonstern, die sich von Zeit zu Zeit ins flachere Wasser der küstennahen Regionen verirrten. In solchen Umständen kannte der mittelalte Mann sich aus. Auf dem offenen Meer war er nicht häufig unterwegs und wenn man es genau nahm, war das Schiff nicht dafür gemacht. Ganz davon abgesehen wurde er sonst nicht von einem königlichen Schiff verfolgt und hatte keine so bedeutenden Gäste an Bord, Gäste, die ihn – sollte der Prinz sie einholen und ihrer Verbrechen überführen – mit Sicherheit mehr als nur sein Schiff kosten würden. Trotzdem hatte er sie mitgenommen. Noch ein Rätsel, das Leén nicht lösen konnte.

Gespenstisch still war es an Bord, während der Kapitän auf das Achterdeck trat und nun ebenfalls einen Blick auf das Verfolgerschiff warf. Wenn man genau hinsah, konnte man die Angst erkennen, die den Mann ergriff. Nach außen blieb er jedoch erstaunlich ruhig. »Es gibt ein Lösung für diese Problem, ja?«, fragte er schließlich in nicht gerade akzentfreiem Cizethi.

»Mach das Schiff bereit, schnell und leise fortzusegeln«, antwortete Machairi ruhig und durch die weißbehandschuhte Hand drehte sich ein silbernes Messer. Der Kapitän malmte mit dem Kiefer, nickte aber, als sei ihm der Gedanke, einem anderen das Kommando zu überlassen, äußerst unangenehm.

»Wir erwarten Zeichen«, presste er hervor und entfernte sich, um mit seiner Mannschaft zu reden. Scheinbar vertraute er immerhin darauf, dass der Schatten wusste, was er tat.

Machairi drehte sich zu der kleinen Gruppe an Deck und kurz glaubte Leén zu sehen, dass die schwarzen Augen nach etwas suchten. »Mico«, sagte er schließlich und Leén fragte sich, ob er vielleicht unwillkürlich nach Gwyn Ausschau gehalten hatte. »Bring die Prinzessin unter Deck.«

Auch Mico schien zu merken, dass er die Aufgabe bekam, die normalerweise Gwyn zufiel. Seufzend nickte er jedoch, deutete eine kleine Verneigung in Korys Richtung an und deutete auf die Treppe zum Hauptdeck. Die Prinzessin hingegen sah nicht gewillt aus, so einfach nachzugeben. »Danke, aber ich glaube, ich fühle mich an Deck wohler«, verkündete sie verbindlich und lächelte leicht, während sie fest Machairi ansah. War das etwa Abenteuerlust, die da in ihren Augen blitzte? Reichlich unvernünftig, wenn man bedachte, dass das fremde Schiff nach ihr suchte. Der Schatten machte sich nicht die Mühe, sich zu wiederholen. Er erwiderte ihren herausfordernden Blick mit seiner Kälte, bis das jüngere Mädchen aufgab. »Andererseits ist es wohl besser, wenn ich nicht zu sehen bin. Nicht, dass er wüsste, wie ich aussehe, aber man kann ja nie vorsichtig genug sein«, fügte sie schließlich hinzu, nahm mit einem gezwungenen Lächeln die Aufforderung an und ließ sich hinab in den Schiffsbauch führen.

»Was nun?«, fragte Grothia interessiert und zupfte ihren eigenen weißen Handschuh zurecht. Sie war für alles bereit. Das Gleiche konnte man von Leén leider nicht sagen. Sie hatte das seltsame Gefühl, dass irgendetwas an dieser Situation nicht stimmte. Nicht nur, dass sie plötzlich allein mit zwei Schatten auf dem Achterdeck stand, es schien auch eine ganz neue Form von Gefahr in der Luft zu liegen. Sie wusste, dass Machairi einen Plan hatte, aber ob dieser Plan ihr gefallen würde, war eine ganz andere Frage. Die Tatsache, dass er sie nicht weggeschickt hatte, legte doch die Vermutung nahe, dass er sie hier haben wollte, und das konnte nichts Gutes bedeuten. Sie hatte keine Lust, erneut als Werkzeug verwendet zu werden.

Die nächsten Minuten verstrichen in nervenaufreibender Ruhe. Entspannt stand Machairi am Heck des Schiffes nahe der Reling und schien darauf zu warten, dass das Schiff des Sultans sie erreichte. Es war kaum größer als ihr eigenes, hatte aber wesentlich mehr Tuch gesetzt und war besser bewaffnet. Soweit Leén das sehen konnte, hatten sie selbst nur eine einzige kleine Kanone und das andere Schiff … nun, sie dachte lieber nicht darüber nach, wie viel Feuerkraft sich hinter dem Rumpf verbarg. Außerdem fiel ihr Blick nun erneut auf den Horizont, weil sie sich erinnerte, ein weiteres Schiff gesehen zu haben. Tatsächlich zeichneten sich nun weiße Segel sehr deutlich in der Ferne ab. Ganz offensichtlich waren jene Verfolger wesentlich langsamer, aber auch viel größer. Es hatte die klassischen viereckigen Segel, wie sie in Cecilia zumeist verwendet wurden und hielt ihnen stetig nach. Vor ihnen konnte man mit Sicherheit davonsegeln, wenn man auf einem so viel wendigeren und leichteren Schiff war, denn schließlich war das cecilianische Schiff wohl eher für die Hochzeit als für eine Verfolgungsjagd nach Hareth gekommen. Das änderte aber nichts daran, dass Hareths Verfolgerschiff sie nun erreichte.

Leén hielt sich bewusst im Hintergrund. Sie wich ganz an die Backbordseite zurück und beobachtete, wie das rotbesegelte Boot langsamer wurde und zu ihnen aufschloss. Vorne am Bug des Schiffes stand ein junger Mann. Seine dunklen Locken kräuselten sich in seiner Stirn und er stand aufrecht, in würdevoller Pose. Obwohl seine Gesichtszüge dennoch von einer gewissen Freundlichkeit zeugten, sah er dem Handelsschiff mit ruhigem Ernst entgegen und es bestand kein Zweifel, dass dieser Mann ein zukünftiger Sultan war. Eigentlich sah er genau so aus, wie Leén ihn sich vorgestellt hatte. Er schien sich zu Recht überlegen zu fühlen und dank der Wachen links und rechts von ihm und dem Rot und Gold seiner Kleider wirkte er trotz mangelnder Bedrohlichkeit einschüchternd. Prinz Zedian war ein würdiger Kontrahent zu Machairi, der den Blick seines Verfolgers vermutlich eiskalt erwiderte. Genau konnte Leén das von ihrer Position nicht sagen, weil der Schatten mit dem Rücken zu ihr stand.

Das Schiff des Sultans wurde langsamer und sie segelten so nebeneinander, dass die beiden Männer sich gerade ansehen konnten und möglichst wenig Abstand zwischen ihnen war. Kurz fragte sich das Harethimädchen, ob sie wohl für den Schatten übersetzen musste. Das wäre in dieser Situation sicherlich noch unangenehmer als sonst, aber sie wurde von ihren Befürchtungen erlöst, als der Prinz das kurze Schweigen durchbrach und Machairi ansprach. »Ich sehe: Die Gerüchte sind wahr. Gebt mir meine Braut zurück und niemand muss zu Schaden kommen.« Eine Spur des typischen Harethiakzents schwang in seinem Cizethi mit, aber man merkte, dass der junge Mann eine hervorragende Ausbildung genossen hatte. Nur wenig holperte er über die harten Konsonanten und die fremde Betonung und Leén hätte es selbst kaum besser gekonnt. Nach Wochen in Kefa und in der Gesellschaft vieler Cecilian war ihr Cizethi inzwischen beinahe akzentfrei, aber sie hatte schließlich schon mit ihren Eltern beide Sprachen gesprochen.

Gina lehnte sich an das Geländer, das verhinderte, dass man allzu leicht vom Achterdeck fiel, und grinste. »Direkt zum Punkt… und da heißt es immer, die Südländer würden so gerne plaudern«, sinnierte sie und seufzte theatralisch. Erschrocken starrte Leén sie an und konnte nicht glauben, wie unverschämt dieses Mädchen war. Warum hatte scheinbar kein einziger Schatten irgendeine Grenze in seiner Respektlosigkeit? Machairi schnitt der Faust mit einer Geste das Wort ab, als sie Luft holte, um etwas sicherlich Impertinentes rüber zu dem anderen Schiff zu brüllen.

Der Prinz hatte die Augenbrauen leicht zusammengezogen, ließ sich aber weiterhin keine vermehrte Wut anmerken. Er wandte sich nur wieder Machairi zu und wiederholte. »Meine Braut.« Fest sah er zu ihrem Schiff hinüber, während er seine Forderung aussprach. »Sie sollte keine Gefangene sein.«

»Ich halte keine Gefangenen«, antwortete Machairi ruhig und selbst auf die Entfernung konnte man dem Prinzen einen Hauch von Überraschung ansehen. Vielleicht waren es nicht die Worte, die ihn überraschten, sondern vielmehr die Stimme des Schattens, die so unerwartet melodisch und klar war.

Nun schmunzelte Hareths Prinz und hob die Augenbrauen. »Und ich nehme an, dass ich das einfach glauben soll. Auf Euer Wort als Dieb?«, erkundigte er sich und schüttelte den Kopf.

»Nichts spricht dagegen, dass sich der Skeptiker umsieht«, antwortete der Schatten und Leén fragte sich, ob er sich so verdreht ausdrückte, um eine Anrede zu vermeiden, oder ob er noch etwas anderes damit aussagen wollte. Sie betrachtete das Messer, das sich schneller und schneller durch die weißen Finger drehte. Noch immer war sich das Mädchen nicht sicher, ob das vielleicht ein Ausdruck von Nervosität war. Ganz davon abgesehen fragte sie sich, ob er den Prinzen wirklich an Bord kommen lassen würde. Es wirkte doch eher wie das Letzte, was sie wollen konnten, oder nicht?

»Ein Angebot, das ich gern annehmen würde, wären nicht ein solch berüchtigtes Messer und ein sehr schmaler Steg zwischen uns«, bemerkte der Prinz, während tatsächlich jemand eine Planke herantrug, und musterte die tanzende Klinge in dem weißen Handschuh. Leén fand, dass das nach einer berechtigten Sorge klang, aber Grothia ließ ein Schnauben hören.

Machairi schmunzelte. »Wenn das das Problem sein soll …« Es sah aus, als verliere der Schatten die Kontrolle über die Klinge. Das Messer fiel ihm aus der Hand, schlug einmal auf der Reling auf und platschte dann leise ins Meer. Erneut war Leén überrascht. Gwyn hatte ihr einst gesagt, dass der Schatten gut auf seine Messer achtete. Der Feuerspucker war geradezu entsetzt gewesen, als Machairi ihr eine Klinge übergeben hatte, um sich besser verteidigen zu können (worin sie sich nicht besonders gut angestellt hatte). Wieso würde er eine Klinge über Bord fallen lassen? Sicher musste doch auch einem Harethiprinzen klar sein, dass der Messerdämon mehr als ein Messer trug. Vielleicht war es jedoch auch die Geste, die zählte, denn der Schatten setzte hinzu: »Die Zeiten, da ein toter Prinz eine sinnvolle Lösung wäre, sind vorüber.«

Prüfend musterte der Prinz sein Gegenüber, während einer seiner Diener ihm mit besorgtem Blick etwas zuraunte und der Steg zu ihnen herübergelegt wurde. Leén sah, wie ihr eigener Kapitän ihnen einen alarmierten Blick zuwarf und der Steuermann umklammerte das Rad nun so fest, dass man Angst haben musste, er könnte es unter seinen Fingern zerbrechen. Mit der gleichen Ruhe wie auch sonst immer ging der Schatten mit fließenden Bewegungen die Treppe zum Hauptdeck hinab und erwartete die Gäste jenseits der Planke.

Leén konnte nicht sagen, was Prinz Zedian veranlasste, auf diesen Vorschlag einzugehen, warum er nicht mit aller Gewalt entern ließ, um ihnen die Prinzessin zu entreißen. Doch der Prinz trat an die Reling, ohne weitere Bedenken zu äußern.

Ein uniformierter Vartija betrat den Überweg als Erster, den Blick skeptisch auf den Schatten gerichtet und die Hand fest um ein Schwert geschlossen. Jeder Soldat auf dem anderen Schiff schien angespannt und als der Prinz selbst den Steg hinter seinem Soldaten betrat, wurde die Stille so vollkommen, dass man die Anspannung fast in der Luft surren hören konnte. So entging niemandem das erste Grollen, das aus den Tiefen des Wassers erklang. Die Schiffe erbebten und das Wasser schien zu brodeln. Die Besatzung beider Schiffe klammerte sich fest an dem erstbesten Halt, den sie fanden, und Schreck, Überraschung und Angst lösten die Anspannung ab. Ein Messer schoss aus der Tiefe hervor wie aus einem Kanonenrohr und mit einer Sicherheit, die nur jemand haben konnte, der genau das erwartet hatte, fing Machairi es aus der Luft.

Dann geschah alles auf einmal. Die zuvor ruhige Meeresdecke brach und Machairi gab dem Kapitän ein Zeichen. Der Steg, auf dem der Prinz noch immer stand, barst, als ein gewaltiger Fangarm den Soldaten anrempelte und ihn hinabstürzte in die blaue Unendlichkeit des Wassers. Türkise Tentakel schossen aus der Tiefe hervor, wanden sich in die Luft und Leén sah den Prinzen fallen. Machairi fing den jungen Mann am Kragen auf und zerrte ihn mit nur einer Bewegung an Bord. Indes hatte der Kapitän es geschafft, seine schreckstarre Besatzung dazu zu bringen, die Segel in den Wind zu drehen und mehr Tuch zu setzen.

Leén umklammerte das Geländer der Treppe zum Achterdeck und sah mit geweiteten Augen auf die unruhige See. Auf die zahllosen dünnen Fangarme, die aus dem Wasser schossen und sich mehr und mehr um das Harethischiff zu schlingen schienen. Auch ihr eigenes Schiff wurde von wenigen Armen befallen, aber sie bewegten sich bereits weg vom Geschehen und die Männer an Bord des Verfolgerschiffes schrien so laut durcheinander, dass das Seemonster sich nur auf sie konzentrierte. Dünn wie Leéns Arm waren die einzelnen Tentakel und in alle Richtungen biegsam wie Haare. Trotzdem durchstießen sie die Bordwände und zermalmten das Schiff geradezu, während die Besatzung bestmöglich Kanonenkugeln ins Wasser feuerte. Ungläubig und schockiert sah sie zu, wie mehr und mehr Tentakel aus der Tiefe kamen und das Schiff umwoben und dann plötzlich erhob sich ein bläulicher Körper unter den Tentakeln aus den Tiefen des Wassers. Die ganze Welt schien den Atem anzuhalten, um zuzusehen, wie eine Gestalt aus dem Wasser erwuchs. Erst nach einem Augenblick wurde klar, dass es sich bei den türkisenen Tentakeln tatsächlich um Haare handelte. Schreie erfüllten die Luft, während der gewaltige Körper, zu dem dieses Haupthaar gehörte, sich bis zur Hüfte aus dem Wasser erhob.

Es war eine Frau, oder zumindest glich sie einem weiblichen Bild. Die Gesichtszüge waren breit und schauerhaft und die Haut war blau und glänzte wie das Meer selbst im Sonnenlicht. So klein wie ein Spielzeugboot hing das Schiff in ihren Haaren und mit einer gewaltigen Hand zog sie es daraus hervor. Menschen hielten sich verzweifelt an der Reling fest, um nicht ins Wasser viele dutzend Schritt unter ihnen hinabzustürzen, als sie es zur Seite kippte und betrachtete wie ein kleines Kind ein neues Spielzeug. Eine Art Lächeln verzog die unmenschlichen Gesichtszüge und dann plötzlich schoss ihr Blick zu dem zweiten Schiff in ihrer Nähe.

Kalte Furcht und Entsetzen schossen durch Leéns Magen und sie wollte schreien, aber kein Laut entrang sich ihrer Kehle. Die zweite gewaltige Hand hob sich aus dem Wasser und verdeckte die Sonne, sodass ein Schatten auf sie fiel. Sie waren schon recht weit gekommen und der Kapitän segelte nun so schnell, wie das kleine Schiff hergab, aber sie waren mit Sicherheit noch immer in Reichweite der gigantischen Gestalt. Wenn sie sie nun einfach in die Tiefe hinabdrückte … Als wäre sie unentschlossen, bewegte das Seemonster die Hand nach links und rechts und verwirrt betrachtete Leén das Wasser, das den blauen Arm hinablief und in wahren Wasserfällen zurück ins Meer fiel. Erst nach einem atemlosen Augenblick verstand Leén, dass sie winkte. Dieses riesenhafte Ungetüm einer Frau, dessen Gesicht man vielleicht am ehesten mit einem eingedrückten blauen Totenschädel vergleichen konnte, grinste breit, schaukelte das Schiffchen in einer Hand, auf dem noch immer die Besatzung schrie, und winkte ihnen nach.

Fassungslos drehte sie sich zu Machairi, die Knie weich wie selten zuvor in ihrem Leben, um ihn zu fragen, was gerade geschehen war, doch sie war erneut kaum in der Lage, sich zu rühren. Da stand der schwarzgekleidete Mann seelenruhig, mit einem triefenden Messer in der Hand, und winkte zurück.


Königskinder

Hoheit strebt nach Perfektion. Eine einfache Regel, die die Grundfeste ihrer Welt setzte. Eine ermüdende Regel zweifellos, aber Koryphelia konnte nicht behaupten, dass sie eine Wahl gehabt hätte. Sie war in eine Rolle hineingeboren worden, in der ihr nichts anderes übrig blieb, als das Beste aus ihrer Situation zu machen. Es hatte immer viele Regeln in ihrem Leben gegeben und sie hatte erst mit der Zeit gelernt, welchen sie sich fügen musste und welche sie biegen konnte.

Das Leben der Menschen, die nun um sie herum waren, war anders. Auch hier gab es einen festen Regelkodex, ob sie es nun wussten oder nicht, aber es waren gänzlich andere Paradigmen. Koryphelia versuchte, sich anzupassen, erließ dem einzig netten Mädchen in ihrem Alter gerne die Höflichkeitsfloskeln und gab sich allergrößte Mühe, nicht das verwöhnte Prinzesschen zu sein, das sie alle in ihr sahen. Die Faust war die Impertinenz in Person und die Blinde war ein Enigma der Andersartigkeit. Das Harethimädchen, das man ihr als Rish vorgestellt hatte, schien immerhin ein gewisses Maß interpersoneller Kompetenzen aufweisen zu können. Wenn es zu den Männern der Gruppe kam, hatte die Prinzessin entschieden, freundliche Vorsicht walten zu lassen. Der Pyromane, der Om’falo in Brand gesteckt hatte, hatte sich glücklicherweise zurückgezogen und der Magier, der ihr seine kultivierte Höflichkeit allzu deutlich unter die Nase rieb, war schon ob seiner Natur mit Bedachtsamkeit zu behandeln. Der Messerdämon selbst – das stand außer Frage – hatte ein solch exzessives Maß an Stolz und Arroganz, dass sie gar nicht erst versuchen wollte, dem beizukommen. Bereits bei ihrer Entführung, die kaum die Bezeichnung verdiente, hatte sie gemerkt, dass dieser Mann seinen Ruf zu Recht genoss. Es war nicht davon auszugehen, dass er seine naturgegebene Fehlbarkeit vor irgendeinem Menschen eingestehen würde. Deshalb, und nur deshalb, saß die Prinzessin von Cecilia nun in ihrer Kajüte und hörte den Schreien von draußen zu.

Koryphelia war von Natur aus mit einer gesunden Neugierde und einer gewissen Intelligenz gesegnet, die ihr Vater ihr nicht zutraute. Sie wollte wissen, was dort an Deck vorging und wollte gleichzeitig die Situation nicht noch schwieriger machen. Angestrengt hörte sie zu, versuchte zu verstehen und einzuschätzen was vorging. Es war wahrlich nicht besonders leicht, die gedämpften Geräusche durch die Bordwände hindurch zu vernehmen. Eindeutig war nur, dass Chaos ausgebrochen war und sie sich mit erhöhter Geschwindigkeit bewegten. Da hatte der Messerdämon wohl sein Zeichen gegeben. Immerhin schien der Kapitän in der Lage, Anweisungen zu befolgen. Menschen, die an ihre Rolle als Kommandant gewöhnt waren, schienen allzu häufig zu versessen, es zu behalten. Bei uneingeschränkter Aufrichtigkeit ging es ihr auch selbst so. Macht war ein Freund, dem man gar zu leicht verfiel.

Die Schreie verklangen, wurden zu einem Echo in der Ferne und es wurde ruhig an Bord. Ebenso gut hätte das Schiff nun verwaist sein können. Keine Stimme drang an ihr Ohr, keine Schritte. Vorsichtig schob die Prinzessin die Tür ihrer Kajüte auf und schritt auf leisen Sohlen auf die Treppe zum Deck zu. Zu ihrer großen Erleichterung konnte sie nun doch wieder leise Schritte vernehmen. Keine Menschenseele begegnete ihr zwischen den Kajüten und bewusst vorsichtig schob sie die Luke einen Spalt auf, um einen Blick an Deck erhaschen zu können.

Dort, unterhalb der Reling, zu Füßen des Dämons, lag ein Harethi auf dem Rücken und starrte mit Überraschung und Furcht in die Ferne und auf Machairi, der, die Hand zum Gruß gehoben, seine Aufmerksamkeit nicht auf den Prinzen gerichtet hatte. Der Mann, mit dem ihr Vater sie vermählen wollte, schien perplexer Reglosigkeit verfallen. An seiner Identität konnte allerdings kein Zweifel gehegt werden. Selbst wenn sie nie ein Porträt von ihm gesehen hätte, wäre spätestens die abenteuerlich geschnittene rote Kleidung ein eindeutiges Indiz gewesen. Was dachte sich der Verbrecher dabei, nun schon das zweite Monarchen-Kind an Bord festzuhalten? Fasziniert beobachtete Koryphelia, wie alle an Deck gebannt zurückblickten. Keine sinnvolle Erklärung wollte ihr einfallen, wie sie es geschafft hatten, dass das andere Schiff zurückblieb. Kanonen waren gefeuert worden und garstige Schreie hatten ihr Ohr erreicht. Dennoch schienen weder Schiff noch Besatzung zu Schaden gekommen zu sein, während die Verfolger fort waren. Welch seltsame Wendung.

Erst als Machairi sich ihm zuwandte kam wieder Leben in den Prinzen. Mit einer schnellen Bewegung kam er elegant auf die Füße und die Prinzessin erwischte sich dabei, ihn ganz genau zu mustern. Dieser Mann sollte also ihr Gatte werden. Äußerlich, so musste sie zugeben, hätte sie sich nicht beschweren können. Zedian war ein hübscher junger Mann, wenn er auch etwas verschreckt dreinblickte. Die Sache, die das beobachtende Mädchen spontan am ärgsten störte, war jedoch das Alter ihres Versprochenen. Zwar war er jung genug, um sich guten Gewissens als junger Mann bezeichnen zu können, doch er war mit Sicherheit älter als die Diebe und der Schatten selbst, der ihn noch immer genaustens beobachtete. Koryphelia sollte an ihrem sechzehnten Geburtstag heiraten und dieser Mann war knapp zehn Jahre älter. Vermutlich sollte sie dankbar sein, dass es nicht noch mehr waren. Angenehm wurde der Gedanke dadurch nicht.

Der Prinz zog sein Schwert und machte einen Schritt zurück. Die Klinge blitzte im hellen Licht der Sonne und richtete sich auf Machairi. Grothia ließ die Knöchel knacken und der Rest wich hastig ein ganzes Stück zurück. Nur der Messerdämon regte sich nicht. Ruhig, als bekäme er einen Blumenstrauß anstelle einer geschliffenen Klinge entgegengestreckt, stand er da und musterte Zedian.

Langsam schien der zukünftige Sultan seinen Schreck zu verarbeiten und legte ein würdevolleres Verhalten an den Tag. »Ich habe nicht geglaubt an Geschichten von Dämonen.« Die Stimme hatte er gesenkt und das verstärkte seinen Akzent. Doch rätselhafterweise machte dies seine Worte wirkungsvoller. »Es waren gute Menschen auf diesem Schiff!« Wut zeichnete die gleichmäßigen Züge des Harethi und er stieß sein Schwert erstmals in die Richtung seines Gegenübers.

Als sei es das Selbstverständlichste der Welt wich Machairi aus. Er drehte sich nur leicht zur Seite, sodass das Schwert ins Nichts traf. Keine seiner Bewegungen zeugte von Hektik oder auch nur von Eile. Eine Prinzessin sah viele Menschen kämpfen. Koryphelia hatte es sogar genossen, Trainingskämpfen zuzusehen, doch hatte sie noch nie jemanden so leichtfertig elegant ausweichen sehen. »Sie wird sie nicht töten … nicht absichtlich.« In seine Gleichgültigkeit mischte sich eine Spur von Amüsement. »Sie braucht von Zeit zu Zeit Unterhaltung.«

Koryphelia sah sich in einer unangenehmen Situation: Sie hatte nicht die geringste Vorstellung, worum es gehen konnte. Alles, was sich ihren Augen bot, war ein Prinz, dem die Wut das Blut ins Gesicht trieb. Nur schwer war es zu sehen unter der dunklen Haut, doch für jemanden, der so ungestört beobachten konnte wie die Prinzessin, die noch immer auf der Treppe stand, war es dennoch zu erkennen. »Bástardo«, presste Zedian tonlos hervor und ausnahmsweise waren sich ihre Sprachen ähnlich genug, dass es keiner Fremdsprachenkenntnis bedurft hätte, ihn zu verstehen.

»Leider nicht«, antwortete der Dämon beiläufig, weiteren Schwerthieben geschmeidig ausweichend. Es war geradezu schön anzusehen. Wie ein beeindruckender Tanz oder ein mitreißendes Schauspiel. Die sauberen und geübten Kampfschritte des Prinzen wirkten dagegen hilflos und dilettantisch.

»Wehr dich, Dämon«, forderte Zedian. Man konnte der Wut zusehen, wie sie ihn überrollte und vereinnahmte, einen Menschen aus der Ruhe brachte, der sich sonst selten aufregen ließ. Mit ihr kehrte der Leichtsinn ein und ließ den fremden Mann die Warnungen in den Wind schlagen, die seine Geschichten beinhaltet haben mussten. »Ich werde nicht der nächste Gefangene auf diesem Schiff sein!« Blankes Metall schnitt durch die Luft und verfehlte den Schatten wieder und wieder. Gelegentlich sah es gar so aus, als fahre die Klinge tatsächlich durch einen Schatten, so schnell bewegte sich ihr Ziel zur Seite.

Wie die Kämpfenden sich drehten, erhaschte die Prinzessin erstmals einen Blick auf die Züge des Cecilian und fuhr im Halbdunkel der geöffneten Luke zusammen. Abgrundtief schwarze Augen musterten den fremden Prinzen mit eisiger Kälte, die selbst Koryphelia durch Mark und Bein fuhr. Er war furchteinflößend. »Es gibt keine Gefangenen.« Ein bedrohlicher Unterton durchwob das feine Geflecht der Melodie, die er seine Stimme nannte.

»Ich … bin nicht … freiwillig hier!« Äußerst peinsam stockte der Prinz beim Sprechen, weil er nun mehr Kraft in seine Hiebe fließen ließ und gleichzeitig mit der fremden Sprache kämpfte. Koryphelia schob die Luke etwas weiter auf, um besser sehen zu können, während sie gebannt das Geschehen verfolgte.

An dieser Stelle hörte der Schatten auf, nur auszuweichen. Mit einer Geschwindigkeit, dass ein Blinzeln ausgereicht hätte, um es zu verpassen, entwand er dem Prinzen das Schwert, griff an seinen Kragen, zog ihm die Beine fort und kippte ihn über die Reling, dass der Harethi kopfüber über dem Meer hing. Fest umklammerte der weiße Handschuh den kostbaren Stoff der Gewänder des Prinzen, der sich bedenklich unter seinen Fingern spannte. »Ein Wort und ich mache deine Rettung vorm Ertrinken gerne rückgängig.«

Energisch stieß Koryphelia die Luke auf und trat an Deck. Heirat oder nicht, sie konnten Hareths Prinzen nicht einfach ins Meer werfen. Möglichst würdevoll trat sie heran und straffte die Schultern. »Bitte zieh ihn wieder hoch«, sprach sie den Schatten an. Sie hatte ihr ganzes Leben in der Nähe furchteinflößender Männer verbracht, auch wenn Machairi dem Wort eine neue Bedeutung verlieh.

»Solltest du nicht unter Deck sein?«, antwortete er ruhig, ohne die Prinzessin eines Blickes zu würdigen. Er schien nicht gewillt, ihrer Bitte nachzukommen.

»Keine Gefangene, nicht wahr?« Haltung zu bewahren, war nun entscheidend. So auffordernd, wie sie konnte, schaute sie den Schatten an. Noch immer ruhte sein Blick auf Zedian, der unruhig atmend noch mit dem Schreck zu kämpfen schien, während er äußerst hilflos über der Reling hing.

Doch nun fand auch der zukünftige Sultan seine Stimme wieder. »Schon gut!«, stieß er hervor. »Auf eine gesittetere Unterhaltung.« Wundersamerweise schien es, dass er seinen Wunsch erfüllt bekam, denn Machairi zog ihn zurück an Bord.

Hastig brachte der Prinz Abstand zwischen sich und den Schatten und richtete seine Kleider, bevor sich die haselnussbraunen Augen auf Koryphelia richteten. »Prinzessin Koryphelia?«, erkundigte sich der junge Mann nach einer kurzen Pause verbindlich und senkte den Kopf kurz, während er ihr das breiteste Lächeln, das er in dieser Situation aufbringen konnte, schenkte.

Erstmals seit sie den fremden Mann erblickt hatte, wurde ihr wirklich klar, was für eine Bedeutung dieser Mensch in ihrer Zukunft spielen sollte. Der Gedanke hatte zuvor über ihr gehangen wie ein aufziehender Sturm, doch nie hatte sie in letzter Konsequenz realisiert, was das bedeutete. Es schlug nun auf sie nieder und sie musterte den Mann, mit dem sie ihr Leben verbringen sollte, ganz anders. Sich ihrer Manieren erinnernd deutete sie einen Knicks an und nickte. »Sehr erfreut, Liègi«, antwortete sie. Nur weil die Bienen beschlossen hatten, die Höflichkeit zu ignorieren, musste sie das nicht auch tun.

Er schmunzelte und erwiderte ihre Geste mit dem Hauch einer Verbeugung. »Dieser … Mann«, es machte deutlich den Anschein, als habe ihm ein anderes Wort auf der Zunge gelegen, als er auf Machairi deutete, »behauptet, Ihr wäret freiwillig hier?« Skepsis zeichnete Worte und Züge des Harethi. Einen Augenblick haderte die Prinzessin. Die Umstände entsprachen nicht unbedingt dem, was sie sich erhofft hatte, als sie Machairi um Hilfe gebeten hatte. Dennoch konnte sie nicht behaupten, dass sie ernsthaft versucht hätte, sich zur Wehr zu setzen, und im Grunde war genau erreicht, was sie wollte. Außerdem wollte sie nicht wissen, was Machairi tun würde, wenn sie ihm in den Rücken fiel. »So kann man es in der Tat ausdrücken, Liègi.« Ein verbindliches Lächeln zierte ihre Züge. In ihrem Inneren schien sich etwas verknotet zu haben wie eine ungeschickte Schlange, doch die Fassade hielt.

»Warum, Prinzessin, solltet Ihr hier sein wollen?« Echte Sorge klang aus seinen Worten. Sorge, so vermutete sie, um ihren Verstand. Oder er glaubte, dass man sie zwang, dem Schatten zuzustimmen. War doch die Realität so viel komplizierter und weniger freundlich. Sollte sie ihm sagen, dass sie versucht hatte, der Hochzeit mit ihm zu entgehen? Würde er die zahlreichen Gründe verstehen, die sie veranlasst hatten, einen Brief an einen berüchtigten Verbrecher zu schreiben? Als sie nicht direkt antwortete, wandte sich der Prinz wieder Machairi zu. »Wieso wagt Machairi, eine Prinzessin zu entführen?« Sein Tonfall war nicht so vorwurfsvoll, wie zu erwarten gewesen wäre, und er vermochte es, sich erstaunlich überzeugend zu Diplomatie durchzuringen. Möglicherweise verspürte der Fremde nicht das Bedürfnis, erneut kopfüber über dem Meer zu hängen. Tatsächlich war der Gedanke dahinter Koryphelia bereits selbst mehrfach gekommen: Was hatte Machairi davon, ihr zu helfen?

399
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968 стр. 47 иллюстраций
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9783754940136
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