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Eliette Abécassis
Die Verstoßene
Eliette Abécassis
Die Verstoßene
Roman
Aus dem Französischen von
Sarah Dornhof
CEP Europäische Verlagsanstalt
© e-book Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2014
ISBN 978-3-86393-524-5
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Für meine Schwester
Emmanuelle
1.
Heute bin ich sechsundzwanzig. Es sind fast zehn Jahre, die ich mit Nathan verheiratet bin. Meine Schwester Naomi ist zweiundzwanzig. Sie ist eine junge, zierliche Frau mit langen braunen Haaren, olivfarbener Haut und schmalen, mandelförmigen Augen. Sie ist zweiundzwanzig, und es ist Zeit für sie zu heiraten. Nur ist sie in keinen Chassiden verliebt. Sie liebt Yacov, der unser Viertel verlassen hat, und sie liebt ihn seit sie sechzehn ist. Es ist Zeit zu heiraten, und Yacov ist es, den sie heiraten möchte, er ist es, der ihr Herz gewonnen hat. Aber hier wollen sie ihn nicht mehr, denn er ist zur Armee gegangen. Der Rabbi sagt, es sei eine Schande, diesem Land zu dienen, das zu nennen er sich weigert, denn er weigert sich, seine Existenz anzuerkennen, vor der Ankunft des Messias.
Wir wohnen in Jerusalem, aber in Wirklichkeit sind wir nicht dort. Wir sind woanders. Wir sind nirgends. Wir sind in Mea Shearim. Das ist ein Viertel zwischen der alten und der neuen Stadt mit niedrigen Häusern, ineinander verschlungenen Höfen, unendlich vielen Eingängen, Durchgängen, die kaum einer kennt, kleinen Zimmern, Mansarden und Kellern, schmiedeeisernen Balkonen, Räumen, Höfen, geheimen Nischen. Kommt herein, kommt zu uns, ihr werdet die Chassidim sehen, eiligen Schrittes, in den Jeschiwas, wo man nachts studiert, den Tag und wieder die Nacht. Kommt doch rein, seht die Männer mit den Schläfenlocken, den Gebetsmänteln und den schwarzen Bärten. Kommt herein, den Kopf bedeckt, aber kommt rein, denn hier tritt man immerfort ein, von Hof zu Hof, von Flur zu Flur, von einem Laden zum nächsten, kommt herein, und ihr werdet hinter den Spiegel dieses Landes springen, dessen Namen man nicht auszusprechen wagt. Dabei sind wir mitten in Israel, im Zentrum Jerusalems, nahe dem Damaskustor und des arabischen Viertels in der Altstadt. Also, kommt herein, und vielleicht wird die Zukunft euch gehören, wie uns, wenn ihr die Begeisterung erlebt, und dann werdet ihr vielleicht erfahren, warum die Welt erschaffen wurde. Es ist ein Geheimnis, daß nur die entdecken können, die eintreten, gemeinsam, Sand und Meer, in diese unsere große Familie. Kommt herein und seht: wir sind alle gleich mit unserer dunklen Kleidung, unserem geschäftigen Gang und vor allem unseren Augen, Sterne, müde vom Wachen Nacht um Nacht.
Unsere Augen, die sich senken, wenn sie einen Blick streifen, haben so viel gelesen, und sie wissen, daß unser Leben woanders ist, in den kleinen, vollen Straßen, in den verschachtelten Höfen, den engen Gassen und langen Häuserfluchten. Hundert Tore hat unsere Festung, die man zu öffnen bereit sein muß. Hier gibt es sie noch, die Schneider, und die Schreiber schreiben, und die Schlachter schlachten, und die Beschneider beschneiden, und die Perückenmacher fertigen Perücken, und die Hut- und Mützenmacher stellen Hüte her, aber nicht um zu verkaufen, sondern um sich zu ernähren, um zu überleben, denn wir sind arm vor dem Ewigen. Kommt herein, wenn ihr den schwarzgekleideten Mann sehen wollt. An der Tür seines Hauses befindet sich eine Rolle, die er küßt, unter seiner Kleidung ein Gebetsschal, auf seinem Kopf ein Hut, vor ihm eine Dynastie, hinter ihm eine Schar von Kindern. Versteckt in den Gängen und geheimen Toren seiner Seele, so ist er, der Chassid.
Hier, bei uns, heiratet man nicht aus Liebe. Man heiratet dank des Heiratsvermittlers. Die Liebe stellt sich nach Jahren des geteilten Lebens ein, den Kindern und all dem Alltäglichen, das Bindungen zwischen den Geschöpfen knüpft. Deshalb habe ich meinen Mann vor unserer Hochzeit nie gesehen. Als ich ihn jedoch das erste Mal erblickte unter dem weißen Zelt der Brautleute, bebte der Boden unter meinen Füßen, und ich war ergriffen. Ich wußte nicht, ob es Angst war oder starke Erregung. Später habe ich verstanden: für mich war mein Erstgeborenes die Liebe.
2.
Alles war von einem Vermittler arrangiert worden, der mir eine Fotografie von dem Mann gegeben hatte, den ich heiraten würde. Ein oder zweimal hatte ich ihn am Telefon gesprochen. Wir hatten einige Worte gewechselt. Seine Stimme war schön, ernst und tief, ihr Klang sinnlich. Alles übrige erledigte Yossef, der Gehilfe des Rabbi. Es brauchte keine drei Monate, um die Sache zum Abschluß zu bringen.
Die Synagoge war voller Menschen. In der Mitte des Raumes hatte man ein Zelt errichtet. Die Chassidim mit ihren Hüten und Schläfenlocken gingen rein und raus. Einige setzten sich, warteten. Andere beteten, sich nach rechts und nach links wiegend. Die Frauen waren nicht zu sehen: sie hielten sich hinter der Holzwand auf, die sie von den Männern trennt. Mein Bräutigam und ich wurden unter das Zelt geführt.
Das erste, das ich von ihm kennenlernte, war ein feiner, gebogenen Finger, der den Ring auf meinen Finger schob. Dann sah ich eine Lippe, die in den Weinbecher eintauchte, den wir teilten. Man wickelte ein Glas in ein Tuch, und mit einem Fußtritt zerbrach der Rabbi es, so will es der Brauch, im Gedenken an die Zerstörung des Tempels.
Dann hob ich den weißen Schleier, der mein Gesicht verdeckte, und ich drehte mich siebenmal um meinen Mann. Ich schlug die Augen zu ihm auf. Ich sah Augen von dunklem Schein, hohe rötliche Wangenknochen, einen schmalen Mund, purpurfarben wie der Granatapfel. Er war groß und stattlich wie eine libanesische Zeder. Er war schön wie der Mond, strahlend wie die Sonne.
Schweigen trat ein. Alle verstummten. Der Rabbi erhob sich von seinem Sitz und ging in die Mitte der Synagoge. Er hatte einen langen grauen Bart und schwarze stechende Augen. Seine Körperfülle hatte mit den Jahren zugenommen, er war nicht sehr groß, aber von ihm ging eine solche Aura aus, daß alle Blicke sich ihm zuwandten und alle verstummten, wenn er einen Raum betrat.
»Wenn ein Mann und eine Frau heiraten«, sagte der Rabbi, »können sie endlich als vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft betrachtet werden. Denn der Mensch ist nach dem Bild Gottes geschaffen, daß heißt, er ist männlich und weiblich. Deshalb ist die Ehe ein göttliches Gebot, und das Zölibat ein Vergehen gegen das göttliche Bild im Menschen. Erst durch die Ehe gelangt der Mensch zur Vollkommenheit und zum Jenseits, die die Ankunft des Messias möglich machen. Du, Nathan, und du, Rachel, wir erwarten von euch eine zahlreiche Nachkommenschaft, so zahlreich wie die Sterne am Himmel.«
So sprach der Rabbi bei meiner Hochzeit mit Nathan, meinem Ehemann.
Dann begannen die Chassidim zu tanzen. Hin und wieder erhoben sich leidenschaftliche Rufe. Die Chassidim tanzten zusammen, einer am anderen, wobei ihre Körper in unbändigem Takt wogten. Mitunter löste sich einer aus der Gruppe und bewegte sich allein inmitten des Kreises.
Eine Holzwand trennt die Männer von den Frauen. Wir sind hinten, aneinandergedrückt beobachten wir die Männer. Wir tanzen nicht. Ich sah ihre Gesichter, ich hörte die Rufe der Tänze und die Unruhe und Freude, die sie ausdrückten. Mein Blick mischte sich unter die Stimmen in der Nacktheit der Silben, die Melodie tanzte, rollte und sang, ohne Worte, ohne die Fesseln der Worte, und dieses Schweigen umhüllte mein Schweigen.
Der Mann, der vor mir tanzte, versuchte durch weite und langsame Bewegungen seinen Gefährten zu beeindrucken, bis sie schließlich gemeinsam zum Rhythmus tanzten, immer schneller und schneller, und ich sah ihn an, ich konnte meine Augen nicht lösen von dem berauschten, dem entrückten Tänzer: Nathan, mein Mann, die Augen geschlossen, vom Tanz ergriffen, geblendet von Seiner Anwesenheit, und ich sah ihn an, ich war da, folgte jeder seiner Bewegungen, atmete jeden seiner Atemzüge, keuchte jeden seiner Luftstöße, gab mich ganz dem Rhythmus seines Körpers hin. Und er sah mich an, und ich sah ihn, wie er mich ansah, und ich vereinte mich in Gedanken mit ihm, und wir waren durch den Tanz vereint, bis wir in der Ekstase einen einzigen Körper bildeten, und der Hauch Gottes über uns war.
3.
Dieser Raum ist unser Zimmer. Das eigentliche Zimmer, wo sich Nathans Bett, ein Schrank, ein Sessel und ein Schreibtisch befinden, und dann dieser kleine Alkoven, in dem ich mich eingenistet habe. Ich mag diesen Raum mit den weißen Steinen, der an die Tempelmauer erinnert.
Morgens sehe ich ihn seine schwarzen Strümpfe überziehen, seine schwarzen Hosen, ich sehe ihn seine Schuhe zubinden, seinen Mantel anziehen. Er setzt den großen Filzhut auf den Kopf, und dann ist er bereit. Manchmal folge ich ihm bis zur Synagoge, darauf achtend, hinter ihm zu gehen, um ihn nicht abzulenken. Ich liebe es, seinen Körper zu sehen, wie er von vorn nach hinten und von hinten nach vorn wippt, mit Ernst und Eifer. Ich liebe es, ihm zuzusehen, wie er seine Gebetsriemen anlegt. Ich liebe es, ihn zu beobachten, wenn er das letzte Gebet liest, das individuell und leise gelesen wird, mit geschlossenen Füßen und das Gesicht der Westwand zugewandt.
Ich liebe es, für ihn zu kochen. Ich liebe die Art, wie er das Essen ißt, das ich für ihn zubereitet habe, mit Appetit und Bestimmtheit. Ich kenne jeden Winkel seines Mundes. Ich kenne seinen Geschmack: ich weiß, was er mag und was nicht. Ich weiß, daß er nach dem Essen gern einen Kaffee ohne Zucker trinkt. Ich liebe es, wenn er sich beim Essen unterhält, sei es, daß er bestimmte Texte erinnert, die er am Morgen studiert hat, oder über Leute aus der Gemeinschaft spricht. Manchmal beobachte ich ihn so begierig, daß er zusammenzuckt. Ich betrachte ihn. Ich erforsche mich in seinem Blick. Meine Augen sind blau-grau, und ich habe kurzgeschnittenes schwarzes Haar, das ich unter einem Tuch verberge. Meine hohe Stirn ist von feinen Fältchen durchzogen. Als ich klein war, fielen meine langen schwarzen Haare in Locken, wie seine Schläfenlocken. Als ich heiratete, habe ich begonnen, ein Kopftuch zu tragen. Die verheirateten Frauen sollen keinem anderen als ihrem Ehemann gefallen. Deshalb zeigen sie ihr Haar nicht und kleiden sich unauffällig. An den Füßen trage ich flache, geschlossene Schuhe, meine Beine, in dicke Strümpfe gehüllt, sind unter langen Röcken verborgen. Ich bete, ich bereite den Sabbat vor und befolge alle Gesetze der rituellen Reinheit.
Mein Mann studiert in der Jeschiwa, und ich arbeite bei meinem Onkel als Buchhalterin. Vor dem Schaufenster des Ladens meines Onkels sehe ich immerzu Kinder vorbeigehen, verträumt oder frech, schelmisch oder brav, und Schläfenlocken umrahmen ihre blassen Gesichter. Jugendliche sind in schwarze Kaftane aus glänzender Seide gekleidet, über Hosen aus Satin haben sie um die Taille Kordeln gebunden; junge Mädchen tragen Schultertücher, die Beine verschwinden unter ihren Röcken, die Knöchel stecken in Wollstrümpfen.
So leben wir, so haben wir zehn Jahre lang gelebt, mein Mann und ich, bis zu dem Tag, da sich alles veränderte.
Es war am Vorabend des Sabbat, wir saßen am Tisch. Mein Mann tunkte das Brot in das Salz für den rituellen Segen. Dann nahm er ein kleines Stück Brot und aß es. Er biß die Lippen zusammen, rührte den Fisch nicht an, den ich ihm serviert hatte. Er sah auf den Teller, Fisch und Tomaten, ohne zu essen.
Ich fragte:
»Was hast du, Nathan. Warum ißt du nicht?«
Er senkte die Augen, seine Wimpern begannen zu zittern. Er begann zu essen, langsam. Die beiden Tischleuchter standen vor uns, leer, die Kerzen waren zuvor niedergebrannt.
»Das solltest du nicht, Rachel«, sagte er. »Du solltest nicht diese geheimen Treffen zwischen deiner Schwester und Yacov organisieren. Noch dazu im Laden deines Onkels.«
»Naomi und Yacov lieben sich, seit Jahren. Auch wir lieben uns seit Jahren...«
Nathan antwortete nicht.
»Ich erkenne deine tiefsten Gedanken«, sagte ich.
»Was erkennst du?«
»Ich sehe, daß du leidest. Du fragst dich, ob wir nicht fehlen. Deine Freunde sind bereits alle Väter von drei oder vier Kindern. Die Leute aus der Gemeinschaft verachten uns, die anderen Schüler verspotten dich, verspotten mich. Du willst ein Kind, Nathan, du willst einen Sohn. Wenn eine Frau nach zehn Jahren Ehe keine Kinder hat, hat ihr Mann das Recht, sie zu verstoßen.«
»Das Recht«, antwortete Nathan. »Nicht die Pflicht.«
Ich stand auf, öffnete den Herd. Ich nahm die Schüssel. Ich brachte sie. Ich tat Nathan, meinem Mann, auf. Dann sah ich ihn an. Er begann zu essen, langsam. Hin und wieder schob er mit einem Stückchen Brot etwas auf die Gabel. Dann hörte er auf zu essen und lächelte mir zu. Er schien entspannter, befreit von einem Gewicht, das auf ihm gelastet hatte. Er nahm meine Hand, wir standen auf. Wir gingen zum Alkoven.
Er setzte sich auf den Rand des Bettes, zog die Schuhe aus, rollte die Strümpfe herunter. Er glitt unter die Decke. Er zog das Laken hoch. Sein schwarzer Bart hob sich vom Weiß des Lakens ab. Er rückte seine Kippa auf dem Kopf zurecht, schloß die Augen. Dann öffnete er sie wieder und sagte:
»Komm!«
Später bereitete ich einen Tee und brachte ihn meinem Mann ans Bett. Er öffnete die Augen, seine Lippen bewegten sich, um den Segen über den Tee zu sprechen. »Gesegnet seist Du, der Du alles geschaffen hast durch Dein Wort.« Dann erhob er sich, zog sich wieder an, nahm die biblischen Bücher. Er schlug den Buchdeckel des Pentateuch auf und öffnete das Buch des Talmud. Mit einem Blick bedeutete er mir, mich zu entfernen. Weit hinter mir tanzten schwarze Buchstaben auf den vergilbten Seiten. Ich setzte mich auf einen Stuhl in der Küche. Ich hörte aufmerksam: mein Mann las.
»Am nächsten Tag setzte sich Moses, um dem Volk Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und die Menschen liefen zusammen und versammelten sich um Moses, von morgens bis abends.«
Ich kannte diese Geschichte und alle Kommentare. Mein Vater hatte sie mich gelehrt als ich Kind war. Ja, ich kannte diese Geschichte. Sie spielt am Tag nach Kippur, an dem Tag, als Moses vom Berg herabstieg...
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