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2.5. Zusammenfassung der Vorgehensweise

Wie schon aus der erfolgten Darstellung verschiedener theoretischer Zugänge deutlich wurde, wird in dieser Arbeit auf den Einsatz einer großen Theorie verzichtet. Im Umgang mit den übersetzten Texten des europäischen Mittelalters, den geistigen Erzeugnissen ihrer jeweils spezifischen literarischen, soziokulturellen und politischen Dimension, erweist sich ein Theorienpluralismus als gewinnbringend, um den Fragen nach den einzelnen Aspekten des Transfers, der Ent-Kontextualisierung und schließlich der Domestizierung tradierter Konzepte, Ideen, Werte und Weltbilder nachzugehen. Die vorgestellten Konzepte der New PhilologyNew Philology, des Kulturtransfers, der Translation Studies und der PolysystemtheoriePolysystemtheorie sowie des kulturellen Gedächtnisses stellen keine abgeschlossenen, ubiquitär applizierbaren Theorien dar. Kritisch reflektiert, auf die Spezifika der jeweils zu untersuchenden Zeiträume und Kontexte hin modifiziert, bieten sie einen neuen, produktiven Zugang zu den Textzeugnissen, die uns – abseits der kryptischen philologischen Textkritik – Auskunft über die Bedingungen und Modi ihres Transfers und ihrer Rezeption geben können, wie über mögliche Auswirkungen des Transfers und ihre Rolle bei der Gestaltung neuer literarischer Formen.

Die für die vorliegende Studie relevanten Konzepte bzw. deren Anwendung sind stark rezeptionistisch angelegt. Der philologische Ansatz der New PhilologyNew Philology korreliert mit der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung des Kulturtransfers sowie der PolysystemtheoriePolysystemtheorie. Gemeinsam ist den theoretischen Konzepten der Fokus auf die erhaltenen Texte als Produkte von komplexen dynamischen Prozessen. Die Abkehr von der Idee eines Archetyps, eines Originals oder einer Ausgangskultur, deren Reproduktionen in einem anderen Kulturraum aufgrund der vielfachen Modifikationen als defizitär beschrieben würden, vereint die theoretischen Annäherungen an die altostnordischen Texte. Dabei handelt es sich nicht um eine bloße Akkumulation verschiedenster Ansätze. Während die New Philology eine Dezentrierung des Textbegriffs fordert und die Unfestigkeit mittelalterlicher Texte betont, fokussiert sich die Polysystemtheorie dezidiert auf die Übersetzungen und deren Funktionen im neuen literarischen System. Den großen Bogen vom Frankreich des 11. Jahrhunderts bis nach Schweden und Dänemark im späten Mittelalters bildet das methodologisch offene Konzept des Kulturtransfers. Dieser ergänzt die eben genannten Theorien hinsichtlich der Identifizierung diskursiver Vorgänge in der Aufnahmekultur, welche den Transfer, d.h. die Übertragungen von altfranzösischen Heldengedichten begünstigt haben. Das ursprünglich auf die Dekonstruktion der Idee eines Nationalstaates hin entwickelte Konzept wird mit einigen grundsätzlichen Modifikationen auf den Transfer von chansons de geste übertragen. Diese Geschichten, deren Ursprünge im Verborgenen liegen, wurden zunächst mündlich überliefert, so die Epenentstehungstheorie, bevor sie seit dem 11. Jahrhundert schriftlich fixiert wurden,1 und sind größtenteils in französischen und anglonormannischen SammelhandschriftenSammelhandschrift des 13. und 14. Jahrhunderts überliefert – sie sind also bereits Bearbeitungen der verlorenen Originaltexte. Die für diese Untersuchung primär interessante, da in altnorwegischen, altschwedischen und altdänischen Bearbeitungen erhaltene Chanson de RolandRoland ist in ihrer ältesten und berühmtesten Form in der um die Mitte des 12. Jahrhunderts entstandenen sog. Oxforder Handschrift2 überliefert, die auf den Text vom Ende des 11. Jahrhunderts zurückgeht. Ähnlich ist die Situation der altostnordischen Überlieferung dieses und einer Reihe weiterer Texte: Sie sind allesamt in Sammelhandschriften des 15. Jahrhunderts enthalten. Hier greift der Ansatz der New PhilologyNew Philology mit der radikalen Abkehr von einer Fokussierung auf das verlorene Original, das es wiederherzustellen gilt. Mit der erklärten prinzipiellen Unfestigkeit, der mouvance mittelalterlicher Texte sind alle Textzeugen gleichberechtigt und stellen unterschiedliche Lesarten dar. In Übereinstimmung mit der Forderung Glausers nach der Revision des Textbegriffs werden die übersetzten Texte als „Intertexte in einem literarischen Feld“3 verstanden – dies gilt auch für die altfranzösischen chansons de gestechansons de geste, die als Vorlagen für die ostnordischen Bearbeitungen fungieren. Gemäß dem kanonisierten Status der chansons de geste für das kollektive Gedächtnis Frankreichs, allen voran der Chanson de Roland, werden diese Texte im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nach den von Aleida Assmann aufgestellten Kriterien Identitätsbezug, Rezeptionsverhalten, Kanonisierung sowie Überzeitlichkeit als kulturelle Texte behandelt.

Welche Konsequenzen ergeben sich jedoch beim Transfer kultureller heldenepischer Texte in einen fremden Literatur- und Kulturraum, der über ein anderes kollektives Gedächtnis und ein differierendes Sagengedächtnis verfügt? Freilich kommt man nicht umhin, auch die Ausgangstexte in ihrer synchronen Überlieferung miteinzubeziehen. Hier wird zunächst ein prüfender Blick in die romanistische Forschung zu zentralen Fragenkomplexen, gattungsrelevanten Merkmalen und der Position der ausgewählten chansons de gestechansons de geste im Hinblick auf ihre Funktion im franko-romanischen Literatursystem nötig: Kann man hier von einer zentralen Position der schon früh kanonisierten Chanson de RolandRoland ausgehen, während andere, jüngere Texte, wie der für diese Untersuchung ebenfalls relevante Voyage de Charlemagne à Jerusalem et à Constantinople, der parodistische Züge abseits der typisch heldenepischen Karlsverehrung trägt, womöglich in der Peripherie anzusiedeln sind? Die Funktionsbestimmung der chansons de geste, ihre Position im eigenen literarischen System in chronologisch differierenden Phasen lässt sich mit Hilfe des funktionalistischen Ansatzes der PolysystemtheoriePolysystemtheorie im ersten Teil der Untersuchung feststellen. Mit der zielsprachigen Orientierung der Polsystemtheorie korrelieren auch der Ansatz des Kulturtransfers sowie Bourdieus Reflexionen im Hinblick auf die transnationale Ideenzirkulation – sie sind allesamt nicht dem „Primat des Ausgangsfeldes“4 verpflichtet, sondern werden kontextunabhängig transferiert. Es sind die strukturellen Faktoren im Aufnahmefeld bzw. -system, welche die Domestizierung der transferierten Texte gemäß einer internen Logik bestimmen. Diese strukturellen Faktoren in den neuen Aufnahmesystemen, dem schwedischen und dem dänischen, gilt es zu identifizieren. Hierfür werden synchron-überlieferungsgeschichtliche Kontextualisierungen vorgenommen: Die erhaltenen Texte werden als Intertexte in ihrer unmittelbaren kodikologischen Nachbarschaft auf die interne Logik der SammelhandschriftenSammelhandschrift Cod. Holm. D4Cod. Holm. D4, Cod. Holm. D4aCod. Holm. D4a (Fru Märtas Bok), Cod. Holm. D3Cod. Holm. D3 (Fru Elins Bok), AM 191 fol.AM 191 fol. (Codex Askabyensis) sowie der Børglumer Handschrift Vu 82Cod. Holm. Vu 82 hin analysiert. Die Tatsache, dass die hier behandelten Texte in Sammelhandschriften erhalten sind, ist in vielerlei Hinsicht wichtig, ist doch davon auszugehen, dass die Kompilatoren dieser mittelalterlichen Anthologien mit Bedacht unterschiedliche Genres und Textformen zusammenstellten, profane wie religiöse. Die Dynamik einer solchen Sammelhandschrift kann laut Ad Putter auf dreifache Weise ausgelegt werden: kodikologisch („as an aspect of the history of manuscript production“5), strukturell („as an effect of the miscellany’s internal organization“) und diachron („as belonging to a crucial transitional phase in the history of a book“). Sowohl die Wahl der Texte als auch ihre Gruppierung erfolgten vor dem Hintergrund einer anzunehmenden internen Logik, einer Art „fil rouge“,6 die man hinter den kompilatorischen Intentionen vermutet. Jeder Text einer Sammelhandschrift sollte daher „both in its own right and as an actor of an inter-textual dialogue within the anthology“7 gelesen und interpretiert werden. So wird anhand der fünf Handschriften eine polysystemische Funktionsbestimmung innerhalb des kodikologischen Subsystems erreicht.

Um der Frage nach der Position der Texte um Karl den Großen im altschwedischen und altdänischen Literatursystem nachzugehen, wird eine weitere Kontextualisierungsebene beschritten. Hierfür werden die politischen und kulturellen Entwicklungen im schwedischen bzw. dänischen Kulturraum zum Zeitpunkt der angenommenen Entstehungszeiträume der konkreten Handschriften präsentiert. Ausgehend von der These, Übersetzen sei eine politisch motivierte Aktivität und bedrohe die dominanten ideologischen und kulturellen Werte einer Gesellschaft durch „introducing a new semiotics of cultural signification, bringing into a receptor culture elements of an ideological framework which has been developed in an alien context“,8 können die übersetzten Texte als Reaktion auf die zeitgenössische historische und politische Entwicklung hin gelesen und interpretiert werden: Dienen die dominanten Modelle und Diskurse der altfranzösischen Texte zur Stärkung der eigenen Herrschaftsideologie? Stellen sie idealisierte Verhaltensnormen für die schwedische und dänische Aristokratie dar, ist das Interesse an diesen Stoffen der allgemeinen Entwicklung geschuldet, so etwa der Ritterrestauration in Dänemark des 15. Jahrhunderts? Die Bearbeitung der Fragen muss Objekt von Interpretationen bleiben, handelt es sich doch hierbei um fiktive, artifizielle Texte, für deren Einfluss auf die Gesellschaft und Politik dank der fragmentarischen Überlieferungslage nur wenige Evidenzen ausgemacht werden können. Dennoch erscheint auch dieser extrakodikologische Blick auf die Texte lohnend, da dieser eine weitere Lesart initiieren kann.

Anschließende Analysen der erhaltenen Texte der altostnordischen Karlsdichtung soll im Hinblick auf die zuvor erarbeiteten, in den altfranzösischen chansonschansons de geste vorherrschenden Motive, Diskurse und Bilder die Frage nach der Übersetzbarkeit kultureller Texte beantworten. Ohne das korrelierende franko-romanische Sagengedächtnis verlieren die chansons ihren kanonisierten Status als Subjekt und zugleich machtvolles Speichermedium des kulturellen Gedächtnisses; ihre gattungsdistinktiven Elemente werden entsprechend den Bedingungen des ostnordischen literarischen Systems transformiert, um durch Adaption neuer Formen ein möglichst dynamisches, homogenes System zu erreichen. Auch die Techniken der Domestizierung der übertragenen Werte, Normen und Diskurse aus den altfranzösischen Epen werden in Übereinstimmung mit ihrer Kompatibilität mit dem sie aufnehmenden literarischen System zu bestimmen sein: Sollen die chansons innovatorisch wirken, indem sie näher an der Originalsprache bleiben, oder sind die Innovationen zu radikal, so dass eine Integration ins einheimische Literatursystem misslingt? Durch die sorgfältige Textanalyse wird man die Frage beantworten können, wie die transferierten Texte an den neuen kulturellen Horizont adaptiert werden, ob es sich hierbei um Übertragung, Nachahmung oder eine Form der produktiven Rezeption handelt, um mit dem Vokabular des Kulturtransferforschers Lüsebrink zu sprechen.

Die Analyse der zu untersuchenden Texte aus den fünf oben genannten Handschriften wird sich schrittweise der Beantwortung der eher allgemein formulierten Fragestellung nach dem Transfer heldenepischer Texte in den ostnordischen Kulturraum annähern, indem die zentralen Motivkomplexe der chansons de gestechansons de geste in den ostnordischen Bearbeitungen vor dem Hintergrund der intra- und extrakodikologischen Wirklichkeiten beleuchtet werden. Hierfür wurden folgende Themenkomplexe gewählt: Die universelle Bedrohung der christlichen Welt durch die Heiden wird an vielen einschlägigen Stellen in den chansons de geste, natürlich insbesondere in der Chanson de RolandRoland, aber auch in der Chanson d’Aspremont, in einer propagandistischen Weise narrativ umgesetzt – implizit durch die Darstellungen der ‚Andersgläubigen‘ und ihrer Idole und explizit durch gelehrte Dialoge als Verfahren christlicher Sinnstiftung. Wie gingen die ostnordischen Bearbeiter mit diesen Bildern um, musste doch die ostnordische Literatur im späten Mittelalter kein Legitimationsangebot der Kreuzzugsideologie darstellen? Finden sich in den einschlägigen Textstellen weitere Ausführungen, relativierende Aussagen, Innovationen und unabhängige Entwicklungen oder fügen sich auch die ostnordischen Übertragungen in die westeuropäische Tradition der überwiegend abwertenden Haltung dem Anderen gegenüber? Welche Funktionen übernehmen die Sarazenen in der volkssprachigen Literatur Schwedens und Dänemarks?

Ein weiterer Themenkomplex widmet sich dem Thema nach der Dependenz von Gender und Genre. Heldenepik exemplifiziert eine literarische Tradition, geboren aus der Krise einer bedrohten Feudalgesellschaft und ist als ein weitgehend exklusives maskulines Universum aufzufassen, in dem die Frauen aus dem genrebezogenen Wertesystem ausgeschlossen werden – Gaunt spricht hier von einer „monologic masculinity“.9 Geht man jedoch davon aus, dass die heldenepischen Texte auf dem Weg ins ostnordische literarische System ihre Genre-Grenzen öffnen, ihre Adaptation also nicht an Genre-Konventionen gebunden ist und man durchaus höfisierende Tendenzen voraussetzen kann, wie es schon in der altwestnordischen Kompilation Karlamagnús saga ok kappa hansKarlamagnús saga ok kappa hans der Fall war: Öffnen sich hier zugleich auch Räume für andere Umgangsformen in der Gestaltung der weiblichen Protagonisten der chansonschansons de geste? An dieser Stelle werden einschlägige Textpassagen auf ihr Potential hin überprüft, durch Aufhebung der traditionellen Genrebeschränkungen andere, innovative Konstruktionen der monologischen MaskulinitätMonologische Männlichkeit und Feminität in Interdependenz mit den Genretransformationen zu kreieren.

Im Hinblick auf die Frage nach dem Identitätsbezug kultureller Texte spielt die Gestalt des Ogier le DanoisHolger Danske (dän.: Holger Danske), aus dem Zwölferbund Karls des Großen, eine wichtige Rolle für die Funktionsbestimmung der übersetzten Texte im neuen literarischen System. Dieser literarische Einwanderer, von dem die ältesten historiographischen Werke wie Svend Aggesens Brevis Historia Regum Daniae oder Saxos Gesta Danorum schweigen,Holger Danske10 kann namentlich bis auf die Chanson de RolandRoland zurückverfolgt werden. Seine Genese als dänischer Nationalheld nimmt ihren Anfang in der altwestnordischen Bearbeitung der chanson und wird in den altostnordischen Übersetzungen fortgesetzt. Schließlich erlangt die Figur des Holger Danske eine eigenständige Existenz, auch über seine Zugehörigkeit zum Zwölferbund Karl des Großen hinaus, über die dänischen Balladen und Volkslieder parallel mit Dänemarks Verlust an historischer Bedeutsamkeit.11 Liegen die Wurzeln der Konstruktion eines Nationalhelden bereits in Karl Magnus und Karl Magnus Krønike? War dem Übersetzer/ Redaktor bei der Übersetzung eines Dänen zurück in seine Heimat die historische Dimension seiner Adaptation bewusst und inwiefern unterscheidet sich das entworfene Bild von Holger Danske in der altdänischen Krønike von dem im Karl Magnus? Wurde dem Helden Ogier le Danois in den Übersetzungen mehr Handlungsraum eingeräumt als in den altfranzösischen Texten? Wurde nicht nur die Übersetzung selbst, sondern die Wahl der zu übersetzenden Texte entsprechend der polysystemischen Prämisse politisch und gesellschaftlich determiniert? Auch hier wird die Analyse zentraler Textpassagen die weiter oben aufgeworfenen Fragen nach der Funktion und Rolle eines eingewanderten (National-)Helden beantworten.

Steht die literarische Gestalt Ogier le DanoisHolger Danske noch im Lichte der Funktionalisierung im Dienste eines lokalen, einheimischen Identitätsbezugs, so stellt die Figur Karl des Großen als eine der Schlüsselfiguren im europäischen kulturellen Gedächtnis ein ungleich mächtigeres Identifikationsangebot dar, gilt er doch als der universale, von Gott auserwählte Krieger im Dienste des Christentums. An dieser Stelle sei vor einer Pauschalisierung gewarnt: Die chansons de gestechansons de geste haben in ihrer Entwicklung als Genre vielfältige, nicht nur positive Karlsbilder produziert. Die narrative Identitätskonstruktion eines Herrschers kann im Hinblick auf die zeitgenössische politische Situation erfolgt sein. Vermittelt höfische Literatur Normen und Werte, an denen sich die Aristokratie orientieren soll, kann der große Herrscher mittels narrativer Verfahren idealisiert oder auch kritisiert werden. Welche Transformationen erlebt Karl der Große auf seinem literarischen Weg in den Norden? Kann man hier von einer Hagiographisierung Karls des Großen sprechen, wie es in der deutschen chanson de geste-Rezeption der Fall war? Spielt das benachbarte autochthone Sagengedächtnis der altwestnordischen Heldenepik eine Rolle bei der Umsetzung der chansons de geste, hatte man doch mit Olav dem Heiligen eine aus dem benachbarten Kulturraum stammende Identifikationsfigur? Oder lassen sich die vielen schablonenhaften Kampfszenen auf eine Profanisierung der Geschichten zugunsten einer stereotypen Massakerästhetik zurückführen? Wie ist die Figur Karls des Großen vor dem Hintergrund der Regentschaft Eriks von PommernErik von Pommern, dem alleinigen Herrscher der Kalmarer UnionKalmarer Union von 1412–1439, Karls VIII. Bonde sowie Christians I. zu interpretieren?

Die Auswertung der zuvor erläuterten Themenkomplexe wird vor dem theoretischen Hintergrund schließlich zur Beantwortung der Frage nach dem Transfer kultureller Texte – denn, wie einleitend erklärt, werden die chansons de gestechansons de geste in der vorliegenden Studie als solche aufgefasst – in den ostnordischen Kultur-und Literaturraum beitragen. Die als vom Übersetzer intentional angenommenen Transformationen lassen sich mit den Erkenntnissen verknüpfen, die aus den Studien der kodikologischen sowie historischen und gesellschaftlichen Kontextualisierungen gewonnen werden. Auf diese Weise wird die Frage nach der Position der übersetzten chansons de geste im literarischen System Schwedens und Dänemarks des 15. Jahrhunderts beantwortet. Mit dieser Fragestellung korreliert auch die Frage nach der Gattungstransformation, wie aus den ursprünglichen geste de France mit Hilfe der europäisch-peripheren altwest- und vor allem altostnordischen Bearbeitungen geste d’Europe entstehen konnten.

3. Historischer Kontext

Translation is a cultural phenomenon produced by individuals with a certain personality as well as an agenda and it is closely linked to the political and often economic or personal situation of the translator.1

Der Transfer der Gattung chanson de geste in den altnordischen Raum unterlag, wie alle anderen Gattungen auch, stets wandelnden sozialen, politischen und religiösen Faktoren der aufnehmenden Kulturen. Den theoretischen Prämissen der PolysystemtheoriePolysystemtheorie folgend, müssen bei der Analyse der Funktionen der übersetzten Werke, ihrer Positionierung in den neuen literarischen Systemen ebenso außersystemische Determinanten berücksichtigt werden. Zum einen sind dies die linguistischen und ästhetischen Normen, die für die Übersetzungen, im mediävistischen Kontext somit auch stets Reinterpretationen, ausschlaggebend sind. Zum anderen sind es vor allem die politisch-historischen und soziokulturellen Kontexte, deren Einbeziehung sowohl die Positionierung als auch das Gesamtverständnis der Texte ermöglicht. Im Folgenden wird daher die historische Situation der jeweiligen Kulturräume skizziert, die die Übersetzungen der altfranzösischen Stoffe ermöglicht und beeinflusst hat.

3.1. Norwegen und norwegischer Hof

Die übersetzten riddarasögurriddarasögur, zu denen auch die Karlamagnús saga ok kappa hansKarlamagnús saga ok kappa hans gehört, die als Hauptvorlage der altostnordischen Karlsdichtung gilt, sind ein wichtiges Zeugnis für die Interaktion zwischen Herrschaft, Kultur und Literatur im Norwegen des 13. Jahrhunderts.1 Als Initiator für Übertragungen der höfischen Literatur ins Norwegische gilt Hákon IV. Hákonarson (1204–1263, Regierungszeit 1217–1263), der mit 13 Jahren von den Birkenbeinar, den Gegnern der sogenannten Bagler im norwegischen Bürgerkrieg, zum König gewählt wurde.2 Zwar musste er sich am Anfang seiner Herrschaft gegen andere Thronanwärter und auch seinen Vormund Skúli Bárðarson behaupten sowie seine königliche Abstammung nachweisen, in seiner Regierungszeit galt er jedoch bis zu seinem Tod als ein kluger und zurückhaltender Herrscher. Von Matthäus Paris, einem bedeutenden Geschichtsschreiber im Benediktinerkloster St. Albans in England, der sich in den Jahren 1248–1249 in Norwegen am Hof Hákons in Bergen und im Kloster Niðarhólmr aufhielt, wird er zudem als bene litteratus bezeichnet.3 Zu seinen innen- und außenpolitischen Errungenschaften zählen u.a. die Etablierung eines dauerhaften Friedens, Regelung der Thronfolge nach festen Regeln auf Grundlage des Erstgeburtsrechts und Erweiterung seines Herrschaftsbereiches auf Island und Grönland.4 Desweiteren ließ er viele Kirchen und Klöster bauen.

Das überlieferte Urkundenmaterial aus Hákon Hákonarsons Regierungszeit zeigt deutlich, dass wirtschaftliche und diplomatische Allianzen mit vielen europäischen Monarchien dieser Zeit, unter anderem mit Dänemark, Frankreich, Deutschland und England, von norwegischer Seite initiiert wurden. Hákons Bestreben war es, sein Reich nach dem Vorbild der führenden europäischen Reiche zu formen, und so pflegte er intensiven Kontakt zu Herrschern wie beispielsweise dem deutschen Kaiser Friedrich II.Þiðreks saga af Bern5 Das gute Verhältnis zwischen den beiden wird in der Hákonar saga Hákonarsonar betont, die als wichtige Quelle zu Hákons Leben und Wirken angesehen wird.6 Einen weit intensiveren Kontakt hatte Hákon jedoch zum englischen König Heinrich III., mit dem er Briefe und Geschenke austauschte. In seiner prosopographischen Untersuchung der reisenden Skandinavier in Europa zwischen 1000 und 1250 stellt Dominik Waßenhoven fest, dass die Hälfte aller Reisen, die die Norweger in dieser Zeit unternahmen, nach England führten.7 Dies ist zum einen durch die Intensivierung der Handelsbeziehungen, zum anderen durch das freundschaftliche Verhältnis zwischen Hákon und Heinrich III. zu erklären. Bis nach Tunesien sollen Hákons Gesandte gekommen sein, um dem Sultan preisgekrönte Falken zu überreichen. Der Höhepunkt seiner Allianzen mit den kontinentaleuropäischen Königshöfen wurde mit der Heirat seiner Tochter Kristín und des Bruders des spanischen Königs, Don Felipe, erreicht.riddarasögur8

Durch Kontakte zu anderen europäischen Höfen, vor allem aber zum anglonormannischen Königshof, kam Hákon auch mit der höfischen Literatur in Berührung. Von ihm stammt der Impuls für deren Übersetzungen ins Norröne: Als 22-Jähriger ließ er im Rahmen seiner Kulturpolitik den altfranzösischen Stoff um Tristan und Isolde von Bruder Robert übersetzen. Auskunft darüber gibt die Saga selbst.9

Die überaus produktive Übersetzungstätigkeit in Hákons Zeit umfasste literarische Stoffe aus den Bereichen der chansons de gestechansons de geste, matière de France, matière de Bretagne sowie der romans dʼaventure. Diese stellten im Kontext der Sagaliteratur erhebliche Innovationen dar: Sie machten das norwegische Publikum mit den „avanciertesten Formen und den neuen narrativen und rhetorischen Mitteln des höfischen Versromans“10 vertraut. Diese Initiation des norwegischen Publikums in die europäische feudal-höfische Kultur wird als eine der zentralen Übersetzungsintentionen angesehen. Eine weitere liegt in der didaktischen Funktion dieser Texte: Das neu eingeführte Hofzeremoniell und die feudalen Titel, die Hákon seinen Gefolgsmännern verlieh, bedurften einer Orientierungsgrundlage. Während das didaktische Moment bei den übersetzten Werken höfischer Literatur in der Forschung noch kontrovers diskutiert wird, etwa bei Ingvil Brügger Budal, wenn sie schreibt: „om det didaktiske aspektet i verka er spegla i dei norrøne omsetjingane er eit ope spørsmål“,riddarasögur11 so gelten didaktische Absichten eines anderen wichtigen literarischen Werkes aus Hákons Umfeld, nämlich der Konungs skuggsjá, in der Forschung als bestätigt.12 Hier sind die Parallelen zwischen den Bestrebungen des norwegischen Königs beim Aufbau einer höfischen Gesellschaft nach europäischem Vorbild und deren Verankerung in seiner literarischen Tätigkeit erkennbar, so dass man auch in den übersetzen riddarasögurriddarasögur durchaus erzieherische Elemente erkennen kann. Obgleich es Hákon nur zum Teil gelingen konnte, Norwegen zu einer feudalen Gesellschaft zu formieren, so lieferten die importierten Rittergeschichten eine ideologische Grundlage für die neue aristokratische Gesellschaft, die sich an bestimmten Idealen der Tugend, Ehre, Liebe und Ritterlichkeit orientieren sollte.

Hákon IV. Hákonarson repräsentiert einen neuen Herrschertypus des 13. Jahrhunderts: Als gebildeter und weitblickender Mann schaffte er es, neben den positiven innenpolitischen Ereignissen wie Konsolidierung Norwegens und Etablierung dauerhaften Friedens, Norwegen gegenüber kontinentaleuropäischen Einflüssen zu öffnen, um so das norwegische Publikum mit den zentralen literarischen Figuren und Thematiken Kontinentaleuropas vertraut zu machen. Obwohl seine Kulturagenda auch harschen Urteilen ausgesetzt war – als Beispiel dient Hans E. Kincks Essay Storhetstid, in dem Hákons Übersetzungspolitik als „oppløysningsfenomen“13 bezeichnet wird, stellen die literarischen Adaptionen dieser Zeit ein herausragendes Beispiel für den kulturellen Austausch zwischen unterschiedlichen Gesellschaften und Kulturen dar. Dass die literarischen Übertragungen der altfranzösischen und anglonormannischen höfischen Dichtung in Norwegen und später in Schweden und Dänemark nicht nur passiv rezipiert wurden, sondern im neuen Umfeld auch weitergeführt und so zur Entstehung einer neuen Gattung der Märchensagas beigetragen haben, entspricht dem, was zuvor als Kulturtransfer definiert wurde: eine produktive Adaption und Reproduktion des Importierten im neuen sozialen und kulturellen System. Als Initiator dieses Kulturtransfers in Norwegen des 13. Jahrhunderts steht eben jener norwegische Herrscher Hákon Hákonarson mit seiner Kulturpolitik.

Auch wenn die Karlamagnús sagaKarlamagnús saga ok kappa hans aufgrund ihrer Herkunft aus der heldenepischen Tradition als solche keinen genuinen ritterlich-höfischen Roman darstellt, so ist nach Susanne Kramarz-Bein im Hinblick auf das Rezeptionsmilieu die Zugehörigkeit zum Umfeld des norwegischen Hofes und kulturellen Milieu Hákons Hákonarson evident. Hierfür spricht zum einen die Datierung der nicht vollständig erhaltenen, aber ursprünglicheren α-Redaktion auf das Jahr vor bzw. um 1250Þiðreks saga af Bern14 als auch der intensive Gebrauch von literarischen Modewörtern der übersetzten riddarasögurriddarasögur, so dass die Saga zumindest auf lexikalischer Ebene Züge der übersetzten höfischen Literatur trägt.Þiðreks saga af Bern15 Unter dieser Prämisse ist es daher nachvollziehbar, dass die Frage nach dem Übersetzungs- und Aufzeichnungsinteresse der Karlsepik im altwestnordischen bzw. altnorwegischen Literatursystem mit dem Potenzial dieser Texte, ein „literarisches Identifikationsangebot“16 für Hákon Hákonarson zu liefern, beantwortet werden kann.

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