Читать книгу: «Jeder des anderen Feind», страница 3

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»In nicht mal einem Monat haben sich Bottrop und Gladbeck in Vineta verwandelt«, prophezeite er. »Dann werden fünf Millionen auf Wanderschaft sein.«

»Zurück zu unseren Problemen hier«, forderte ich. »Was ist mit den Evakuierungen?«

»Nun, sie bauen im Brandenburger Umland Notquartiere auf. Überall da, wo sich Verkehrsknotenpunkte befinden: Autobahn, Wasserstraßen, Kleinstflugplätze …«

»Ich verstehe. Das vereinfacht den Transport, nicht wahr?«

»Vor allem vereinfacht es die spätere Versorgung.«

»Was hat das Wasser- und Schifffahrtsamt damit zu tun?«

Er sah mich mit dem Blick eines Lehrers an, der irritiert darüber ist, dass sein Schüler nicht mal die einfachsten Zusammenhänge kapiert.

»Allein in Gropiusstadt hausen 38 000 Leute. Das ist fast die Größenordnung von Pribjat. Als dort der Reaktor hochging, brauchten die Russen für die Evakuierung zwei Tage. Aber die hatten tausend Busse, über hundert LKWs und mehrere Sonderzüge. Die Straßen waren frei, das Schienennetz funktionierte und es gab ein sicheres Umland. Hier herrschen ganz andere Zustände. Die Schienen sind mit liegengebliebenen E-Zügen verstopft, die Stellwerke funktionieren nicht, die Weichen müssten über die gesamte Strecke festgeschraubt werden. Die Verkehrsleitsysteme sind ohne Strom, die Tunnel ohne Licht. Trotzdem wollen die das Ganze in drei Tagen durchziehen.«

»Drei Tage? Du lieber Himmel!«

»Du gestattest?« Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern bediente sich gleich von meinem Teller.

»Tja, Realitätssinn war noch nie die Stärke der Politik«, fuhr er kauend fort. »Die Köpfe in den Wolken, ohne das geht’s bei ihnen nicht. Aber Gedanken haben sie sich schon gemacht, das muss man ihnen lassen.«

Er wischte sich die Finger an der Serviette ab und griff wieder nach der Zigarette. »Wenn man die Kanäle dazu zählt,kommt man in Berlin auf zweihundert Kilometer Wasserstraßen. Durchgehend frei, man muss nur die Schleusen kontrollieren. Rechne nach: Hundertfünfzig Fahrgastschiffe, die rein rechnerisch knapp zehntausend Leute auf einen Schlag transportieren können. Was übrig bleibt, geht mit Bussen ab.«

»Und die Reedereien machen da freiwillig mit?«

»Sicherlich nicht aus schierer Menschenfreude. Aber sie kriegen Diesel für die Hilfe. Und später, wenn das große Aufräumen losgeht, winken großzügige Entschädigungen. Da wird man doch gern zum Patrioten.«

»Erzähl mir lieber, was das alles mit deinem Auftrag zu tun hat.«

Milton schnippte eine Aschenflocke in seine leere Tasse. »Tja, da gibt’s nicht viel zu sagen. Wir schippern auf einem der Flüsse zum Flugplatz und nehmen dabei eine Inspektorin vom Wasserstraßen-Amt mit. Wegen des Sonnensturms haben die wohl immer wieder Funkprobleme, also sagen sie sich: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.«

»Warum erledigt das nicht die Wasserschutzpolizei?«

»Vergiss es, das sind Oldtimer. Die Boote, die gerade nicht in der Werft liegen, sind seit Tagen ununterbrochen im Einsatz.«

Die Flamme seines Feuerzeugs züngelte, als er sich eine neue Zigarette ansteckte. In einer wirren Vision sah ich uns beide in einer Höhle vor einem Lagerfeuer hocken wie zwei Jäger eines urzeitlichen Stammes, der eine Treibjagd plant.

»Rechnet der Senat denn mit Problemen?«, wollte ich wissen. »Warum fährt diese Inspektorin nicht allein in ’nem Tretboot den Fluss runter? Das ist die brandenburgische Provinz, nicht das Herz der Finsternis.«

»Ist halt so ne fixe Idee von Windisch. Reine PR, wenn du mich fragst. Als wir allein waren, sagte er zu mir: Es liegt in unserem Interesse, im Angesicht der Krise unsere Daseinsberechtigung zu beweisen.«

Ja, dieser geschraubte Tonfall sah Windisch ähnlich. Der Auftrag klang nach langweiliger Routine. Aber gut, das sind Wach- und Sicherungseinsätze häufig.

Milton sprach weiter, aber ich hörte nicht mehr richtig zu. Meine Augen wanderten über seine schon grau werdenden Haare. Er hatte seinen Zenit überschritten. Wie ich. Wie die anderen Reservisten, denen ich auf den Lehrgängen begegnet war. Die meisten waren in einem Alter, wo man sich in seinem Leben mehr oder weniger eingerichtet hatte. Sie hatten Jobs, eine Familie, einen Alltag. Und doch musste ihrem Leben irgendwas fehlen. Vielleicht verspürten sie Langeweile angesichts des Trotts. Vielleicht fühlten sie, dass das, was sie im Zivilleben taten, keinen Sinn ergab. Vielleicht suchten sie nach Herausforderungen, nach mehr Verantwortung, nach etwas, was größer war als sie selbst. Vielleicht suchten wir alle ein anderes, ein besonderes Leben.

Der Oberst von der zivil-militärischen Zusammenarbeit wollte eine Existenzberechtigung für seine Truppe, Herold einen Helden, wie ihn die Zeit gerade so nötig zu brauchen schien und Milton einen Auftrag, bei dem er Gelegenheit bekam, seine heiligen Werte des Kapitals zu schützen. Jeder suchte irgendetwas. Und jeder wollte im Grunde das Gleiche: Anerkennung.

Nun gut. Ich gab mir einen Ruck. Herold sollte seinen Helden bekommen. Ich würde den Job annehmen, von dem er geredet hatte. Ich würde Milton begleiten, Geschichten sammeln und über Helden schreiben. Vor allem aber würde ich endlich aus dem Mief rauskommen – ein bisschen herumreisen, ein bisschen Action erleben und alles gewürzt mit dem Salz des Pathos, des Gerechten und Wahren.

Am Ende bekam ich mehr von all dem, als gut für mich war.

Wenn er eine Reise macht, versieht er sich mit Waffen und sucht zu seinem Schutz eine sichere Begleitung. (…) Dabei weiß er doch, dass es Gesetze gibt und Männer, deren Pflicht es ist, ihn für jedes nur mögliche Unrecht mit Waffengewalt zu rächen. Thomas Hobbes, Leviathan

Zweites Kapitel
Dienstag, 24. Juli, Abend bis Morgendämmerung

An der Kreuzung vor uns eilten Tankwagen und die Fahrzeuge des THW, der Feuerwehr und der Energiekonzerne vorbei. Sie hatten Vorrang – noch vor der Polizei oder den zivilen Blechkisten mit aufgesetztem Blaulicht, mochten deren Fahrer hinter den Frontscheiben auch schimpfen und gestikulieren. Die Verkehrsposten ließen sich davon nicht beeindrucken; sie hatten ihre Befehle.

Es waren Bilder und Töne aus etwas, was wir noch eine Woche zuvor als Dritte-Welt-Land bezeichnet hätten. Eine allgegenwärtige Gereiztheit lag in der Luft, wie ein Sirren, das mir bis unter die Schädeldecke drang. Vielleicht waren es doch die Auswirkungen des Sonnensturms. Obwohl sämtliche Wissenschaftler behaupteten, dass dies unmöglich war. Aber auch Wissenschaftler können irren. Eigentlich gehört der Irrtum ja zu ihrem Handwerkszeug.

Als wir das Ende der Oberbaumbrücke erreicht hatten, stieß mich Milton an und deutete durch das Seitenfenster des Wagens. Auf den Gehwegen unter dem Brückengewölbe lagen dunkle Gestalten in Decken und Kokons aus Thermofolie gehüllt. Sie sahen aus wie Tote. Es mussten hunderte sein. Für einen Moment stockte mein Atem. Dann bemerkte ich, wie sich eine der Gestalten aufrichtete, erblickte Rucksäcke, Koffer, Taschen und Einkaufstüten. Ein Junge, ein Kind noch, starrte zu uns herüber und strich sich zähnefletschend mit dem Daumen über die Kehle. Obdachlose, dachte ich. Gestrandete. Milton hatte davon gesprochen.

Doch nicht das war es, was er mir zeigen wollte. Ich folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger weiter mit den Augen.

An einer Hauswand prangte Street-Art, einen Riesen mit weit aufgerissenem Mund darstellend. Das Bild wirkte grob, wie von einem Kind gemalt. Als wir näher ran waren, entpuppten sich die Pinselstriche als ein Gewimmel nackter Menschen. Das Maul des Riesen war eine schwarze Höhle, geformt aus sich aneinanderklammernden rosafarbenen Winzlingen. Eine einzelne Figur balancierte auf dem ausgestreckten Zeigefinger des Ungeheuers, augenscheinlich darum bemüht, nicht verschlungen zu werden.

Ich erinnerte mich, irgendwo was darüber gelesen zu haben, und kramte in meinem Gedächtnis, bis es mir wieder einfiel.

»Leviathan«, sprach ich leise vor mich hin.

»Was meinst du?«, fragte Milton.

»Das Gemälde«, erklärte ich, »es heißt Leviathan. Stammt von ›nem Künstler namens Blur.«

»Klingt nach ’nem Froschfresser«, brummte der Mann auf dem Platz am gegenüberliegenden Fenster, der mich an eine jüngere Ausgabe des Schauspielers Peter Lohmeyer erinnerte. Vor allem wegen seiner hemdsärmeligen Art und weil er beim Sprechen näselte. Auf seinem Brustschild hatte ich den Namen Scharon gesehen. Er schaute kurz auf und widmete sich dann wieder seiner Lektüre.

Was er las, ließ sich im Halbdunkel nicht ausmachen. Aber ich wäre jede Wette eingegangen, es war ein Heftroman. Einer von der Sorte, die angeblich authentische Soldatengeschichten versprach. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, als er in der Kaserne einen ganzen Stapel davon aus seinem Spind in den Rucksack packte. Der Landser, Schicksale deutscher Schiffe, Fliegergeschichten – auf den Scheiß fuhr er völlig ab. Wenn man sah, was er sich alles an reaktionärem Nationalkitsch reinzog, hätte man meinen können, einen pubertierenden Sechzehnjährigen vor sich zu haben. Dabei verrieten die ausgeprägte Glatze und der graue Vollbart, dass er einer der Ältesten unter uns war.

Ich ließ meinen Blick über die anderen wandern. Im Fahrzeug war es so eng, dass sich unsere Knie berührten.

Aus der Spiegelung der Scheibe blickte mir Aslans hageres Raubvogelgesicht entgegen. Er war eine Sportskanone, durchtrainiert bis zur letzten Faser, dabei lang und schmal wie eine Pappel. Er lachte oft und gern. In seine Wangen hatten sich Grübchen gegraben. Seine Schlagfertigkeit imponierte mir. Zumal sein Humor nie bösartig war.

Neben ihm saß Kubiak. Ich kannte ihn erst seit wenigen Stunden, aber sein Ordnungsfimmel war mir sofort aufgefallen. Er hatte irgendeine Zwangsstörung, die ihn dazu trieb, Dinge symmetrisch auszurichten. Dieser Perfektionismus konnte einen zur Verzweiflung treiben, wenn er in der Kaserne minutenlang an irgendwelchen Falten an den Gardinen herumzupfte, bis sie exakt waagerecht hingen. Oder wenn seine Augen nervös über einen wanderten und sich an einem schräg sitzenden Koppel oder nicht perfekt ausgerichteten Kragen stießen. Darin war er schlimmer als jeder Kasernen-Spieß in meiner Grundausbildung.

»Ich frag mich bloß, wie der es schafft, über ’n Supermarktparkplatz zu laufen, ohne beim Anblick schief parkender Autos wahnsinnig zu werden«, hatte Aslan die Eigenheit des Kameraden kopfschüttelnd kommentiert.

Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder der Außenwelt zu. Das Bild des gefräßigen Riesen verfolgte mich, bis wir daran vorbei waren. Die Metapher war deutlich. Ich hatte vor Jahren Hobbes‹ Buch gelesen, in dem er die Gesellschaft mit einem Ungeheuer verglich, dem biblischen Leviathan, der von einem starken Staat gezähmt werden müsse. Es war der Alptraum eines jeden Liberalen, der aber in den letzten Jahren den Umfragen und Wahlergebnissen zufolge wieder zunehmend Akzeptanz gefunden hatte.

Ein paar hundert Meter weiter mussten wir wieder halten. Jemand klopfte an die Scheibe. Ein Schwall Luft, in dem Brandgeruch lag, drang in den Wagen, und ich hörte, wie jemand zum Fahrer sagte: »Ihr könnt nicht weiter. Da vorne ist Vollsperrung.«

Milton beugte sich vor. »Was ist passiert? Ein Unfall?«

»Stress«, sagte die Stimme. »Eine Tankstelle. Die kapieren einfach nicht, dass die Zapfsäulen keinen Strom haben. Die randalieren da schon seit Stunden. Arschlöcher!«

Die Tür wurde zugeschlagen.

»Was sagt das Navi?«, fragte Milton den Fahrer.

»Das Scheißding zeigt alles mögliche an, nur nicht wo genau wir sind. Die Satelliten haben wohl ne ordentliche Strahlendusche abgekriegt.«

»Scheiß drauf, der Osthafen muss in der Nähe sein«, sagte Milton. »Vielleicht ein Kilometer oder zwei. Zu Fuß sind wir schneller.«

Wir stiegen aus und formierten uns. Ich blickte auf, als ich das Rumoren von Hubschraubern hörte. Eine Staffel von fünf Helikoptern flog in der Dämmerung in einiger Höhe vorbei. Ich sah ihnen nach, bis mich Milton anstieß. »Penn nicht! Wir müssen los.«

Im Gewirr der Straßen hatte ich bald die Orientierung verloren. Milton schien sich jedoch hier auszukennen. Mal lotste er uns durch ruhige Nebenstraßen und über schmale Fußgängerbrücken, dann durch einen dunklen Tunnel von Bäumen, die sich scherenschnittartig gegen den Himmel abhoben. Irgendwann waren wir wieder auf der Hauptstraße. Die zerklüfteten Silhouetten der Dächer und Schornsteine zeichneten das düstere Panorama einer mittelalterlichen Stadt. Vereinzelt flackerten Lichter in den Fenstern, und zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir bewusst, dass Häuser nichts anderes sind als Höhlen. In Felsen gehauene Steinzeithöhlen, bewohnt von Urmenschen.

Meine Uhr zeigte an, dass es längst Nacht war. Trotzdem wurde es nicht dunkel. Über den Himmel wehten Vorhänge aus grünen und violetten Lichtern. Es ist schon Ironie: Seit Jahrtausenden haben wir die Dunkelheit gefürchtet. Finsternis war eine Metapher für Gefahr, für Unwissenheit, Licht für Wissen, Fortschritt, Sicherheit. Und jetzt stand die Katastrophe im Zeichen von Nächten, die hell genug waren, dass man noch mit einiger Anstrengung ein Buch oder eine Zeitung hätte lesen können.

»Jetzt schaut euch bloß mal das an …«

Kubi war stehengeblieben und zeigte zu einem Dach hinauf, auf dem sich die Schattenrisse von Menschen gegen den brennenden Himmel abzeichneten. Sie hielten die Arme ausgebreitet und schwenkten Bengalos und Wunderkerzen wie Fans bei einem Fußballmatch. Ich hörte Rufe und die Fetzen von Gesang.

Etwas schlug vor uns auf dem Gehweg auf. Wir sprangen zur Seite, als Glassplitter durch die Luft segelten.

Scharon fluchte. »Ich würde den Scheiß-Yuppies am liebsten ’ne Feier machen, von der sie sich nicht mehr erholen.«

»Weitergehen!«, sagte Milton. »Das ist nicht unsere Party.«

Ich nahm an, der Fluss müsste irgendwo links von uns liegen. Sicher war ich mir nicht. Wir ließen die dunkle Masse eines Fabrikgebäudes hinter uns – und da sah ich ihn, eine verschwommene, grün und lila schillernde Straße, an deren Rändern Boote dicht an dicht lagen. Ich erblickte Lastkähne neben Barkassen, ein paar Schubkähne und Ausflugsboote von einem halben Dutzend Reedereien.

Wir suchten eine gute Viertelstunde herum, ehe wir das Schiff fanden. In Natur wirkte die Calypso noch eine Spur eindrucksvoller als auf dem Flyer, den mir Milton im Dingo in die Hand gedrückt hatte. Ich schätzte die Länge auf etwas weniger als vierzig Meter und die Höhe über der Wasserlinie auf vielleicht drei Meter. Am Bug verunzierten mehrere hässliche und augenscheinlich frische Schrammen den Anstrich. Der Aufbau am Heck musste das Steuerhaus sein.

Wir wurden bereits erwartet. Eine schmale Gestalt lehnte mit aufgestützten Unterarmen an der Reling. Ich hielt sie der kurzen Haare und des glatten Gesichts wegen zuerst für einen jungen Mann.

»Hab mich gefragt, wann Sie’s endlich finden.« Die Stimme war dunkel, rau, aber unverkennbar weiblich. »Sie sind zweimal vorbei gegangen.«

»Warum haben Sie uns nicht angerufen?«, wollte Milton wissen.

»Ich war neugierig, ob Sie’s schaffen«, gab sie zurück. »Himmel, dachte ich, so blind kann man doch nicht sein. Fünf Kerle und keiner kommt auf die Idee zu fragen?«

»Ich bitte Sie!«, flachste Aslan. »Sie wissen doch, dass Männer nie nach dem Weg fragen. Liegt in unseren Entdecker-Genen.«

»Wohl eher am männlichen Stolz. Na, jetzt haben Sie mich zum Glück ja entdeckt«, sagte sie nachsichtig. »Ich bin Carmen Weber.«

»Freut mich, Frau Weber«, sagte Milton. »Wo finden wir Ihren Mann?«

Ich nahm die Andeutung eines Achselzuckens im Zwielicht vor mir wahr. »Versuchen Sie es mal auf Sylt. Jedenfalls hat er vor einem Jahr von dort eine Karte geschickt.«

»Dann Ihren Vater.«

»In Weissensee. Auf dem Friedhof.«

Sie wartete, bis bei Milton der Groschen fiel.

»Sie sind der Kapitän?«

»Bei uns sagt man schlicht Schiffsführerin. Falls Sie einen graubärtigen Seebären mit Schiffermütze und Pfeife im Mund erwartet haben, muss ich Sie enttäuschen. Ich bin Eignerin, Matrose und Maschinistin des Motorkabinenbootes Calypso. Sprüche über Frauen am Steuer können Sie sich also getrost verkneifen.«

Milton schien sich zu sagen, hier wäre ein offenes Wort angebracht. »Frau Kapitän, Frau Eignerin, Ihre Eminenz oder wie auch immer Sie angesprochen zu werden wünschen. Wir haben nicht erst seit gestern Frauen in der Bundeswehr.«

»Na wie schön für Sie.« Die Hände aufs Geländer gestemmt, ließ sie ihre Blicke über unseren Trupp schweifen. »Und das ist also die tapfere Streitmacht, die uns vor dem Bösen schützen soll.«

»Frau Weber«, sagte Milton, »ich hab keinen Schimmer, was für furchtbare Filme Sie übers Militär gesehen haben. Aber wir sind erstens nicht die Nazi-Wehrmacht – schon lange nicht mehr – und zweitens nicht im Krieg, sondern auf dem Weg zu einem humanitären Einsatz, der uns …«

»Bewaffnet?«, unterbrach sie ihn.

Aha, daher wehte also der Wind. Offenbar hatten wir eine waschechte Pazifistin vor uns. Da hatte es nun bei unserer Ausbildung vollmundig geheißen, wir wären »Multiplikatoren«, Vermittler zwischen Armee und Zivilleben. Das Zivilleben schien die Vermittlung bitter nötig zu haben. Bisher multiplizierte sich nur die Abneigung gegen uns.

»Jetzt halten Sie mal bitte den Ball flach, ja?«, sagte Milton. »Wir sind Soldaten. Dachten Sie, wir rücken mit Faustkeilen und Keulen an? Eine bewaffnete Gesellschaft ist eine höfliche Gesellschaft.«

Ich merkte an ihrem angriffslustig gereckten Kinn, dass es ein schlechter Anfang war. Sie widersprach sofort und mit Nachdruck. »Eine bewaffnete Gesellschaft ist vor allem eine unsichere Gesellschaft.«

»Für die bösen Jungs auf jeden Fall«, hörte ich Scharon neben mir knurren.

Milton hob eine Hand. »Wir sind Reservisten. Ganz normale Staatsbürger in Uniform. Aslan arbeitet bei einer Versicherung, Outis hat Bücher geschrieben, Kubi ist Handwerker. Aber keine Sorge. Selbst der hat inzwischen gelernt, beim Essen Messer und Gabel zu benutzen.« Scharons Affinität zu kitschiger Kriegsliteratur erwähnte er taktvollerweise nicht.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würden wir jetzt gerne an Bord kommen und unseren Auftrag erfüllen. Ich verspreche Ihnen auch, dass wir keine Massaker an unschuldigen Zivilisten anrichten.«

»Na kommen Sie schon.« Die Schifferin gab den Weg frei.

Als ich das Deck erklomm, passierte etwas Merkwürdiges. Eine Kraft schien meine Bewegung zu hemmen, wollte mich zurück an den Steg ziehen. Ich bin kein abergläubischer Mensch. War es nie gewesen. Erst recht nicht nach Majas Tod. Doch für einen Augenblick richteten sich meine Nackenhaare auf und unter dem Hemd brach mir der Schweiß aus. Dann war der Moment vorbei, der Bann gebrochen. Ich redete mir ein, ich wäre nur mit einem Teil meiner Ausrüstung irgendwo hängen geblieben.

Eine zweiflügelige Tür führte vom Oberdeck in einen mit dunklem Holz getäfelten Salon. An den Wänden glänzten Messingbeschläge. Ein Kronleuchter hing von der Decke. Die Tische und Stühle wirkten in ihrer nüchternen Strenge fehl am Platz. Am Ende einer Treppe lag ein schmaler Gang, von dem rechts und links Türen abgingen.

»Wir haben sechs Gästekabinen«, hörte ich die Schifferin im Halbdunkel sagen. »In der Eignerkabine hab ich die Inspektorin einquartiert. Sie ist vor einer Stunde angekommen. Wir fahren los, sobald es hell ist.«

»Warum nicht gleich?«, fragte Milton. »Ist hell genug.«

»Die Schleuse öffnet um sechs«, erwiderte sie. »Krise hin oder her, Sie können die Leute nicht vierundzwanzig Stunden am Tag an ihren Arbeitsplatz anketten. Haben Sie sonst noch Vorschläge, wie ich meinen Job zu machen habe?«

Ich sah ihr nach, wie sie durch die Tür zum Crew-Bereich verschwand. Die Art, wie sie gerade auf die Dinge zusteuerte, erinnerte mich an Penny. Die beiden Frauen waren sich ähnlich; sie hätten Schwestern sein können.

Mein Quartier war königlich mit Toilette und Waschbecken ausgestattet. Ich knipste das Licht in der Badezelle an und probierte den Wasserhahn aus. Irgendwo brummte eine elektrische Pumpe. Das Wasser, das aus dem Hahn perlte, sah sauber aus, musste aber vermutlich vor dem Trinken entkeimt oder abgekocht werden. Dennoch ein unerwarteter Luxus. In der Julius-Leber-Kaserne waren wir aus großen Spezialtanks versorgt worden.

Ich knipste das Licht aus, kehrte in meine Kabine zurück und legte mich aufs Bett.

Ich erwachte, als die Maschine unter meinen Füßen zu brummen begann. Vor dem Bullauge war das violette Zwielicht der Morgendämmerung gewichen. Die Calypso legte ab, beschrieb einen engen Wendekreis und nahm langsam Fahrt auf.

Nachdem ich mich frisch gemacht hatte, ging ich an Deck. Das Licht hatte einen unwirklichen Glanz wie auf uralten Fotografien in verblassten Sepia-Tönen. In der kupferfarbenen Dämmerung wirkten die dunklen Steinwaben weit weniger bedrohlich, als noch in der Nacht zuvor im brennenden Himmel. Wir fuhren unter Brücken durch, auf denen uns Menschen zuwinkten. Auf Bänken an der Uferpromenade saßen alte Männer und Frauen, die Knäufe ihrer Gehstöcke zwischen den Fingern drehend. Sie schwatzten und warteten – ich weiß nicht worauf.

Es war ein friedliches Bild. Ein ganz normaler Morgen im Hochsommer. Von der Katastrophe, die uns heimgesucht hatte – dem Blackout, dem Ausfall der Handy-Netze, dem Benzinmangel, den Hygiene-Problemen, der Furcht – war nichts zu bemerken. Eine warme Brise wehte. Es würde ein heißer Tag werden.

Eben waren wir noch an Speichern, Bürogebäuden und Wohnhäusern vorbeigefahren, nun lag Wald zu beiden Seiten des Flusses. Wir hatten die Stadt hinter uns gelassen. Über den Bäumen stieg die Sonne auf. Man konnte vergessen, dass es derselbe Stern war, der uns gerade so viel Ärger machte. Für einen Augenblick dachte ich nicht mehr an den Tod meiner Tochter, nicht an das Scheitern meiner Ehe, nicht an die Katastrophe und auch nicht an Herold und meinen Auftrag.

Ich hatte nur Augen für den langsam aufsteigenden dunkelroten Ball.

Ein Gedanke begann in mir zu keimen, eine absurde Hoffnung. Wenn so was Riesiges wie die menschliche Zivilisation sich wieder aus dem Niedergang erheben konnte, warum nicht auch ich? Bestand nicht das chinesische Schriftzeichen für Krise aus zwei Teilen, dem Zeichen für Gefahr und dem für Chance?

Ich starrte in den Sonnenaufgang, bis das Licht greller wurde und ich mich blinzelnd abwandte.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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211 стр. 2 иллюстрации
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9783941935808
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