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Einen Paradefall dafür bietet die Modernisierungstheorie von Jürgen Habermas. Er hat vor der Wucht kultureller Divergenz immer die Augen verschlossen. Symptomatisch ist seine Annahme, der Fundamentalismus werde von alleine verschwinden, weil er eine Rebellion gegen die Modernisierung sei:

»In der Moderne fallen rigide Lebensformen der Entropie anheim. Fundamentalistische Bewegungen lassen sich als den ironischen Versuch begreifen, der eigenen Lebenswelt mit restaurativen Mitteln Ultrastabilität zu verleihen. Die Ironie besteht im Selbstmißverständnis eines Traditionalismus, der ja erst aus dem Sog gesellschaftlicher Modernisierung hervorgeht und eine zerfallene Substantialität nachahmt. Als Reaktion auf den überwältigenden Modernisierungsschub stellt er selber eine durch und durch moderne Erneuerungsbewegung dar.«20

Unter der inklusiven Formel der ›Modernisierung‹ soll demnach sich eine Konvergenz der Kulturen vollziehen, und die ›multiplen Modernitäten‹ sollen letztlich in eine Weltgesellschaft einmünden – ganz so, als seien liberale Grundwerte weltweit bereits hegemonial – vielleicht noch nicht politisch, aber jedenfalls moralisch. Gewiß, die Globalisierung setzt alle Kulturen unter den Druck von ›Modernisierungen‹. Doch die Eliten der verschiedenen Kulturkreise reagieren darauf ganz unterschiedlich, denn es sind viele Formen von Modernisierung möglich. Diejenige des aufklärerischen Universalismus ist nur eine unter mehreren. Auch der Nationalsozialismus war eine solche Modernisierung. Samuel Huntington hat eine scharfe Divergenz zwischen mehreren Kulturen prognostiziert. Und die ist – was den islamischen Raum angeht – eingetreten. Gerade jene Historiker, die ein besonderes Augenmerk auf ›globale Trends‹ richten, haben festgestellt, daß manche kulturelle Räume wichtige rechtliche Innovationen nicht mitvollzogen. Jürgen Osterhammel hat darum den islamischen Kulturkreis aus dem großen Trend zur Liberalisierung ausgenommen, da dort der Widerstand gegen die Abschaffung der Sklaverei vehement geblieben ist.21

Daß Gesellschaften auf den kulturellen Wandel mit Versuchen reagieren, die eigenen Traditionen übermäßig zu stabilisieren, ist ein Dauerphänomen der Geschichte. Schon immer gab es die fundamentalistische Rückkehr zu den reinen Ursprüngen; sogar Innovationen und Reformationen präsentierten sich meist als Kehre hin zum Alten. Es ist daher falsch, im Fundamentalismus ein modernes Phänomen zu sehen; und es ist makaber, ihn auf ein ›Selbstmißverständnis‹ zurückzuführen. Die 3 000 Toten des 11. September 2001 ebenso wie die 130 Toten vom September 2015 oder die Tausende von Abgeschlachteten in Nigeria sind keinem ›Selbstmißverständnis‹ von Muslimen zum Opfer gefallen. Der Begriff beansprucht, die Akteure besser zu verstehen, als sie selber es tun; und er behauptet, daß der Fundamentalismus sofort endet, sobald die Akteure beginnen, sich selber zu verstehen. Anspruch wie Behauptung sind grotesk, aber logisch, nämlich rücklaufende Stauwellen jener programmatischen Geschichtslosigkeit der Frankfurter Schule überhaupt und von Habermas im besonderen. In seinem Geiste sind die normativen Grundlagen der aufgeklärten Zivilgesellschaft dermaßen überzeugend, daß die kulturelle Vielfalt die Menschen nicht davon abhalten wird, sich immer weiter von aufklärerischen Werten durchdringen zu lassen. Der Durchbruch zur Weltgesellschaft ist eigentlich schon gelungen, muß sich nur noch vollends verwirklichen. Und zu dieser Verwirklichung kommt es, sobald die Fundamentalismen ihr Selbstmißverständnis aufgeben. Daß sie dazu vorläufig nicht bereit sind, schuldet sich der Weigerung ihrer Gläubigen, endlich sich selber zu verstehen. Eine solche Weigerung ist, diskurstheoretisch definiert, keine kognitive Angelegenheit, sondern ein moralischer Defekt. Wir haben es nicht mit Feinden zu tun, sondern letztlich mit Uneinsichtigen. Kriege sind folglich obsolet, vielmehr sind Polizeiaktionen – eventuell in kriegerischem Umfang – angemessen.

Theorien scheitern an der Wirklichkeit. Als der junge Habermas die Kritische Theorie umgründete und ihr Fundament von der Geschichte zur Anthropologie verlagerte, zog er die Konsequenz aus dem zur Gnosis konvertierten Geschichtsbegriff Adornos und Horkheimers. Dafür begann er die Zeithorizonte zu vernachlässigen und die kulturellen Bedingungen zu depotenzieren; auch deswegen verfiel die Kritische Theorie periodisch dem Moralisieren. Die Frankfurter Schule insgesamt wird nun hinterrücks angefallen von dem, was sie ausblenden wollte, von der enormen Geschichtsmächtigkeit jener Kulturen, die sich keineswegs dem Gebot der Aufklärung fügen. Wer sich über den Feind irrt, der irrt sich über sich selber. Die eigene Selbstverkennung entspricht genau jener, die Habermas den fundamentalistischen Reaktionen vorwirft. Und sie enthüllt einen Mangel an jener Urteilskraft, auf welche die Politische Vernunft so dringend angewiesen ist.

Wann immer das Denken der Versuchung erliegt, Wesentliches für selbstverständlich zu nehmen, entkräftet es die eigene Urteilskraft. Auch der glänzendste Stil hilft nicht darüber hinweg, daß das Urteilen naiv und kurzsichtig ausfällt. Der so gepflegte geistige Habitus ist – wie noch zu sehen sein wird – ein Niederschlag virulenter amnestischer Barbarei.22 Die Selbstverständlichkeit ist der schlimmste Feind des Nachdenkens. Dieses beginnt, wie Platon sagt, mit dem Staunen.

Ist die Weltrepublik das Ende der Geschichte?

Das Rechte, das Gute führt ewig Streit, Nie wird der Feind ihm erliegen.

Friedrich Schiller

Die obigen vier historischen Existentiale sind keine empirischen Kategorien; sie sind nicht hintergehbar. Sie markieren eine Geschichtlichkeit, die notwendigerweise an der menschlichen Existenz haftet. Damit stellen sich die Fragen nach dem ›Ende der Geschichte‹ auf neue Weise. Soll das Ziel der Geschichte darin bestehen, eine Weltrepublik herzustellen, dann gerät man in den Ruch, vom Ende der Geschichte zu sprechen. Das Reizwort ›Weltrepublik‹ weckt Animositäten: Geht in einem solchen ›Weltstaat‹ nicht alle kulturelle und historische Vielfalt verloren? Verdämmert die Menschheit dann nicht in einem öden Posthistoire? Müßte sie ohne Diversität, ohne Spannung und ohne Kriege nicht im Immergleichen verblöden?

Diese Befürchtung ist sehr alt. Hegel erhärtete sie in seiner Kunstphilosophie und auch in der geschichtsphilosophischen Versicherung, daß der ›Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit‹ in endgültige Lebensformen einmünden müßte. Vielfach verstand man seine Geschichtsphilosophie so, daß sobald das Prinzip der Freiheit sich in die historische Realität eingeprägt habe, nichts Neues mehr kommen könne. Der französische Mathematiker Antoine Augustin Cournot verfocht 1861 die These, die Kulturentwicklung sei in ihr letztes Stadium eingetreten: Nur noch Demographie und Ökonomie seien als maßgebliche Triebkräfte übrig geblieben. Für diese Phase totaler Administrierung erfand er den Terminus ›Posthistoire‹. Der exilierte russische Philosoph Alexandre Kojève imprägnierte in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine ganze Generation französischer Intellektueller mit seiner Hegelinterpretation, die in der politischen Prophetie gipfelte, ein sozialistischer ›Etat homogène et universel‹ stehe bevor.23 Nach dem Zweiten Weltkrieg sprossen variantenreiche Versionen einer Furcht vor dem trüben Endstadium, dem sich die menschliche Gattung eilends nähere. Francis Fukuyama hat 1992 in »The End of History« einen schwachen Aufguß der optimistischen Variante verbreitet, indem er den weltweiten Sieg der parlamentarischen Demokratie und des Kapitalismus diagnostizierte und die Alternativlosigkeit dieser »posthistorischen Welt« prognostizierte. Die Sozialphilosophie von Jürgen Habermas und vor allem die Systemtheorie von Niklas Luhmann waren dort längst angekommen. Als Samuel Huntington 1993 diesen Konsens aufkündigte, blies ihm sofort ein scharfer Wind ins Gesicht. Indes, seine kardinale These hat sich bewahrheitet; just die Auflösung der Machtblöcke hat neue Divergenzen erzeugt; und der Gegensatz zwischen der islamischen Kultur und der restlichen Welt ist zum heftigsten geworden. Ein nüchterner Geschichtsdenker wie Ernst Nolte benutzt zwar den Begriff ›Nachgeschichte‹, doch er füllt ihn mit einem neuen Gehalt: Selbst eine technisch perfekte Weltgesellschaft wird sich vor schweren Konflikten nicht schützen können.24

Kojève und seine Nachfolger glaubten, daß ein Prinzip, welches sich sozial realisiere, hinfort die Realität bestimme: Wenn die Freiheit zum Leitwert der Welt würde, welche sich in einen rechtsstaatlich garantierten und menschenrechtlich orientierten sozialen Zustand begeben würde, dann bewege sich nichts Bedeutendes mehr. Doch dabei bleibt unbeachtet: Erstens sind die Begriffe Freiheit, Gleichheit und Solidarität (Brüderlichkeit) – in sich antinomisch; radikal zu Ende geführt, heben sie sich selber auf. Totale Freiheit wäre ein ebenso absurder Zustand wie radikale Gleichheit. Aus diesem Grund wird über das Maß ihrer Verwirklichung immer zu streiten sein und niemals ein Konsens gefunden werden. Zweitens sind diese Prinzipien dialektisch aufeinander angewiesen. Damit widerstreiten sie einander: Ein ›Übermaß‹ an Gleichheit geht auf Kosten der Freiheit; ein ›Übermaß‹ an Freiheit geht auf Kosten der Solidarität. Diese Wechselwirkung ist in der Politischen Philosophie oft erörtert worden, weil sie die kardinalen Fragen der Staatsform und sozialen Verhältnisse berührt. Obendrein verkompliziert sich diese Wechselwirkung, weil alle drei liberal-republikanischen Prinzipien den Schutz einer staatlichen Organisation benötigen, welche den Individuen zuverlässige ›Sicherheit‹ vor Gewalt bietet: Ohne Sicherheit vor Gewalt gibt es keine Freiheit; aber selbstverständlich muß alle Sicherheit bestimmte Grade der individuellen Freiheit einschränken, um die individuelle Freiheit als kollektives Gut überhaupt erst zu ermöglichen. Drittens ist es gar nicht möglich, die fundamentalen Prinzipien der Moderne so in Einklang zu bringen, daß alle sozialen, sprachlichen, religiösen und regionalen Gruppierungen damit zufrieden wären. Daher unterlägen alle dissentierenden Sektoren der Weltgesellschaft unaufhörlich der Versuchung, ihren Dissens als programmatischen aufzufassen. Im politischen Spektrum profilieren sich Strömungen am Rand immer dadurch, daß sie die Streitpunkte vergrundsätzlichen. Diese Tendenz verschärft die Konflikte; und diese treiben die Geschichte voran.

Selbst wenn die weltrepublikanischen Organe bestens funktionieren, ist der Dynamik der Differenzierung nicht zu entkommen, gleichgültig ob diese sich speist aus demographischen Verschiebungen, aus dem Umgang mit knappen Ressourcen, aus den sozialen Folgen von technischen Fortschritten oder aus dem bloßen Wechsel der Generationen. Stets stören sie das momentane ›Gleichgewicht‹ und nötigen dazu, erneut Freiheit, Gleichheit, Sicherheit und Solidarität in Ausgleich zu bringen. Und die Ansichten darüber, wie solche Ausgleiche aussehen sollen, divergieren. Der Grad solcher Divergenzen kann die globalisierte Menschheit dissoziieren und schwere Konflikte ausbrechen lassen. Wir neigen dazu, die generationelle Dynamik in Kulturen zu unterschätzen. Auch die erwünschte Weltgesellschaft unterliegt der Notwendigkeit, die sozialen und politischen Verhältnisse über die Zeitläufte hinweg ebenso zu reproduzieren wie die kulturellen Kompetenzen. Doch die intergenerationelle Weitergabe mittels Geburt, primärer und sekundärer Sozialisation samt Bildung und Beruf erbringt zwangsläufig ›neue‹ und ›andere‹ Menschen. Es ist nicht einmal möglich, die Werthaltungen von einer Generation auf die nächste so zu übertragen, daß sie identisch blieben. Solche Abweichungen können sich mit der Zeit als gravierend herausstellen und weit über folkloristische Besonderheiten hinausgehen. Gerade ›neue‹ Werthaltungen sind imstande, normative Divergenzen von hoher Brisanz anzutreiben.

Im Klartext: Die Weltrepublik garantiert keineswegs Kants ewigen und vollkommenen Frieden. Sondern sie wird ein Notinstrument bleiben, nämlich das einzige, das imstande ist, den Frieden immer wieder schnellstmöglich herzustellen und die aufflackernden Bürgerkriege nicht ausarten zu lassen.

Was hat diese Überlegung mit dem Begriff der Politischen Vernunft zu tun? Das wird deutlicher, wenn wir einen flüchtigen Seitenblick werfen auf die naturbedingten und auf die mikrobiotisch verursachten Katastrophen der Zukunft, welche unvermeidbar Teile der Menschheit heimsuchen werden. Sie sind weder zureichend vorhersehbar noch präventiv abzufangen. Auch der Katastrophenschutz der künftigen Weltrepublik bleibt an Nachträglichkeit gekettet; und seine kurativen Maßnahmen kompensieren niemals jene dramatischen Ungleichheiten in den Lebenschancen, die jede wirkliche Katastrophe bewirkt. Auch die globalisierte Menschheit wird periodisch das Leiden bewältigen müssen, das Menschen millionenfach beugt. Die Klagelieder werden immer erschallen. Und ob jemals eine künftige Weltrepublik den Mut aufbringen wird, die Losungen der römischen Reichsidee auszugeben – PAX AETERNA – FELICITAS TEMPORUM, darf getrost bezweifelt werden. Zwar dient die Vernunft auch der Erkenntnis. Aber das Bewußtsein selber nützt prioritär nicht dem Erkennen, sondern der Orientierung des Menschen in seiner Lebenswelt. Orientierung und Erkenntnis gehen jedoch in der Regel weit auseinander. Vor allem aber benutzen die Menschen einen nicht unerheblichen Teil ihrer Bewußtseinsfunktionen, um Enttäuschungen und bitteres Leid zu verarbeiten. Weil Menschen extrem abhängige und verletzbare Lebewesen sind, ist es für sie eine zentrale biographische Aufgabe, an den persönlichen Widerfahrnissen zu wachsen und sie einzufügen in einen Sinnhorizont. Anders gesagt: Sie brauchen Trost; und dieses Bedürfnis ist nicht leicht zu stillen. Eine metaphysische Neigung ist darum untilgbar; sie wirkt als Matrix für religiöse Dispositionen, garantiert eine unterschiedlich intensive religiöse Anfälligkeit. Die aufgeklärteste Gesellschaft ist nicht gefeit gegen das Hochschwappen von religiösen Wellen. Und nur Narren sind außerstande, die ungeheure Gewalt zu übersehen, mit der Religionen die Menschen erfassen können. Auch in Zukunft.

Niemand muß sich fürchten, daß die Weltrepublik in ein Eschatolithikum gähnender Immerselbigkeit hineindämmern wird. Von solcher Furcht, notorisch beheimatet in anti-universalistischen Weltsichten, wird noch die Rede sein im Kapitel über Recognition und Differenz. Sondern im Gegenteil wird die Menschheit froh sein, wenn eine solche Republik wenigstens einige der kollektiven Überlebensprobleme überhaupt politisch zugänglich macht. Zweifelsohne wird es ein Ende der Geschichte geben, denn eines Tages wird dieser Planet abgewohnt und ohne irgendein Leben um einen roten Riesen kreisen. Doch das Ende der Geschichte wird erst eintreten, sobald es keine Menschen mehr geben wird. Keinen Tag vorher.

II. Die dreifach negierte Aufklärung

Dialektiken der Aufklärung

Insbesondere drei Errungenschaften der Aufklärung stehen nun auf dem Spiel, nämlich der menschenrechtliche Universalismus, die Wissenschaft als letzte Instanz in Wahrheitsfragen und die republikanische auf Volkssouveränität beruhende Organisation menschlicher Gemeinschaften. Aus dieser Trias entstammen die beiden letzten zwar der Antike, und auch die erste gründet auf Ideen, die weit älter sind als das 18. Jahrhundert; dennoch haben sie in der Epoche, die wir ›Aufklärung‹ nennen, ihre maßgebliche Konfiguration erhalten. Wir riskieren nun, diese Errungenschaften zu verspielen.

Das ist immer wieder vorausgesagt worden, am eindringlichsten von Nietzsche. Und daß die Aufklärung keineswegs gegen Katastrophen gefeit hat, bleibt unbestritten. Aber sind diese ihr deshalb anzulasten? Wir stehen vor dem Thema ›Dialektik der Aufklärung‹. Viele Intellektuelle ließen im 20. Jahrhundert ihre Sorgen und ihre Aufmerksamkeit um dieses Thema kreisen. Sowohl Heidegger als auch Adorno und Horkheimer brachten die Widersprüche der Aufklärung in prägnante Formen; und beide Versionen ähneln einander teilweise zum Verwechseln. Ihnen zufolge hat die Ausdehnung der menschlichen Herrschaft mittels Technik und Wissenschaft desaströse Ausmaße angenommen. Beide Philosophien verabschieden die Geschichte und hoffen auf Erlösung.

Adorno und Horkheimer haben die Aufklärung für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts – insbesondere für den Faschismus – verantwortlich gemacht. Hierfür prägten sie den Begriff der Aufklärung neu: Seit der »Odyssee« Homers betreibe der abendländische Mensch Aufklärung, indem er die Verfügung über sich selber und über die Welt ständig ausweitet und intensiviert. Die Selbstbehauptung ist sein Zweck und das Opfer sein Mittel. Zweck und Mittel ketten die sich aufklärende Vernunft an einen hoffnungslos instrumentellen Gebrauch; somit diene die Aufklärung einer nur instrumentellen Vernunft, welche keinerlei utopischen Impuls verspürt und den Zwecken der technischen Perfektion gehorcht. Mit dieser Vernunft verkehre sich die Aufklärung in ihr Gegenteil und befördere das Unheil, welchem die utopische Vernunft stets entkommen wollte. Eine solche geschichtsphilosophische Konstruktion ist schierer Mythos. Seltsamerweise hat dieser adornitische Mythos bei der kulturwissenschaftlichen Linken der deutschen Geisteswelt erhebliche Wirkung gezeigt.

Jedenfalls gaben sowohl Heidegger als auch Adorno und Horkheimer die Hoffnung auf, daß es in der Geschichte noch zu einer Wende kommen könnte. Letztere huldigten dem Credo, »daß Erlösung und Geschichte nicht ohne einander sind und nicht ineinander, sondern in einer Spannung, deren gestaute Energie schließlich nichts weniger will als die Aufhebung der geschichtlichen Welt«.1 Soll das vernunftgemäße Ziel der Geschichte in der Aufhebung der geschichtlichen Welt bestehen, und kann diese Aufhebung sich nur ereignen als Abbruch der Geschichte, dann haben wir Anlaß, uns vor einer solchen Geschichtsphilosophie zu ängstigen. Indes, in wohlbegründeter Parallelität hierzu konnte Heidegger seine Philosophie mit den Worten abschließen: »Nur noch ein Gott kann uns retten.« Was aber tun, wenn kein Gott uns rettet? Und wenn keine Erlösung naht, um die Geschichte ›abzubrechen‹?

Viele andere Dialektiken wurden erdacht, um die Widersprüche der Aufklärung in soziologische oder geistesgeschichtliche Erklärungsmodelle einzupassen und so die Aporien der Moderne und ihres ›Projekts‹ in Begriffe zu gießen. Eine davon verengt auf entschiedene Weise den Fokus auf das Politische und die politischen Ideen, nämlich jene von Hannah Arendt. Sie stellt in »Über die Revolution« die Amerikanische und die Französische Revolution einander gegenüber: Die erste leistete einen enormen Aufwand, um eine Verfassung zu schaffen, die als dauerhafte Ordnung hinfort das Zusammenleben einer politisch partizipierenden Bürgerschaft gewährleisten sollte; die andere ließ sich zu früh abdrängen vom Ziel der politischen Freiheit, um plötzlich das ›Glück‹ der Bürger sozial und politisch herstellen zu wollen. Robespierres Apostrophe vom Mai 1792: »La république? La monarchie? Je ne connais que la question sociale«2 rückte die Frage nach der politischen Freiheit in den Hintergrund. Das Manifest des Sansculottismus vom 16. November 1793 gab der Französischen Revolution einen völlig neuen Sinn: »Le but de la révolution est le Bonheur du peuple.« Aus dem Dilemma machte Saint-Just eine avantgardistische Tugend, als er am 3. März 1794 verkündete: »Das Glück ist eine neue Idee in Europa.« Das Abgleiten in den Terror ging Hand in Hand mit der Mißachtung der politischen Freiheit. Das war nach Hannah Arendt der Sündenfall der Moderne: »Die Verwandlung der Menschenrechte in die Rechte der Sansculotten ist der Wendepunkt der Französischen und aller ihr folgenden Revolutionen.«3 Es ist die Wende nicht zur Herstellung von politischer Freiheit, sondern zur Diktatur im Interesse sozialer Ziele.

Hier langen wir an bei jener sozialen Mechanik, die Jacob Burckhardt als moderne Paradoxie formulierte, und von der im neunten Kapitel die Rede sein soll. Arnold Gehlen hat, sicherlich in Kenntnis des Burckhardt-Paradoxes, die Gedanken von Hannah Arendt in einem anderen Sinne weitergedacht: Sogar Diktaturen sitzen nicht fest im Sattel, wenn sie die politische Wucht jener programmatischen Forderung zu spüren bekommen, die Gracchus Babeuf erhob: »Garantiert jedem einzelnen Bürger einen Zustand beständigen Glücks, die Befriedigung der Bedürfnisse Aller, ein unveränderliches Auskommen, unabhängig von der Unfähigkeit, der Unmoral und dem schlechten Willen der Machthaber!«4 Denn Glück soll politisch herstellbar sein, geradezu produzierbar. Als programmatisches Ziel verwandelt es den Staat in eine administrative Maschine, die notwendigerweise defizitär bleibt, weil das Produkt niemals den Erwartungen entsprechen kann. Der Staat wird permanent anklagbar, denn, wie es die Formulierung Babeufs ausspricht: Es kann ja nur am bösen Willen der Machthaber liegen, wenn das Glück aller sich nicht einstellt. Derselbe Staat, dem zugemutet wird, Glück herzustellen, gerät zum Widersacher, der sich berechtigten Ansprüchen des Bürgers in den Weg stellt. Aus der Ethisierung des Lebensglückes und dessen Erhebung zum höchsten Gut »folgt die moralische und somit öffentlichkeitsfähige Disqualifizierung derjenigen Mächte, die einer solchen Glücksmaximierung im Wege stehen könnten«. So liquidiert die Aufklärung auch nach Gehlens Ansicht sich selbst, weil die permanente Überflutung des Staates mit ›berechtigten Ansprüchen‹ eine institutionelle Entropie in Gang setzt. Und wenn Institutionen auf eine entropische Abschüssigkeit geraten, dann verfällt die Gesellschaft der Anomie: »Die Aufklärung ist, kurz gesagt, die Emanzipation des Geistes von den Institutionen.«5 Träfe das zu, dann überlebten weder die Institutionen noch der Geist. Diese Version der »Dialektik der Aufklärung« führt ein ganz anderes Drama auf als jenes von Adorno und Horkheimer. Und im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts kann es kaum Zweifel daran geben, daß sie die Aufgabe, »die Zeit in Gedanken zu fassen«, weitaus besser erfüllt. Welche Relevanz sie für das Problem der Werte hat, das wird im weiteren Verlauf noch zu erörtern sein.

Es ist nicht zu leugnen, daß wir vor Trümmern stehen, an denen auch das ›Projekt der Moderne‹ mitgebaut hat. Seit der Renaissance ist dieses ›Projekt‹ – nämlich die Verhältnisse der Welt auf den Menschen und seinen Willen zu stellen – unablässig angezweifelt worden. Der französische Philosoph Rémi Brague hat kürzlich dem Titel seines Buches »Die Herrschaft des Menschen« den Untertitel »Genesis und Scheitern des modernen Projekts« hinzugefügt. Es gilt einzusehen, daß es nicht hilft, auf den Prinzipien der Aufklärung zu beharren, als seien es religiöse Dogmen. Ihre Errungenschaften sind nur zu verteidigen, wenn das an der Aufklärung ausgerichtete Denken sich die Grenzen derselben eingesteht. Die Übersteigerung ›des Menschen‹, seine tendenzielle Sakralisierung führt zu absurden kollektiven Maßnahmen oder in blutige Paradiese. Aber auf der anderen Seite ist es unmöglich, den Humanismus schlicht zu opfern. Denn was sollte an seine Stelle treten? Jede Alternative zu ihm treibt vehement zur Theokratie. Wir müssen Anthropozentristen bleiben, nicht weil wir noch an die Vergottung des Menschen glauben könnten, sondern weil die Alternativen zum Anthropozentrismus gefährlich sind. Ein bescheiden gewordener Humanismus ist auf jeden Fall gut beraten, die unbedingten Imperative zu ersetzen durch hypothetische Schlüsse. Das bedeutet, sich anzugewöhnen, im Modus des »Wenn – dann« zu denken, in Konditionalsätzen zu schreiben – und oft auch zu sprechen: Wenn die Europäer sich zusammenschließen wollen zu einer freiheitlichen Republik, dann kommen sie nicht umhin, bestimmte kulturelle Phänomene schnellstens über Bord zu werfen, um wichtige Errungenschaften zu retten, so lange es noch geht.

Negierte Vernunft:

Absolutes Gebot und Divinisierung des ›Anderen‹

Seitdem die deutsche Regierung den Sog der Immigration so beschleunigte, daß die Grenzen von sechs europäischen Ländern kollabierten, seitdem die islamistischen Attentate und Übergriffe in europäischen Städten sich vervielfachten und an die Schwelle zum Bürgerkrieg gelangten, und seitdem der britische Souverän entschieden hat, aus der Brüsseler Eurokratie auszuscheiden, verschärft sich die Frage, woran die öffentlich wirksamen Diskurse kranken. Bei welchen Belangen haben diese Diskurse die politische Vernunft verunstaltet?

Das am schwersten demolierte Moment dieser Vernunft dürfte das oben angeführte Bedingnis zwölf sein, nämlich die Entgrenzung von Schuld und Verantwortung. Ein Diskurs grenzenloser Verantwortung hat die normativen Eckpunkte des Regierens in der EU erheblich verschoben. Er hat eine Politik der Grenzenlosigkeit angestoßen, die wiederum mehrere europäische Länder dazu herausforderte, gegen die eurokratischen Diktate zu rebellieren und eigenständig ihre Grenzen zu sichern. Wie konnten so viele Zeitungen Europas, so viele Publizisten und Politiker das Haupt senken vor dem Imperativ, die Migranten aller Länder unbegrenzt aufzunehmen? Es konnte geschehen, weil hegemoniale Diskurse den Begriff der Verantwortung dermaßen überdehnten, daß er seinen Sinn verlor. Sowohl die Massenmedien wie auch die Kirchen hämmerten eine Verantwortung ohne Limit lautstark ein. Die entgrenzte Verantwortung überrollte die staatliche Politik, um grundlegende Verfassungsprinzipien außer Kraft zu setzen.

Wie kam es zu dieser Idee? Es ist der Philosoph Emmanuel Levinas gewesen, der die grenzenlose Verantwortung zum Prinzip erhob. Entnommen hat er sie aus Dostojewskijs »Die Brüder Karamasoff«. Dort belehrt der Staretz Sossima seine Mitmönche, ein jeder habe zu erkennen:

»… daß ein jeder von uns schuldig ist für alle und alles auf Erden, darüber besteht kein Zweifel, und dies nicht nur durch seinen Anteil an der allgemeinen Weltschuld, sondern ein jeder von uns ganz persönlich für alle Menschen und für jeden einzelnen Menschen auf dieser Erde … Erst nach dieser Einsicht kann sich unser ergriffenes Herz zu jener unendlichen Liebe weiten, die die ganze Welt umspannt und keine Sättigung kennt. Dann wird auch jeder von Euch die Kraft haben, die ganze Welt durch seine Liebe zu erringen und mit seinen Tränen die Sünden der Welt abzuwaschen.«6

Wenn alle schuldig sind, dann gibt es keine Verbrecher mehr. Dann zerlaufen alle Konturen der Verantwortung für eigenes Handeln. Folgerichtig hören die Gerichte auf, Recht zu sprechen; denn die Richter sollen nicht mehr urteilen und strafen, sondern verzeihen. Mitgedacht ist die Allgnade, welche letzten Endes alle Schuld tilgt und vom Bösen nichts mehr übrig läßt: Am Ende entkäme somit selbst der Teufel nicht der Gnade, welche ihn heimholt. Die großartige Idee der menschlichen Zusammengehörigkeit – hinweg über Zeiten und Länder – ist hier in einer Radikalität gedacht, die sogar über die Bergpredigt hinausgeht.

Wenn die Erlösung zum politischen Programm wird, droht Unheil. Was als regulative Idee erhaben ist und nicht zu überbieten, das erweist sich als konstitutive Idee – als Maxime praktischen politischen Handelns – als tödlich für alles Recht. Der Staretz scheut sich nicht, der Liebe des einzelnen Menschen eine geradezu gotteslästerliche Allmacht zuzusprechen: Sie bewirke, daß jeder einzelne die Sünden der Welt abzuwaschen vermag. Diese metaphysische Vollmacht irritiert; doch sie ist notwendig als Widerlager der Allschuld. Ohne diese Allmacht müßte die allschuldige Seele verzweifeln oder sich ins Sicherheitsnetz der Allgnade fallen lassen. Mit dieser Allmacht bedürfen die Menschen keiner Gerechtigkeit mehr, können sie doch jederzeit in einen paradiesischen Zustand eintreten.

Radikalisiert man das Mitleid und treibt man die Solidarität bis zum Äußersten, dann läßt sich die extreme existentielle Anspannung nur durchhalten, wenn die Idee der Allschuld obsessiv vorwärtspeitscht. Diese Allschuld ist ersichtlicherweise kein moralisches Thema mehr, sondern ein kosmisches. Wenn menschliche Schuld herausgelöst wird aus den Verflechtungen des eigenen Handelns, dann verliert sie ihre moralische Qualität. Werfen wir einen Seitenblick auf die griechische Tragödie. Sie umkreist zwanghaft das Thema, daß alles Handeln Folgen hat, die auf den Handelnden zurückschlagen. Denn ein Tun-Ergehens-Mechanismus sorgt für eine unbestimmbare Gerechtigkeit; und weise ist es, aus Widerfahrnissen und Leiden zu lernen: ›Bedenke die Folgen!‹ Wenn nun diese Folgen sich entufern, dann können sie nicht bedacht werden; und dann sind sie nicht mehr auf das Handeln des einzelnen oder der Kollektive beziehbar. Ist aber die Zurechenbarkeit stillgelegt, dann ist weder verantwortliches Handeln möglich, noch heldisches Einstehen für die Konsequenzen der eigenen Entscheidung. Wenn Folgen und Tun in keinerlei sinnhaftem Zusammenhang mehr stehen, dann verflüssigt sich der Boden für jede konsequentialistische Moral. Das entgrenzte Denken ist prinzipiell antitragisch. Konsequentialismus und Tragik verlöschen in ihm vollständig.

Gegen die Politische Vernunft richtet sich das Dostojewskij-Theorem in drei Hinsichten: Zum ersten wischt es die Zeithorizonte menschlichen Lebens aus. Wenn wir heute noch ins Paradies eintreten können, dann bedarf es keiner Zukunft mehr. Und wenn die All-Liebe eines einzigen imstande ist, die Sünden der Welt abzuwaschen, dann ist die großartige Idee von Hermann Lotze sofort einlösbar: Nämlich daß die Lebenden die Pflicht hätten, die Vergangenheit zu erlösen. Zum zweiten kollabiert die Sphäre des Politischen augenblicklich und vollständig. Denn in der bergpredigthaften Hingabe für die Mitmenschen ertrinkt jedwede Selbstbehauptung, sowohl die individuelle als auch die kollektive. In diesem Zustand wird es sinnlos, Fristen zu bedenken. Treffend nannte Blaise Pascal die Voraussetzung für ein Leben entlang der Seligpreisungen: ›Tun wir so, als hätten wir nur acht Tage zu leben‹. Zum dritten entwertet sich die Urteilskraft brüsk und restlos, sobald die Erlösung zum Leitmotiv des Denkens wird.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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391 стр. 2 иллюстрации
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9783866746473
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