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DER KREISKY

Jetzt muss ich Ihnen was erzählen, und zwar über den Bruno Kreisky.

Oder vielleicht sollte ich sagen: Über meine Großmutter und den Bruno Kreisky. Wobei sich meine Großmutter sicher wundern würde, in einer Geschichte mit dem Kreisky vorzukommen, in einem Atemzug quasi. Aber so ist es nun einmal gewesen.

Außerdem – schauen Sie, Geschichten über den Kreisky gibt es wie Sand am Donaustrand. Sammlungen von Kreisky-Aussprüchen und Kreisky-Zitaten und Kreisky-Anekdoten sind nicht nur zu Regierungs- und Lebzeiten herausgekommen, nein, bis heute können Sie solche Sammlungen in jeder Buchhandlung kaufen. Und Sie können sicher sein, dass in jedem Buch, das sich, ob ernst oder heiter, mit der österreichischen Nachkriegsgeschichte befasst, ein großes Kapitel dem Kreisky gewidmet ist.

Der Kreisky ist ja bis heute der populärste Bundeskanzler von Österreich. Sogar die jungen Leut’, die geboren sind, wie der Kreisky längst nicht mehr Bundeskanzler gewesen ist, verbinden etwas mit ihm. Einer von ihnen hat einmal zu mir gesagt: „Sie haben Glück, Sie haben noch den Kreisky erlebt.“

Obwohl der Kreisky ein Sozialist gewesen ist, und zwar ein richtiger, hat man ihn im Spaß mit Titeln ganz und gar monarchischen Zuschnitts bezeichnet: Er war Bruno der Sonnenkönig, der Sonnenkaiser und der Bundeskaiser. Nicht nur wegen seiner langen Regierungszeit67, sondern auch, weil er mit einer absoluten Mehrheit für die SPÖ68 regiert hat, haben viele wirklich so ein bisserl das Gefühl einer wiedererstandenen Monarchie gehabt.

Wie das so ist: An großen Persönlichkeiten scheiden sich die Geister. Den Kreisky hat man gemocht oder nicht.

Jetzt kommt meine Großmutter ins Spiel: Sie hat den Kreisky nicht gemocht. Wen meine Großmutter gemocht hat, das ist der Kaiser gewesen, der richtige, der Franz Joseph. Der Vater meiner Großmutter ist Hofschneider gewesen, er hat zwar nicht für den Kaiser selbst gearbeitet, aber für Hofbedienstete und einmal für den Grafen von Paar. Das verbindet. Für meine Großmutter hätte Österreich mit Fug und Recht immer noch ein Kaiserreich sein müssen, einfach, weil es ihrer Auffassung nach so richtig und gottgewollt gewesen wäre. Es hat ihr in der Seele wehgetan, dass ein Roter wie der Bruno Kreisky die Geschicke Österreichs lenkt. Ihrer Meinung nach hätte dazu einzig und allein der Otto von Habsburg das Recht gehabt, und nicht nur das Recht, sondern, auch das als einziger, die Befähigung. Meine Mutter und ich hingegen, wir haben den Kreisky gemocht, und gleichzeitig haben wir, weil wir den Kreisky so gemocht haben, die Großmutter verstanden, weil für uns der Kreisky halt ein bisserl das gewesen ist, was für sie der Kaiser gewesen ist.

Eines Jahres, 1978 ist es gewesen, ist knapp vor Weihnachten ein Karpfen in die Familie gekommen.

Mein Großvater ist schon lange gestorben gewesen, aber ein Freund von ihm, den wir Onkel Paul genannt haben, obwohl er kein Verwandter gewesen ist, hat mit meiner Großmutter lose Kontakt gehalten. Der Onkel Paul ist ein leidenschaftlicher Angler gewesen. Ein paar Tage vor Weihnachten hat er, ob es ganz legal war, will ich nicht weiter überlegen, einen kapitalen Karpfen aus der Alten Donau gezogen und ihn, lebend, meiner Großmutter geschenkt. Wahrscheinlich hat der Onkel Hans, der zu Weihnachten immer zu seinen Verwandten nach Kufstein gefahren ist, nicht gewusst, was sonst er mit dem Karpfen anfangen soll. Deshalb hat er ihn in einem großen mit Wasser gefüllten Kübel meiner Großmutter gebracht.

Der Karpfen ist groß gewesen und fleischig und, ganz nach Karpfenart, von gutmütigem Aussehen. Der Karpfen hat bei uns in der Badewanne eine neue Heimstatt gefunden, zumindest für drei Tage, denn am 24. Dezember sollte ihm die Stunde schlagen. Da sollte er sein Ende als Weihnachtsmahl finden.

Kaum schwimmt der Karpfen in der Badewanne, tauft ihn meine Großmutter Bruno, „nach dem Kreisky“, sagt sie, eindeutig habe der Karpfen die gleichen Augen. „Und der Bruno“, sagt meine Großmutter mit Blick auf die Badewanner, in der Bruno jetzt gemächlich seine Runden zieht, „macht mir wenigstens eine Freunde, nämlich als Weihnachtsessen.“ Meine Mutter sagt: „Ich töte den Karpfen jedenfalls nicht.“ „Das mach’ ich schon“, sagt meine Großmutter.

Bruno schaut drein, als habe er jedes Wort verstanden.

Der 24. Dezember bricht an. Ich gehe mit gemischten Gefühlen ins Badezimmer. Ich wasche mich und putze mir die Zähne und bemühe mich, ja keinen Blick in die Badewanne zu werfen. Natürlich gelingt es nicht, umso weniger, je mehr ich es vermeiden will. Der Todeskandidat schwimmt seine Kreise, die aufgrund der Form der Wanne, um es mathematisch korrekt zu sagen, eher Ellipsen sind. Zu meiner Mutter sage ich: „Wollt ihr wirklich den Bruno töten und essen?“ „Dazu ist er da“, sagt meine Mutter. Sie klingt nicht überzeugt.

Ein paar Minuten später folgt eine Auseinandersetzung zwischen meiner Mutter und meiner Großmutter über die Zubereitung. Meine Mutter ist für backen oder braten, meine Großmutter für Karpfen blau, also gekocht. Sagt meine Mutter: „Aber du weißt schon, dass gekochter Karpfen so schlammig schmecken kann, dass er ungenießbar ist. Das Tier dafür umzubringen, dass man es dann wegschmeißt, ist eine Sauerei.“

Zu den hervorstechendsten Eigenschaften meiner Großmutter gehört eine Sturheit in vielen Dingen und in allen des Essens. Erstaunlicherweise gibt sie schnell nach. Wahrscheinlich kann sie gekochtem Karpfen nicht wirklich etwas abgewinnen. Meine Mutter übernimmt es, das Mischgemüse und die Erdäpfeln als Beilage zuzubereiten. Sagt meine Großmutter: „Gebratenen Karpfen hab’ ich aber nie gemacht. Wir haben ihn immer nur gekocht.“ „Ich hab überhaupt noch keinen Karpfen gemacht“, sagt meine Mutter, „weil ich Karpfen nicht mag.“ „Ich mag auch keinen Karpfen“, sage ich, ohne je Karpfen gegessen zu haben, aber mir geht es nicht um kulinarische Genüsse, sondern um die Rettung eines Karpfenlebens. Sagt meine Großmutter: „Der Bruno wird dir schon schmecken.“ Ich kenne meine Großmutter in- und auswendig. Deshalb höre ich den Zweifel in ihrer Stimme.

Die nächste Szene habe ich noch immer so vor Augen, als wäre es gestern gewesen: Meine Großmutter sitzt im Speisezimmer, den Kopf über einem Kochbuch in beide Hände gestützt, die Brille ist ihr schon fast bis zur Nasenspitze gerutscht, und liest nach, wie man Karpfen brät. Dieweil gehe ich ins Badezimmer, um mich von Bruno zu verabschieden. Das ist zur rechten Zeit geschehen, denn schon weiß meine Großmutter nach dem Blick in das alte, vergilbte und zerschlissene Kochbuch mit den vielen eingelegten Zetteln, wie man Karpfen brät.

Brunos letzte Minuten nahen.

Sagt meine Mutter zu meiner Großmutter: „Und wie willst du ihn töten?“ Sagt meine Großmutter: „Du hältst ihn, und ich schlage ihn mit dem Schnitzelhammer auf dem Kopf.“ „Ich halte ihn bestimmt nicht, damit du ihn totschlagen kannst“, sagt meine Mutter und fährt fort, Wurzeln und Gemüse klein zu schneiden. Meine Großmutter sagt, dann werde sie es allein machen, sie werde den Karpfen unter dem linken Arm einklemmen und mit der rechten Hand den Schnitzelhammer führen.

Das scheitert vorerst scheitert daran, dass Bruno, trotz der beengenden Wanne, ein Meister des Entschlüpfens ist. Da kommt meine Großmutter auf die Idee, das Wasser abzulassen und Bruno verenden zu lassen, aber nur einen Moment lang, dann verwirft sie den Gedanken wieder wegen seiner Grausamkeit. Also müht sich meine Großmutter weiter, Bruno zu fangen. Schließlich gelingt es ihr. Sie trägt Bruno in die Küche. Meine Mutter geht hinaus und zu mir in den Salon. Sie weiß, was in mir vorgeht und sagt: „Das ist nur ein Fisch. Der versteht nicht, was vorgeht.“ „Aber ich verstehe es“, sage ich, „und mir tut Bruno leid.“ Ich würge am Kloß in meinem Hals. „Jedes Weihnachten werde ich an Bruno denken. Ich mag Weihnachten nicht mehr.“

Auf einmal ruft meine Großmutter aus der Küche: „Kommt’s und helft’s mir.“ Meine Mutter und ich eilen in die Küche. Meine Großmutter hat Bruno, ganz nach Plan, unter dem linken Arm eingeklemmt, in der rechten hat sie den Schnitzelhammer. Bruno macht große Augen. „I kaun des net“, sagt meine Großmutter und verfällt plötzlich in für sie ungewöhnlichen Dialekt, „höft’s ma, des Viech in die Badwann z bringan.“

Das ist noch keine endgültige Begnadigung. Meine Großmutter überlegt vorerst nämlich andere Karpfentötungsmethoden. Der Wasserentzug wird wieder ins Spiel gebracht und so schnell verworfen wie beim ersten Mal. Den alten elektrischen Rasierapparat vom Großvater herauszukramen, anzustecken und ins Wasser zu werfen, wäre eine Möglichkeit, aber davon rät meine Mutter ab: Das, sagt sie, gäbe einen kapitalen Kurzschluss, und am 24. Dezember einen Elektriker zu finden, der den Schaden repariert, ist unmöglich – was bedeuten würde, bis 27. Dezember abends im Dunkeln zu sitzen, wenn nicht gar über das Neue Jahr hinaus, denn wer weiß, wann ein Elektriker zu dieser Zeit hat. „Außerdem“, sagt meine Mutter, „kann sowieso keiner von uns den Bruno umbringen und dann essen.“

Meine Großmutter schaut meine Mutter aus protestfunkelnden Augen an.

„Du doch auch nicht, gib’s zu …“, sagt meine Mutter.

Jetzt resigniert meine Großmutter. „Na ja“, sagt sie, „der Kaiser hat ja auch zu Weihnachten jemandem das Leben geschenkt. Ist es bei uns halt ein Karpfen.“

Kaum ist es dunkel, hole ich den großen Kübel, in dem uns Onkel Paul den Bruno gebracht hat, aus dem Keller. Ich fülle ihn mit Wasser, meine Mutter und ich schaffen es, Bruno hineinzubekommen. Dann eilen wir zur Alten Donau, zu Fuß, aber das ist nicht weit, und draußen hängt eine trockene Kälte, die man nicht spürt. Niemand ist auf der Straße. An der Alten Donau entlassen wir Bruno in seine nasse Freiheit. „Viel Glück für die nächsten Wahlen“, ruft ihm meine Mutter nach.

Zu Hause gibt es als Weihnachtsessen das Mischgemüse, das meine Großmutter mittlerweile in reichlich Butterschmalz geschmort hat, und Knödel hat sie auch gezaubert, gekocht, in Scheiben geschnitten und in Butterschmalz angebraten. „Geht’s dem Bruno gut?“, fragt sie. „Ja“, sagt meine Mutter. „Ist schon recht so“, sagt meine Großmutter.

Für mich ist das Mischgemüse mit gebratenem Knödel das beste Weihnachtsessen aller Zeiten gewesen. „Der Kreisky gwinnt eh nimmer“, sagt meine Großmutter, „soll’s wenigstens dem Bruno gut gehn.“

Am 6. Mai des darauffolgenden Jahrs hat der Bruno, diesmal aber nicht der Karpfen, sondern der Kreisky, noch einmal die absolute Mehrheit geschafft.

Letzten Endes hat aber meine Großmutter, sogar sie, dann doch noch ihren Frieden mit dem Kreisky gemacht. Das ist so gekommen: Zita Maria delle Grazie von Bourbon-Parma, kurz Zita, ist die Frau von Kaiser Karl, dem letzten Kaiser Österreichs, gewesen. 1918 hat er auf den Thron verzichtet. Zita indessen hat die Erklärung nicht unterschrieben. Den Habsburgergesetzen zufolge, die von der nunmehrigen Republik Österreich erlassen worden sind, haben der Kaiser und seine Frau Aufenthaltsverbot in Österreich gehabt.

Zita hat ihren Mann um Jahrzehnte überlebt. Obwohl sie Italienerin von Geburt gewesen ist, hat sie immer Österreich als ihre Heimat angesehen. Ihr größter Wunsch ist es gewesen, vor ihrem Tod noch einmal heimzukehren und einer Messe im Stephansdom beiwohnen zu können. Allerdings ist sie immer noch nicht bereit gewesen, die Verzichtserklärung zu unterschreiben. Der Kreisky hat es unmenschlich gefunden, einer alten Frau ihren letzten Wunsch zu verweigern. Deshalb hat er seinen Beamten den Auftrag gegeben, ein paar juristische Schlupflöcher zu finden, um Zita, deren Haltung er insgeheim sowieso bewundert hat, die Einreise zu ermöglichen.

Im Jahr ihres 90. Geburtstags, 1982, hat die Zita unbehelligt von irgendwelchen Gesetzen und Gesetzeshütern nach Wien reisen können. Am 13. November ist es gewesen, da hat Franz Kardinal König in ihrer Gegenwart die Dankesmesse im Stephansdom zelebriert und ihr Haupt gesegnet, wie es früher bei Kaiserinnen üblich war.

Dass der Bruno Kreisky das ermöglicht hat, hat ihm meine Großmutter hoch angerechnet. Im Jahr darauf ist sie erstmals wählen gegangen, ganz gegen ihre Überzeugung, dass Wahlen nur etwas für Männer sind, und sie hat den Bruno Kreisky gewählt. Der hat zwar nicht mehr die absolute Mehrheit bekommen und seine Ära selbst beendet, aber meine Großmutter, die immer nur für den Kaiser gewesen ist, hat jetzt auch den Bruno Kreisky gemocht, obwohl sie als Monarchistin, ihn den Sozi, eigentlich nicht hätte mögen können.

Bruno von der Alten Donau wird dazu weise, wie es Karpfenart ist, mit seinem Karpfenhaupt genickt und gemeint haben, alles sei genau so, wie es sein soll.

Apropos Adel: Also die Reichsgräfin Triangi und der Baron Karl – ich sage Ihnen ...

DIE REICHSGRÄFIN UND DER BARON

Jetzt muss ich Ihnen was erzählen, und zwar von der Reichsgräfin Triangi und dem Baron Karl.

Die Reichsgräfin Triangi ist genau so eine Gräfin gewesen, wie der Baron Karl ein Baron gewesen ist – Sie verstehen schon.

Die Frau Reichsgräfin ist am 6. Mai 1868 in Brünn geboren worden, und damit quasi eine echte Wienerin. Die geborene Beatrice Samek, Tochter eines Seidenfabrikanten, ist bis 1926 dreimal verheiratet gewesen und hat aus Heiratssachen dreimal die Konfession gewechselt. 1926 ist ihr dritter Mann gestorben und die Frau Reichsgräfin war geboren.

Genau genommen, ist die Reichsgräfin Triangi eine Reichsgräfin von Kaiserin Maria Theresias Gnaden, weil ja die Maria Theresia ihr Lebtag nur Herzogin gewesen ist, falls ich das noch nicht erwähnt haben sollte. Der Kaiser ist ihr Mann gewesen, was naturgemäß zur Wiener Titelübertragung aus Schmähgründen führt. Der dritte Mann von der Beatrice ist der Redakteur der „Österreichisch-ungarischen Betriebsbeamtenzeitung“ und ein echter Graf gewesen, Albano Hugo Josef Reichsgraf Triangi hat er geheißen.

So ist die Beatrice Frau Reichsgräfin geworden. Und als Beatrice Cita Albano Antonia Reichsgräfin Triangi, von und zu Latsch und Madernburg, Baronin von Maderno Riedhorst, Freifrau von Tyrol, Trientiner Edeldame hat die exaltierte Witwe eine Karriere als Sängerin, Tänzerin, Flöten- und Mundharmonikaspielerin in Kabaretts, Kleinkunstbühnen und Vorstadtlokalen begonnen. Ein Foto zeigt eine recht füllige Person in einem Fantasiegewand in arabischem Stil eine Querflöte spielend. Das Brauhaus-Restaurant in Simmering hat für die Auftritte der Triangi eine Warnung angebracht: Wichtig! Jede der Reichsgräfin Triangi zugefügte Beleidigung ist verboten und wird sofort gerichtlich verfolgt.

Das lässt darauf schließen, dass der Humor der Triangi ein ganz und gar unfreiwilliger gewesen ist, zumal sie zu ihren musikalischen Darbietungen höchst freizügige Solotänze veranstaltet haben soll. Aber was weiß man? – Vielleicht hat sie ja ganz genau gewusst, was sie kann oder vielmehr: was sie nicht kann, und hat sich ein bisserl auch über sich selbst lustig gemacht und über das Publikum, das einer Dilettantin applaudiert. Jedenfalls hat sie 1928 der „Wiener Sonn- und Montagszeitung“ ein Interview gegeben, und was sie da gesagt hat, kann sie nicht ernst gemeint haben: „Wissen Sie denn nicht, daß man mich für eine Göttin hält, eine Muse? Gott, das mag ja übertrieben sein, aber das Urteil über mich haben schon mehr als einer gefällt. Meine Bildung, meine Kenntnisse seien für unsere Zeiten etwas ganz Ungewöhnliches, überragen sogar weit die Grenzen des Genies. Ich bin Doktor der Philosophie, Juris und Medicinae. Auch habe ich in allen alten Sprachen Staatsprüfungen gemacht.“ Fragen Sie mich jetzt also bitte ja nicht, ob sie in ihrem Fach, so quasi als Groteskdarstellerin, eine gute Künstlerin gewesen ist. Ich kann Ihnen das einfach nicht mit ja oder nein beantworten.

Leider ist das Ende gar nicht heiter. Die Nationalsozialisten haben eben keinen Funken von Humor gehabt und von Menschlichkeit schon gar nicht. Die Triangi ist jüdischer Abstammung gewesen und in ihrer ganzen Art hat sie allem widersprochen, was den Nationalsozialisten wichtig gewesen ist. Die Triangi hat sich zwar schon 1937 von ihrem Publikum verabschiedet, aber das hat ihr nichts genützt. 1940 wird sie für einen knappen Monat von der Gestapo in Haft genommen, danach in die Nervenheilanstalt Am Steinhof gebracht. Dort stirbt sie – angeblich an einer Lungenentzündung.

Was ist das für ein herrlich bunter Vogel gewesen, die Reichsgräfin Triangi! – Seien Sie so gut, trinken wir jetzt unseren nächsten Schluck Kaffee auf sie. Und dann erzähle ich Ihnen vom Baron Karl69.

Der Baron Karl ist grad so ein Baron gewesen wie die Triangi eine Reichsgräfin und die Maria Theresia eine Kaiserin. Wobei die Triangi der Reichsgräfin und die Maria Theresia der Kaiserin näher gewesen sind als der Karl dem Baron. Er hat aber nun einmal so geheißen, nämlich Baron.

In Wien gibt’s halt diesen feinen Unterschied in der Betonung, der aus einem ganz normalen Bürger einen Adeligen macht und umgekehrt. Betonen Sie den Baron auf der ersten Silbe, ist es ein Name, ganz so wie Fiala oder Haberl oder Swoboda. Betonen Sie den Baron auf der zweiten Silbe, ist es – na ja, jetzt heißt’s vorsichtig sein: Es hat in Österreich nie einen Baron gegeben. Der österreichische Baron ist immer der Freiherr gewesen, aber irgendwie haben sich grad die Wiener mit dem Freiherrn nie arrangieren können, darum haben sie den Freiherrn immer Baron genannt.

Der Karl hat jedenfalls Baron geheißen, Betonung, wie Sie sich denken können, auf der ersten Silbe. Ob er Vor- und Nachnamen selbst umgestellt und die Betonung vom Baron um eine Silbe nach hinten verschoben hat, oder ob das auf dem Mist von seinen Hawaran70 gewachsen ist, weiß keiner. Es ist auch nicht wichtig. In die Wiener Stadtgeschichte eingegangen ist der erstsilbig betonte Karl Baron als zweitsilbig betonter Baron Karl – haltaus71, das stimmt auch nicht ganz. Die Lektorin meines Vertrauens kennt eine uralte Frau, die ihrerseits den Baron Karl gekannt hat, und die behauptet steif und fest, in Favoriten72, wo er eine lokale Größe gewesen ist, hat man ihn nicht zweitsilbig betont Baron Karl genannt, sondern man hat den Namen in einem ausgesprochen, also Baronkoal, und das mit Betonung auf der ersten Silbe, und sie weiß gar nicht, wie manche auf die Idee gekommen sind, den Baronkoal jemals anders auszusprechen, obwohl sie weiß, dass es einige gemacht haben.

Sowieso ist der Baron Karl alles Andere gewesen als ein noblichter73 Herr. Der Baron Karl ist ein Sandler74 gewesen. Nach dem ersten Weltkrieg scheint er ein bürgerliches Leben angestrebt zu haben, aber eine unglückliche Liebesgeschichte hat ihn aus der Bahn geworfen. Seither ist er als Sandler durch Wien gezogen. Er hat in Streusandkisten übernachtet oder in einer Erdhöhle am Wienerberg bei den Ziegelteichen, wo er gewissermaßen hergekommen ist. Sein Vater ist nämlich Ziegelarbeiter Am Wienerberg gewesen. Seine Schwester hat dreimal versucht, ihn von der Straße zu holen. Jedesmal hat sie ihm ein Kabinett eingerichtet. Alle dreimal aber widerfährt dem Baron Karl das gleiche: ein Dieb dringt bei ihm ein, und stiehlt ihm seine wenigen Habseligkeiten. „Mochd nix“, soll der Baron Karl gesagt haben, „ea wiad s bessa brauchn oes wia r i.75

Im Favoritner Wochenblatt76 findet sich eine Beschreibung, wie der Baron Karl ausgeschaut hat: „Ein mittelgroßer, rundlicher Mann, das Gesicht von einem wirren Vollbart umrahmt, um den Leib einen weiten Mantel, den er auch als Schlafdecke verwendete, und in dessen unergründlichen Falten zwei Reindln, ein verbogener Zinnlöffel, ein Wecker, eine Geige samt Fiedelbogen und andere Schätze verborgen waren. Sommer und Winter legte er diesen weit von ihm abstehenden Mantel, unter dem er seine ,Einrichtung‘ trug, nicht ab. Auf dem Kopf aber trug er meist ein wahres Unikum von Hut: die Reste eines verbeulten ,Steifen‘. Seine Augen konnten beim Reden lustig blinzeln, bisweilen aber nahmen sie einen melancholischen Ausdruck an. Besonders nach dem reichlichen Genuß von Bierresten, die er aus den fast leeren Fässern vor den Wirtshäusern in sein Reindl zu leeren pflegte. Viele Kinder und Erwachsene umringten ihn oft, aber seltsamerweise spotteten sie kaum über ihn – es lag ein gewisses Etwas über diesem pittoresken Fasseltippler, ein Etwas, das ihm trotz aller Verwahrlosung die Sympathie seiner Mitmenschen eintrug.“

Das Gesicht vom Baron Karl ist wettergegerbt gewesen. Er hat einen struppigen Vollbart gehabt. Von vorne, sagen die Wiener, die ihn noch erlebt haben, hat er ausgeschaut wie der Sokrates und von der Seite wie der Liebe Augustin. Ersparen Sie mir bitte die Frage, wie denn der Liebe Augustin, von dem keiner weiß, wie er ausgeschaut hat, ausgeschaut hat. Ich müsst’ ihnen antworten: Grad so hat der liebe Augustin ausgeschaut wie der Baron Karl von der Seite. Dafür gibt es den Wiener Schmäh als Zeugen, und wenn Sie dem nicht glauben, ist für Sie sowieso Hopfen und Malz verloren in Wien.

Apropos Schmäh: Der hat natürlich um den Baron Karl einen Marathonlauf hingelegt, so grennt ist er, der Schmäh, was halt damit zu tun gehabt hat, dass offenbar nur die Favoritner gewusst haben, wie man den Namen richtig ausspricht. Und die haben es wohl nicht weitergesagt. Einmal nämlich ist das Gerücht umgegangen, der Baron Karl sei ein heruntergesandelter77 Adeliger, dann wieder hat es geheißen, weil man überrascht gewesen ist über die Klugheit vom Baron Karl, er sei ein gefallener Lehrer. Sein Vater hat nämlich, so gut er es als Ziegelarbeiter vermocht hat, bei seinem Sohn auf Bildung geachtet. Deshalb hat der Baron Karl Harmonika gespielt und auch Geige. Gelernt hat er Möbeltischler, aber das Handwerk hat er nur kurz ausgeübt.

Der Baron Karl ist ein gutmütiger Mensch gewesen, nur im Winter hat er an kalten Tagen zu randalieren angefangen und so lang Bahöö78 gemacht, bis die Polizei ihn verhaftet und in den warmen Arrest gebracht hat. Er ist kein richtiger Bettler gewesen. Ein Bettler geht ja auf die Leute zu und bittet sie um eine Gabe. Der Baron Karl hat indessen nie gebettelt. Betteln ist unter seiner Würde gewesen. Er hat kleine Hilfsarbeiten für Wirte und Marktstandler auf dem Viktor-Adler-Markt erledigt, und sowieso haben ihn alle Favoritner gekannt. So haben ihn Wirte und Standler und Branntweiner79, aber auch der eine oder andere, der gewusst hat um seine Lage, eingeladen.

Um die ruppigen Weisheiten vom Baron Karl ranken sich eine Menge Anekdoten, aber niemand weiß, was davon wahr ist und was erfunden, weil der Baron Karl halt wirklich eine lokale Größe gewesen ist. Einmal stänkert ihn so ein hochnaserter Kerl an: „Ich versteh nicht, wie Sie in diesem Dreck leben können. Sie sind ja wie ein Ungeziefer!“ Sagt der Baron Karl: „Sigst, i beitl mein Dreg jedn Dog in da Fruah aus. Mei Dreg is nämlich außn. Oaw Se, liawa Hea, in eanara sauwan Wäsch – se kennan ian Dreg ned ausbeidln. San se gaunz gwiss, dass se ka Ungeziefa san?80

In der NS-Zeit ist er in diversen Obdachlosenheimen untergebracht worden. Vom Stänkern hat er auch da nicht lassen wollen. Den Gauleiter Bürckel81 hat er „Bierleiter Gauckel“ genannt, und ein anderes Mal hat er gesagt: „Wenn einer dumm ist, geht er zum Militär, dort kann er Spieß werden, und wenn er noch dümmer ist, wird er Gauleiter.“

Am 13. Oktober 1948 ist der Baron Karl in der Favoritenstraße von einem LKW der Besatzungsmächte angefahren worden und dabei ums Leben gekommen. Auf dem Wiener Zentralfriedhof ist er beigesetzt worden. Auf seinem letzten Weg sollen ihn rund 10.000 Menschen begleitet haben.

Den Diogenes von Favoriten hat man den Baron Karl genannt. Wahr ist aber auch, dass die Wiener immer ein bisserl zur Verklärung neigen. Obdachlosigkeit und Alkoholismus machen aus einem Menschen in der Regel keinen Weisen, sondern einen armen Teufel. Der Baron Karl ist vor allem eine Bezirkskoryphäe gewesen, weil ihn die Leute zu einer gemacht haben.

Einmal hat der Baron Karl gesagt, sein einziger Wunsch an das Schicksal sei: „I mechat amoe gaach82 in an Himmö einifliang.“ Das ist ihm sicher geglückt.

Übrigens hat man dem Baron Karl die Ehre angedeihen lassen, eine Straße nach ihm zu benennen. Nach dem Obdachlosenguru des vierten Bezirks haben sie eine Wohnstraße im zehnten Bezirk benannt.

Apropos zur Verklärung neigen: Also der Waldheim – ich sage Ihnen …

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23 декабря 2023
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