Читать книгу: «Träume, die im Meer versinken», страница 5

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Kapitel 5

„Ich werde Sie Bella nennen, die Schöne“, sagte Jürgen. Die Urlauberin lachte. „Wir sollten uns duzen“, schlug er vor, „bei der gegenseitigen Sympathie, die uns vom ersten Moment an verbindet.“ Davon hatte sie zwar nichts erwähnt, aber ihn musste man doch einfach hinreißend finden. Seine eigenen Gefühle beschränkten sich auf ein leichtes Interesse.

Bella griff gleich das Du auf. „Bevor du mit mir gesprochen hast und ich dein akzentfreies Deutsch hörte, hielt ich dich für einen Einheimischen, braun wie du bist.“

Na also, solch eine Aussage trug doch gleich dazu bei, den Sympathiefaktor zu steigern. Er strahlte sie an, wie er das bei jeder Frau tat, die ihn bewunderte. „Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor, die benötige ich nicht; nur ein wenig Körpermilch, um meine Haut geschmeidig zu halten.“

„Beim Einreiben möchte ich dir auch gerne einmal behilflich sein“, flirtete sie nun ihrerseits mit ihm.

Am Abend trafen sie sich auf der Uferpromenade. „Sonnenuntergang am Meer, dazu eine gute Flasche Wein“, hatte Jürgen vorgeschlagen. Schick gekleidet wie Bella daherkam, erwartete sie wahrscheinlich den Besuch eines der teuren Restaurants mit Seeblick. Ihre Haare waren wieder sorgfältig geföhnt. Die hochhackigen Schuhe in der Hand tragend, folgte sie ihm hinunter zum menschenleeren Strand, eingehüllt in eine Wolke von Moschusparfüm. Dieser Duft, den Jürgen verabscheute, verursachte ihm Ekel, ja löste sogar leichten Brechreiz aus. Er erinnerte ihn an die Zeit vor vielen Jahren, als seine Mutter plötzlich anfing, jede Woche zum Friseur zu gehen, sich zu parfümieren. „Gefällt dir mein neuer Duft?“, hatte sie sogar scheinheilig seinen Vater gefragt, als ob das ihm zuliebe geschähe. Trotzdem schnupperte Jürgen jetzt an Bellas Haaren, hinter ihren Ohren.

„Hmm, du riechst lecker. Nach Moschus.“

„Du kennst dich gut aus.“

Sie saßen nebeneinander im Sand; er entkorkte die mitgebrachte Rotweinflasche aus dem Supermarkt, legte den linken Arm um ihre Schultern. „Ich hätte dich in ein schickes Restaurant ausführen sollen, aber allein hier am Strand ist es romantischer. Anstatt lauter Musik umschmeichelt das leise Plätschern der Wellen unsere Ohren. Nach dem Sonnenuntergang werden wir unter dem Sternenhimmel sitzen, dazu diese gute Flasche aus dem Keller meines Bruders leeren – er hat nichts dagegen, wenn ich mich bediene, im Gegenteil, er freut sich, wenn ich seine Vorräte zu würdigen weiß.“

Jürgen bot Stangenbrot und Käse an, goss Wein in die mitgebrachten Pappbecher, trank einen Schluck, Bella nippte ebenfalls. „Im Augenblick wohne ich bei meinem Bruder, der sich bereits vor fünf Jahren hier niedergelassen hat. Er ist mit einer Einheimischen verheiratet und an einem hiesigen Bauunternehmen beteiligt. Seitdem habe ich jedes Jahr mit meiner Frau und meiner kleinen Tochter bei ihm Urlaub gemacht.“

„Deine Frau und deine kleine Tochter?“, fragte Bella sichtlich schockiert. Er ging zunächst nicht darauf ein. „Mein Bruder und ich hatten zusammen in Deutschland ein selbständiges Bauunternehmen, das von mir in den letzten Jahren alleine weitergeführt wurde“, erklärte er. „Aber in meinem Beruf als Architekt habe ich genug geschuftet – auch genug verdient – und will mich jetzt zur Ruhe setzten und die Früchte meiner Arbeit genießen. Seit meiner Scheidung alleine lebend, wird das Haus, welches ich mir bauen lasse, nicht zu groß, doch komfortabel: mit Terrasse, Blick aufs Meer, Swimmingpool.“

„Du bist also geschieden?“, fragte sie, hörbar aufatmend.

„Ja, seit drei Jahren.“ Er zeigte zum Horizont. „Schau, es ist so weit, die Sonne geht unter.“ Er legte den Kopf auf ihre Schulter. „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt …“, sang er leise. „Bella, bella Marie …”

Eine Schar junger Leute, Einheimische und Urlauber, ließ sich lärmend und lachend auf mitgebrachten Decken im Sand nieder, unter ihnen die jungen Frauen aus dem Nachbarzelt, die Atomkraftgegnerinnen. Zum Glück hatte er sie bisher ignoriert, so unterließen die beiden es wenigstens, ihm zuzuwinken oder ihn gar zu begrüßen. Chiantiflaschen kreisten in der Runde; selbstgedrehte süßlich riechende Zigaretten – Hasch, Marihuana? – er hatte sich nie für das Zeug interessiert, stets die Finger davon gelassen, sogar von normalen Zigaretten. Das Lachen wurde immer lauter.

„Hallo, Nachbar,“ rief eine der jungen Frauen ihm zu.

„Kennst du sie?“, fragte Bella.

„Nein, sie verwechselt mich mit jemandem. Die sind doch alle besoffen oder bekifft oder beides. Komm, lass uns einen Spaziergang machen. Hier ist es zu laut. Außerdem möchte ich mit dir alleine sein.“

Sie wanderten engumschlungen zunächst über die Uferpromenade, dann durch enge Gassen. Die leicht ansteigende Straße, rechts und links von prächtigen Villen gesäumt, führte aus dem Ort hinaus. In der Bilderbuchnacht mit glänzendem Sternenhimmel, zirpten Grillen, Blumenduft wehte aus den Vorgärten. Jürgen deutete Hügel aufwärts:

„Siehst du dort oben den weißen Bungalow? Er gehört meinem Bruder, bei dem ich zur Zeit wohne. Gleich nebenan die Baustelle, das wird einmal mein Haus.“

Beim Abschiedskuss auf ihre Stirn, eine halbe Stunde später vor dem Hotel Miramare, musste Jürgen sich recken, sie war größer als er. „Träum’ was Schönes, Bella, Bellissima. Vielleicht sogar von mir? Ich werde die ganze Nacht wachliegen und an dich denken. Leider können wir uns morgen tagsüber nicht sehen, weil noch Behördenkram zu erledigen ist, bezüglich meiner endgültigen Aufenthaltsgenehmigung. Außerdem stehen Termine mit verschiedenen Handwerksbetrieben wegen des Neubaus an. Du weißt doch, mit denen hat man stets Ärger. Auf keinen von ihnen kann man sich verlassen. Weder in Deutschland und hier erst recht nicht.“

Den ganzen nächsten Tag verbrachte er an einem Strand außerhalb der Ortschaft. Man muss sich rar machen, umso erfreuter werde ich heute Abend begrüßt, dachte er. Genauso war es. Seine neue Freundin strahlte; sie lud ihn in ein schickes Lokal ein, wollte sich revanchieren.

„Gestern hast du den Wein spendiert, heute bin ich dran mit Bezahlen.“

„Auf keinen Fall“, protestierte er scheinheilig. „Ich möchte nämlich eine Kleinigkeit essen. Meine Schwägerin hat nicht zu Mittag gekocht, weil sie zum Klamotteneinkaufen in der Stadt war. Bei ihr muss es Designermode aus einer ganz bestimmten Boutique sein. Sie ist soeben erst zurückgekommen und schien ein wenig beleidigt, weil ich auf das gemeinsame Abendbrot verzichte. Aber ich konnte es kaum erwarten, dich wiederzusehen.“

„Du bist heute mein Gast.“

Die Kleinigkeit bestand aus einem Vier-Gänge-Menü; Bella trank nur ein Glas Wein, sie hatte ja schon im Hotel gegessen. „Leider kann ich dich vorläufig noch nicht in das Haus meines Bruders einladen“, redete Jürgen mit vollem Mund. „Seine Frau ist eine Einheimische, sehr religiös und schrecklich prüde. Aber wenn wir uns erst näher kennen, bei deinem nächsten Urlaub vielleicht… Bis dahin ist auch mein eigenes Heim fertiggestellt. Du wirst nicht im Hotel, sondern bei mir wohnen – vorausgesetzt, du möchtest das. Einverstanden, Bella, meine Schöne?“ Sie drückte wortlos seine Hand.

Nach dem Essen saßen sie abermals am Strand beisammen. Jürgen zog sein Hemd aus, streifte Schuhe und Strümpfe ab, entledigte sich der Jeans, trug nur noch seine Schwimmhose. Er legte wieder den Arm um sie, ließ den Kopf auf ihre Schulter sinken. „Das Leben hier ist herrlich, und mit dir zusammen sogar perfekt – bis auf einen Wermutstropen: Meine süße dreijährige Tochter, die ich leider viel zu selten sehe und sehr vermisse.“ Er dachte zwar kaum mehr an Julia oder seine Frau Dora; nur Ina spukte immer wieder in unangenehmer Weise durch seine Gedanken. In diesem Augenblick meinte er jedoch, es mache sich gut, rührselige Geschichten über die Kleine, die ihm angeblich so fehlte, zu erzählen.

Lange hielt seine sentimentale Stimmung sowieso nicht an. „Wunderbar, wunderbar“, hauchte er in ihr Ohr, während Bella ihn noch mitleidig betrachtete, „schon vor einem Jahr, ja da war mir klar, du bist wunderbar. – Dieses Lied habe ich mir ausgedacht, als ich dich sehnsüchtig von Weitem beobachtete und gehemmt zögerte, dich anzusprechen.“

Sein Atem kitzelte in ihrem Ohr. Sie kannte diesen uralten Schlager, mit dem ihre Mutter schon vor Jahren genervt hatte, sagte aber nichts, fand ihn auf einmal sogar schön. Wenig später lagen sie engumschlungen im Sand. Bella drängte sich an ihn, streichelte seinen Rücken. Ihre Hand fuhr tiefer, glitt unter den Rand seiner Schwimmhose; er schob sie sanft beiseite.

„Lass uns noch warten, wir müssen uns zunächst besser kennen lernen. Du bist mir zu schade, um gleich aufs Ganze zu gehen. Ich meine es ernst mit dir.“ Sie sah ihn fast ehrfürchtig an.

Beim Abschied weinte Bella – wie erwartet. An einer einsamen Stelle, dort wo der Sandstrand in die Felsenküste überging, kramte sie in ihrer Tasche, holte eine Visitenkarte hervor. Jürgen warf einen Blick darauf, knüllte diese dann zusammen und warf sie fort. Bella sah in überrascht, ein wenig verletzt, an.

„Lass uns unsere Liebe auf die Probe stellen“, erklärte er. Wir werden uns ein Jahr lang nicht sehen, nichts voneinander hören. Wenn du dann zurückkommst und mich immer noch willst, weiß ich, du meinst es ehrlich. Ich warte auf dich. Zwei Menschen sind es, die mir jetzt alles auf dieser Welt bedeuten: Du und meine kleine Tochter.“

Er brachte sie zum Hotel, sah ihr vor dem Eingang lange und eindringlich in die Augen, reckte sich, gab ihr einen Abschiedskuss auf die Stirn und entfernte sich, ohne noch einmal nach Bella, die ihm weinend nachblickte, zurückzusehen.

Abends ging er mit einer Taschenlampe an den Strand. Dort, zwischen den Felsbrocken fand er nach einer Weile was er suchte. Er strich das Visitenkärtchen glatt und steckte es in seine Hosentasche. Wer weiß, wofür so ein Wisch noch einmal nützlich sein konnte.

Dann lag er wieder einmal wach in seinem Zelt und dachte zurück.

Kapitel 6

Claudia, seine neun Jahre ältere Schwester, das schwarze Schaf der Familie, zu der er an jenem verhängnisvollen Nachmittag flüchtete, hatte mit siebzehn ihren ersten Freund, einen zwanzig Jahre älteren, verheirateten Mann, Vater von drei Kindern. Papa tobte, Mama weinte, die Verwandtschaft sprach entrüstet von einem Skandal. Als Claudia merkte, ihr Liebhaber würde niemals seine Familie ihretwegen verlassen, gab sie ihm den Laufpass.

Danach kam es noch schlimmer. Heinz, Claudias neuer Verehrer, war ebenfalls fast zwanzig Jahre älter als sie. Die Eltern reagierten entsetzt, als sie von seiner Vergangenheit erfuhren. Nach einer Betriebsfeier hatte er, obwohl betrunken, sein Motorrad bestiegen und eine junge Kollegin auf dem Soziussitz mitgenommen. In einer Kurve verlor er die Gewalt über sein Fahrzeug, raste gegen einen Baum. Das Mädchen starb noch an der Unfallstelle. Heinz kam mit einem Schädelbasisbruch ins Krankenhaus und später wegen Trunkenheit im Straßenverkehr für einen Monat ins Gefängnis.

Am Abend von Claudias einundzwanzigstem Geburtstag, dem Tag, an dem sie volljährig wurde, kamen die beiden nach einer Feier im Freundeskreis mit dem Motorrad angebraust. Heinz hatte, trotz aller Beteuerungen, nie wieder einen Tropfen Alkohol anzurühren, getrunken. Als die Eltern seine Fahne rochen, verboten sie ihm den weiteren Umgang mit ihrer Tochter und warfen ihn raus. Am nächsten Morgen war Claudia fort, ihr Kleiderschrank leergeräumt. Ein Zettel lag auf dem Tisch: „Bin bei Heinz.“ Mama lief tagelang mit verheultem Gesicht herum. Nach zwei Wochen drückte sie Jürgen Geld in die Hand:

„Du müsstest dir nochmal die Haare schneiden lassen.“ Bisher hatte seine Schwester, von Beruf Friseurin, das erledigt. Jürgen ging zu dem Laden, in dem sie arbeitete.

„Ich möchte von Frau Hallard bedient werden“, brachte er schüchtern vor. Claudia freute sich sehr, ihren Bruder zu sehen.

Was sage ich Mama?, dachte Jürgen beim Nachhausegehen. Sie wird bestimmt wütend, wenn sie erfährt, wer mir die Haare geschnitten hat.

„Wie geht es deiner großen Schwester?“, begrüßte seine Mutter ihn. Der Besuch bei Claudia war also von ihr geplant, um Neues über ihre Tochter zu hören.

Jürgen betrat jetzt regelmäßig den Friseursalon. Dann lud Claudia ihn zu sich nach Hause ein und von da an ging er bei ihr ein und aus. Sein Vater erfuhr nichts davon. Mutter jedoch erzählte er von der kleinen Wohnung, die sie mit ihrem Freund bewohnte, von der Reise nach Bremen, zu Heinz’ Eltern, von dem Gebrauchtwagen, den die beiden sich kaufen wollten, er berichtete ihr alles, nein, fast alles. Öfters muffelte Heinz, manchmal schrie er Claudia an, wenn er Kopfschmerzen, eine auch jetzt nach Jahren noch spürbare Folge seines Schädelbasisbruches, oder getrunken oder beides hatte, davon sagte er zu Hause kein Wort. Einmal haute Heinz ihr sogar in seinem Beisein eine runter. Wer weiß, wie oft er sie schlug, wenn keine Zeugen dabei waren. „Ich habe mich am Schrank gestoßen“, behauptete seine Schwester, als Jürgen sie mit einem blauen Auge antraf.

„Warum bleibst du bei Heinz?“, fragte er.

„Aber wo soll ich denn hin? Zu Hause bin ich unerwünscht. Alleine leben mag ich nicht – wahrscheinlich reicht mein Gehalt auch kaum dafür aus.“

Jürgen war überzeugt, ihr Vater würde sie mit Freuden wieder aufnehmen, wenn sie sich von Heinz trennte. Wenige Tage später strahlte Claudia: „Warum soll ich Heinz verlassen? Er liebt mich und hat mir ganz fest versprochen, nur noch in Maßen zu trinken. Dazu braucht er meine Hilfe. Wenn ich ihn verlasse, verfällt er ganz dem Alkohol.“

Vielleicht ist Heinz bereits süchtig, dachte Jürgen, tröstete sich aber mit dem Gedanken, er kenne nichts davon und seine fast zehn Jahre ältere Schwester sei erfahren und klug genug, um zu wissen, was sie tue. Außerdem konnte er Claudia verstehen. Nüchtern behandelte Heinz seine Freundin liebevoll und zärtlich. Bei Jürgens nächstem Besuch allerdings lief seine Schwester wieder mit verheulten Augen herum.

Die beiden hausten auf der fünften Etage eines Altbaus, ohne Fahrstuhl, ohne Badezimmer, ohne Heizung. Ihr Reich bestand aus Schlafzimmer, Wohnküche, Toilette und einer winzigen Diele. Die Räume waren mit alten Möbeln vom Flohmarkt, Altwarenhändler und Sperrmüll eingerichtet und rochen muffig. Aber Jürgen liebte dieses Heim. In der Wohnküche standen ein Gasherd zum Kochen und ein Ofen zum Heizen. Die Kohlen mussten aus dem Keller heraufgeholt werden. Das war Heinz’ Aufgabe. Meistens ‚vergaß’ er es, Claudia schleppte dann selbst die schweren Eimer die vielen Treppen hoch. Man wusch sich am Waschbecken in der Toilette. Im Winter war es dort eisig kalt. Dann wärmte Claudia eine Schüssel Wasser und seifte sich in der Küche ab.

Jürgen saß auf dem alten Stuhl, dessen vordere Kante leicht beschädigt war. Claudia hatte sich schon mehrmals ihre Strümpfe daran zerrissen. Darum stellte sie ihn eines Tages in eine Ecke. „So, das wird nun dein Besucherstuhl, Jürgen. Du trägst keine Nylon-Strümpfe, die du dir durch Laufmaschen ruinieren könntest.“ Es machte ihm Spaß, einen eigenen Stuhl zu besitzen. Jetzt hockte er allerdings wie ein Häufchen Elend herum. Auf dem Tisch dampfte Kakao in einem blauen Keramikbecher mit weißen Tupfen, Kaffee duftete in einer cremefarbenen Porzellantasse mit rosa Blümchenmuster und Goldrand. Von Claudias Geschirr, das sie auf dem Trödelmarkt und beim Geschirrausverkauf erstanden hatte, sahen keine zwei Teile gleich aus. Jürgen, Kakao nippend und Plätzchen knabbernd, war wie immer fasziniert von der bunten Vielfalt auf dem gedeckten Tisch. Er schluchzte und staunte dabei über sich selbst, weil er trotz seines Kummers noch trinken, essen, Tassen bewundern und atmen konnte.

„Oma hat mir die Wahrheit gesagt. Jetzt weiß ich, warum Mama nicht mehr leben will, Papa bedrückt wirkt, Julia weder laufen noch sprechen kann: Unser Schwesterchen ist geistig behindert. Oma kannte dafür auch medizinische Ausdrücke.“

Down-Syndrom,mongoloid?“

„Ja, so oder ähnlich.“

Seine Schwester erwiderte zunächst nichts. „Ich telefoniere erst mal mit Oma, damit sie sich keine Unruhe macht.“

Sie ging in die Diele. „Ich bin’s, Claudia. Hör mir zu, es ist wichtig“, sagte sie energisch und ließ ihre Großmutter gar nicht zu Wort kommen. Als sie zurück kam, führte sie ihren Bruder zum Sofa, setzte sich neben ihn, nahm ihn in die Arme. Die Geschwister saßen nebeneinander, weinten gemeinsam, trösteten sich gegenseitig. Das Schrillen der Klingel unterbrach ihr Schluchzen.

„Das ist das schwarze Gespenst“, weinte Jürgen. „Ich gehe nicht zu ihr zurück.“

„Wie nennst du Oma?“, fragte Claudia kichernd, während sie auf den Haustüröffner drückte. „Schwarzes Gespenst? Das finde ich gut.“ Nun musste auch Jürgen grinsen.

Es klingelte ein zweites Mal, diesmal an der Wohnungstür. Claudia öffnete; tatsächlich rauschte Oma herein. „Johannes, du ungezogener Junge, wie konntest du nur einfach weglaufen! Zieh sofort deine Jacke an und...“ Sie blickte die grinsenden Geschwister irritiert an und ignorierte die verheulten Gesichter. „So, ihr amüsiert euch, während ich fast gestorben bin vor Unruhe. Glaubt ihr etwa, das wäre gut für mein Herz?“ Sie griff theatralisch nach ihrem ausladenden, schwarz verpackten Busen.

Claudia, die bei dem Namen Johannes die Augenbrauen fragend in die Höhe gezogen hatte, schob Jürgen ins Schlafzimmer. „Wir wollen unter uns Erwachsenen darüber reden“, sagte sie und schloss die Tür.

„Erwachsene?“, höhnte Oma nebenan laut. „Obwohl ihr wie ein Ehepaar zusammenlebt, du und dein Freund, bist du doch nur eine unreife Göre und keine vernünftige Gesprächspartnerin für mich.“

Claudia antwortete leise. Es folgte ein Wortgefecht, das im Flüsterton ausgetragen wurde. Jürgen verstand kein Wort mehr. Dabei waren die Wände dünn, er hörte sogar, wie Claudia den Schrank öffnete, Gläser und eine Flasche auf den Tisch stellte.

„Zum Wohle!“ Das war Oma, diesmal mit ungedämpfter Stimme.

„Zum Wohle“, sagte auch Claudia, nicht Prost wie zu Heinz. Zum Wohle, ist das vornehmer?“, überlegte Jürgen. Schon wieder unverständliches Murmeln und Zischen aus dem Nebenraum. Dann wurden Gläser niedergesetzt. Nach einem kräftigen Schluck aus der Bierflasche wischte Claudia sich immer mit dem Handrücken den Mund ab. Diesmal unterließ sie es sicher und ganz gewiss rülpste Oma nicht wie Heinz. Eine rülpsende Oma – der Gedanke erheiterte Jürgen. Er kicherte schon wieder und erschrak über sich selbst. Vor wenigen Minuten hatte er noch geglaubt, nie mehr in seinem Leben mit Weinen aufhören zu können.

Kurz darauf verließen Oma und Claudia das Wohnzimmer. Sie telefonierten bei der Garderobe in der Diele – Telefon und Waschmaschine waren der einzige Luxus in Claudias Wohnung –.

„Jürgen ist bei mir“, teilte Claudia Mama mit.

Das schwarze Gespenst schien ihr den Hörer aus der Hand genommen zu haben, denn nun schrillte ihre Stimme: „Denk dir, er ist einfach weggelaufen… Nein, völlig grundlos.“

Jetzt war Claudia wieder an der Reihe: „Ja, ja… nein… das erkläre ich dir morgen… ja… dann also tschüss… bis morgen.“ Eine Weile wurde in der Wohnküche noch getuschelt. Bald darauf verabschiedete Oma sich.

„Jürgen“, rief Claudia, öffnete die Tür, steckte den Kopf ins Schlafzimmer, legte den Zeigefinger auf die Lippen, zwinkerte ihrem Bruder zu, flüsterte über die Schulter Oma zu:

„Pst! Er ist eingenickt. All die Aufregung hat ihn wahrscheinlich total erschöpft. Lassen wir ihn weiter schlafen.“

Endlich war das schwarze Gespenst fort. Jürgen schlüpfte wieder ins Wohnzimmer.

„Morgen gehen wir zusammen zu Mama“, sagte Claudia. „Diese Nacht schläfst du hier.“ Jürgen fiel seiner Schwester um den Hals. Bei ihr durfte man das, sie drückte ihn, während seine Mutter ihn bei solchen Gelegenheiten neuerdings beiseite schob. Claudia gab ihm einen Kuss, dann befreite sie sich und räumte Gläser und Flasche vom Tisch.

„Likör“, sagte sie. „Eigentlich sollte ich dieses süße Zeug nicht trinken; es macht dick. Ich habe in den letzten Wochen zugenommen. Meine Röcke spannen um die Hüften.“

Wie kann sie jetzt nur über so unwichtige Dinge reden?, fragte Jürgen sich. Schließlich ist Julia nicht nur mein, sondern auch ihr Schwesterchen.– Aber vor wenigen Minuten habe ich sogar noch gekichert, dachte er schuldbewusst.

Polternd betrat Heinz die Diele. Claudia ging ihm entgegen, schloss die Tür hinter sich. Wieder Tuscheln und Murmeln. Heinz kam ins Wohnzimmer, klopfte Jürgen zärtlich-ungeschickt auf die Schulter. Da musste er abermals ein bisschen weinen.

Am nächsten Tag sahen Mama und Claudia sich zum ersten Mal nach vielen Wochen wieder. Kein Umarmen, kein Kuss, sie gaben einander wie Fremde die Hand, wirkten beide sehr verlegen. Claudia wischte feuchte Spuren von ihren Wangen fort, nahm Julia aus ihrem Laufställchen, hob sie auf den Schoß und strich der Kleinen über den spärlich behaarten Kopf. Mama betrachtete die beiden nachdenklich; Jürgen stand dabei und starrte sein Schwesterchen an. Schräge Schlitzaugen mit ausdruckslosem Blick, wulstige Lippen, ein offener Mund, in dem sich eine dicke Zunge, für den er anscheinend zu klein war, gegen die Zähne wölbte, diese äußeren Merkmale ihres Anderssein, die er bisher nicht beachtet hatte, fielen ihm jetzt auf.

Julia seiberte und Speichel floss auf Claudias Hand. Gelassen angelte sie nach einem Taschentuch, während Jürgen sich mit Ekel und Abscheu abwandte und verzweifelt immerzu dasselbe dachte: Weshalb musste mir das zustoßen? Warum habe ausgerechnet ich eine solche Schwester? Auf diese seine Fragen wusste auch Claudia, die er zur Bushaltestelle zurück begleitete, keine Antwort.

„Niemals mehr“, entfuhr es ihm erbittert, „werde ich mich mit Julia in der Öffentlichkeit zeigen. Ich will nicht neugierig angestarrt werden, keine taktlosen Bemerkungen hören müssen. Es ist mir jetzt auch unmöglich, ihr einen Kuss zu geben. Sie ist mir so fremd. Für mich gibt es nur eine Schwester. Dich!“ Er drückte Claudias Hand.

„Du bedauerst nur dich selbst. Denk doch auch mal an Mama. Wie traurig muss sie erst sein, wenn dir Julias Unglück schon so viel Kummer bereitet!“

Jürgen wischte die Tränen verlegen fort. Doch schon tat er sich wieder selber Leid. „Du hast gut reden. Mich trifft es viel ärger als dich. Julia ist zwar auch dein Schwesterchen, aber du gehst jetzt zurück in deine eigene Wohnung und lebst dein eigenes Leben. Ich habe Julia Tag für Tag um mich, soll sie spazieren fahren, mich anglotzen lassen. Niemals!“ Den Ausdruck du lebst dein eigenes Leben hatte er irgendwo aufgeschnappt. Er fand, das hörte sich ungemein erwachsen an.

Elisa, Ben und Stefan werden schadenfroh sein, wenn erst herauskommt, was mit Julia los ist, dachte Jürgen nach dem Abschied an der Bushaltestelle auf dem Heimweg. Selbst wenn sie mich dazu auffordern sollten, kann ich niemals mit ihnen spielen, im Gegenteil, ich muss ihnen so weit wie möglich aus dem Weg gehen. Nur wenn es unbedingt notwendig ist, verlasse ich in Zukunft das Haus.

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