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Читать книгу: «Gesammelte Schulhumoresken», страница 4

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Mit diesen Worten trat er aus den Bänken heraus und schritt langsam und würdevoll dem Katheder zu. Stirnrunzelnd ergriff er das in diesen Räumen sehr ungewöhnliche Gefäß und wußte es so einzurichten, daß er beim Herabtreten vom Katheder stolperte und langwegs ins Zimmer fiel.

Ein Hallo sondergleichen durchbrauste die Räume Sekundas. Ich versichere bei allen Göttern, es hat ganz über alle Maßen schön geklatscht, und das Wasser floß bis in den fernsten Winkel des Saales. Die Verwirrung wurde noch dadurch gesteigert, daß einige von uns riefen, sie könnten es in einem so feuchten Zimmer nicht aushalten, sie hätten sich neulich erst erkältet, als der Pedell so unsinnig aufgewaschen, und sie bäten um ihre Entlassung. Vier oder fünf wurden in der Tat beurlaubt; dann aber wandte sich der Herr Pastor zu Boxer und sagte:

»Boxer, ich mache Sie von jetzt an für alles verantwortlich, was in diesen Räumen geschieht. Ist morgen wieder etwas auf die Kathederplatte gestellt, so werden Sie die Folgen zu tragen haben!«

Boxer trocknete sich inzwischen die Beinkleider und erwiderte in vorwurfsvollem Tone:

»Also wenn der Schwarz ein Paar alte Stiefel auf den Katheder legt, dann bin ich dafür verantwortlich?«

»Was?« rief Schwarz, »ich hätte ein Paar alte Stiefel auf den Katheder gelegt? Herr Pastor, das muß ich mir doch sehr von dem Boxer verbitten.«

»Ich sage ja nur: wenn«, erwiderte Boxer.

»Still,« gebot der Herr Pastor; »was ich gesagt habe, dabei bleibt es! Und nun rufen Sie den Pedell, daß er hier aufwischt!«

Die Situation Boxers war offenbar eine kritische. Gerade für den folgenden Tag hatten wir uns so etwas Hübsches ausgedacht! Wir wollten dem Herrn Pastor nämlich zwei Eimer auf den Katheder stellen, und Schwarz hatte zu diesem Behufe bereits seiner Tante, bei der er zur Miete wohnte, einen gestohlen. Und nun sollte unser guter Freund Boxer für alle diese Streiche verantwortlich gemacht und vielleicht mit einer mehrtägigen Karzerstrafe belegt werden! Es war nicht zu verlangen, daß wir unser reizendes Amüsement aufgaben; aber ebensowenig durften wir Boxer zumuten, um unseres Gaudiums willen die Räume des Karzers zu beziehen.

Wir überlegten hin und her, ohne zu einem Resultat zu gelangen.

Plötzlich sagte Boxer: »Laßt mich nur machen!«

Am folgenden Tage arrangierten wir die Bescherung, wie verabredet. Boxer war der emsigste, und in der Tat, es war keine kleine Arbeit, denn wir mußten die Eimer glasweise füllen, weil der Pedell sonst Lunte gemerkt hätte. Einer von uns stand Wache, um das Herannahen des Herrn Pastors rechtzeitig anzukündigen.

»Er kommt!« rief es jählings aus dem Munde unseres Warners.

Sofort ergriff Boxer seine Mütze, nahm einen möglichst starken Stoß Bücher unter den Arm und verließ das Lehrzimmer, um sich auf dem Korridor hinter einen der größten Schränke zu stellen.

Zwei Minuten später erschien der Lehrer, und unmittelbar hinter ihm her tappte keuchend und atemlos unser trefflicher Freund Boxer, die Bescherung auf dem Katheder genau ebenso verblüfft anstarrend, wie der Herr Pastor.

– »Boxer! Wo ist der Boxer?« zürnte der entrüstete Schulmann.

»Hier!« rief es hinter ihm. »Entschuldigen Sie, daß ich mich heute verspätet habe.«

Der Herr Pastor biß sich ärgerlich auf die Lippe. Der Tatsache gegenüber, daß Boxer fast mit ihm zugleich ins Zimmer getreten war, konnte er seine Drohung von gestern nicht wohl verwirklichen.

»Heute brauche ich die Eimer wohl nicht auszuleeren?« fragte Boxer triumphierend.

»Schwarz,« sagte der Lehrer, »rufen Sie einmal den Pedell.«

Der Pedell erschien.

»Quaddler,« begann der Herr Pastor in ernstem Tone, »nehmen Sie einmal diese Gefäße da hinweg. Ich mache Sie von jetzt ab dafür verantwortlich, daß solche Ungehörigkeiten sich nicht wiederholen. Stellen Sie sich an den Brunnen, damit kein Wasser geschöpft werden kann, oder lassen Sie Ihre Frau Wache halten. Wozu sind Sie verheiratet?«

»Entschuldigen Sie gütigst,« stammelte Quaddler in höchster Verwirrung, »aber meine Frau war gerade damit beschäftigt, sich anzukleiden, und da mußte ich Kaffee brennen.«

»Brennen Sie Ihren Kaffee von sieben bis acht! Kommen Sie vorher Ihren Pedellpflichten nach! Was ist das für eine Art! Die Eimer da können doch nur von Ihnen herrühren! Warum geben Sie nicht besser auf Ihre Küchengerätschaften acht?«

Quaddler näherte sich dem Katheder.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er. »Das sind allerdings sozusagen zwei Eimer, aber zwischen Eimer und Eimer ist ergebenst ein Unterschied. Meine Eimer sind ganz anders. Und wenn die Herren Sekundaner hinter meinem Rücken solche Sachen da mitbringen …«

»Seien Sie still und machen Sie, daß Sie so schnell wie möglich hinauskommen. Die Eimer können Sie behalten, denn wenn dieselben auch nicht Ihrer Küche entstammen, so bezweifle ich doch, daß die wahren Besitzer sich melden werden.«

Und Quaddler nahm die Eimer und verschwand in den Gängen des Schulgebäudes. Der Herr Pastor irrte sich indes, wenn er glaubte, über fremdes Eigentum so ohne weiteres verfügen zu dürfen. Die Tante meines Freundes Schwarz machte bei der Polizei die Anzeige, es sei ihr am Nachmittage des Dreizehnten ein Eimer gestohlen worden. Die Behörden stellten umfassende Recherchen an; Quaddler mußte zu wiederholten Malen auf das Gericht, und selbst der Herr Pastor ward eidlich vernommen. Schwarz brauchte nicht zu schwören, denn er ist erst fünfzehn Jahre alt, und so lief die Sache höchst günstig ab. Fortes fortuna juvat.

Doktor Veit.
Eine Porträt-Skizze

Zu den reinsten Genüssen meiner Schuljahre zähle ich den Unterricht des originellen Mathematiklehrers Doktor Veit, der uns von Quarta bis Obersekunda den Pfad zur Vollendung führte. Man verbindet gewöhnlich mit dem Begriffe des Mathematikers die Vorstellung eines regelrecht konstruierten Behälters öder, lebloser Formeln: nur im äußersten Winkel dieses Behälters lauert die Individualität eines menschlich fühlenden Wesens. Unser lieber, trefflicher Veit war die verkörperte Widerlegung dieser einseitigen Theorie. Kein Zug seiner charaktervollen Erscheinung erinnerte an die Schablone. Seine innere und äußere Physiognomie entfernte sich himmelweit von jenen typischen Schreckbildern, die alles auf Gleichungen zurückführen, die selbst in der Liebe von positiven und negativen Größen phantasieren und die Erkorene mit dem Parallelogramm der Kräfte an die hochklopfende Brust ziehen. Doktor Veit war vielmehr ein erquickliches Original, in derber Holzschnittmanier ausgearbeitet, aber nirgends geometrisch korrekt. In seinen Lehrstunden herrschte durchaus nicht der Ton der reinen Mathematik. Sein Vortrag war reich an subjektiven Streiflichtern, an reizvollen Impromptus, an ergötzlichen Zwischenfällen …

Erst in Sekunda lernten wir diesen Mann nach dem ganzen Umfange seiner Vorzüge schätzen.

Wenn es elf schlug, und der Xenophon-Interpret, »froh der bestandenen Gefahr,« von hinnen geeilt war, dann erschien in der Tür eine mittelgroße Gestalt mit rötlich angestrahltem Gesicht, den Hut ein wenig im Nacken, um die Lippen ein freundliches Lächeln. Rasch warf er die Kopfbedeckung auf den Tisch neben dem Eingang und schritt beweglich nach dem Katheder, ohne nach pädagogischer Würde zu haschen, ohne in professorenhafter Manier den Rock zuzuknöpfen, ohne an der Brille zu rücken. Mit prüfendem Blick musterte er die lebhaft plaudernde Versammlung und nahm dann halb wie im Traum den Schwamm, der neben der Kreide lag, um ihn mit Wasser zu sättigen. Allerlei groteske Figuren beschreibend, wischte er die große Schultafel ab; dann kehrte er sein freundliches Antlitz von neuem dem schwatzhaften Publikum zu, trommelte mit den Fingern auf die Holzfläche des Katheders und nickte still vor sich hin …

Das währte so drei, vier Minuten. Plötzlich schien er sich zu besinnen, weshalb er hierher gekommen. Mit der Faust auf die Fläche des Lehrpultes schlagend wie ein Tambour, der die Kolonne zum Sturme führt, rief er mit Donnerstimme:

»Allez! vite! vite! vite! wacker! wacker! wacker! Boxer, komme Se mal raus an die Tawel!«

Diese Wendung kehrte in ähnlicher Form als Einleitung zu jeder Lehrstunde wieder. Doktor Veit vermochte sich nämlich gewisser dialektischer Eigentümlichkeiten nie zu entschlagen, namentlich in erregter Stimmung; wenn er im Eifer des Dienstes erglühte, wenn der Zorn ihm die Nerven schüttelte, stets verfiel er dem Banne der Mundart, und seine Mundart war nicht die gefeilteste. In grammatikalischer wie in lexikographischer Hinsicht borgte er bei dem Volke. So ergoß sich ein Hauch echter Urwüchsigkeit und reinen, gediegenen Menschentums über die exklusive Klassizität unseres Gymnasialkatheders.

Boxer stand auf und trat an die »Tawel«, die rechts vom Katheder auf den Holzzapfen der Staffelei ruhte …

»Ich bitt' mer jetzt aus, daß Ihr Ruh' halt't!« rief Doktor Veit kategorisch den hinteren Bänken zu. »Na, Boxer! Allez! vite! vite! Hier ist die Kreide! Schreibe Se emal folgende Gleichung!«

Boxer schrieb und begann hierauf zu Nutz und Frommen der Klasse die Auflösung.

»Halt' mer emal die Gäul' an!« unterbrach ihn Doktor Veit mit der naiv-herzlichen Frische des Volkes. »Möricke, habe Sie das verstande?«

»Jawohl, Herr Professor.«

»So rekapituliere Sie's!«

Möricke versuchte, die mathematischen Wege seines Freundes Boxer nachzuwandeln; bald aber geriet er ins Stolpern.

»Ui! ui, ui! …« rief Doktor Veit abwehrend. »Sie lerne auch Ihr Lebdag nix, Möricke! – Boxer, erkläre Sie's noch emal!«

Boxer begann von neuem und führte die Aufgabe siegreich zum Schlusse.

»'s war gut. Gehn Se auf Ihren Platz. Wenn der Hutzler halb so viel wüßt' wie der Boxer, so wüßt' er zehnmal so viel wie der Möricke.«

»Oh!« erwiderte Möricke, »ich hatte mich bloß versehen. Die Tafel blinkt so, und da hatte ich das x für ein a gehalten!«

»So? Ist's wahr, Hutzler, blinkt die Tawel?«

»Jawohl, Herr Professor. Ich seh' hier so gut wie gar nichts.«

»Knebel, rücke Se mal die Tawel so, daß der Hutzler und der Möricke was sieht!«

Knebel, Heppenheimer und zwei oder drei ihrer Mitschüler sprangen auf, um die Tafel zurecht zu rücken.

»Sie steht zu steil«, rief Hutzler pathetisch.

Heppenheimer beeilte sich, die Hinterbeine des Gerüstes nach hinten zu schieben.

»So blinkt's noch mehr!« rief der tückische Hutzler.

»Allez! vite! vite!« mahnte unser guter Professor. »Zeit ist Geld, sagt der Engländer!«

Heppenheimer rückte und rückte. Mit einemmal kam der Aufbau ins Rutschen. Das Zugreifen der Sekundaner bezweckte nur scheinbar die Rettung. Im nächsten Augenblicke stürzte alles über den Haufen.

Lautes Gelächter. Das Antlitz des Lehrers nahm jählings ein violettrotes Kolorit an. Heppenheimer, der den ganzen Frevel veranlaßt, rieb sich heuchlerisch ächzend die Kniescheibe.

»Für so Posse bedank' ich mich!« zürnte Herr Veit, heftig den Schwamm zerknetend. »Ihr müßt net meine, daß Ihr hier en Hanswurscht vor Euch habt!«

»Die Dielen hier sind so glitschig«, versetzte Knebel.

»Selbst glitschig! Lausbube seid Ihr, die bei jeder Gelegeheit ihre Späß treibe. Jetzt rasch emal die Geschichte da wieder aufgestellt! Und das sag' ich Euch, passiert so etwas wieder, so komm' ich Euch über die Köpp'!«

Bei dieser unparlamentarischen Phrase erhob sich auf den hinteren Bänken ein Gebrumme der Mißbilligung.

Doktor Veit verließ den Katheder.

»Wer hat hier gebrummt? – Was? Er will sich geheim halte? Ich kenn' mein' Pappenheimer, sagt Schiller. Das ist gewiß wieder der miserable Kleemüller gewese!«

Kleemüller fuhr empor, als habe ihn eine Natter gestochen.

»Ich bin's nicht gewesen!«

»Sie sind's gewese, und jetzt halte Sie 's Maul!«

»Ich verteidige nur meine Rechte«, erwiderte Kleemüller.

»So? Na, dann komme Se mal raus an die Tawel!«

»Weshalb?«

»Dummes Geschwätz! Sie solle die nächst' Aufgab' löse. Na, steht die Tawel nun fest? Allez! vite! vite! vite!«

Kleemüller trat heraus und begann zu rechnen.

»Sie mache das viel zu umständlich. Das Verfahre läßt sich wesentlich abkürze. Wisse Sie davon nix?«

»Nein.«

»Sehe Se wohl, daß ich Recht hab'? Sie habe gebrummt; sonst wüßte Se, was hier zu tun ist. Jetzt mache Se, daß Se so schnell wie möglich auf Ihren Platz komme, sonst verzehrt Sie 's Gewirrer!«

Gewirrer! So sprach Doktor Veit in der Tat, wenn er eine gewisse Stufe der Indignation überschritten hatte. Im normalen Zustande sprach er: Gewitter.

Das Antlitz des ehrlichen Mathematikers gewann jetzt wieder den alltäglichen Ausdruck. Die Überzeugung, daß er Kleemüllers Sündenschuld unwiderleglich erhärtet habe, gab ihm die seelische Ruhe zurück. Er fuhr mit dem Schwamm triumphierend über die Tafel und rief dann in freudigster Klangfarbe:

»Aufgepaßt!«

Nun begann er in seltsam geschraubtem Hochdeutsch eine wissenschaftliche Erörterung, die er durch praktische Exempel treffend erläuterte. Ab und zu unterbrach er seine Darlegung mit dialektischen Ausrufen:

»Wann jetzt das Geraschpel an dem Tintefaß net bald aufhört, dann fahr' ich hinein!«

Oder:

»Möricke, Sie hocke wieder da wie e betrunke Kaninche und schlafe mit offene Auge!«

Oder:

»Knebel, sage Se doch dem Pedell, er soll sein Küch' zumache. Mer riecht wieder im ganze Haus, was gekocht wird.«

Gegen Ende der Stunde ward Doktor Veit in der Regel ein wenig heiser. Er litt nämlich an einer leichten Entzündlichkeit der Mandeln, war jedoch im übrigen der kräftigste und gesündeste Mensch unter der Sonne. Wenn sich dieses Gefühl bei ihm regte, so holte er tief Atem, legte die Hand vor den Kehlkopf und schüttelte bedenklich das Haupt. Dann murmelte er halblaut:

»Ja, ja, die Flöt' hat bald ausgepfiffe!«

Oder:

»Lang werde mir's net mehr mitmache: übers Jahr um die Zeit sind die Quetsche gegesse.«

Endlich erscholl die Pedellglocke.

War es Sonnabend, so hatte der Lehrer die Verpflichtung, mit der Klasse ein Schlußgebet anzustimmen. Für Doktor Veit, den ausgesprochenen Materialisten, eine schreckliche Aufgabe! Seufzend holte er das schwarze, unheilverkündende Buch hervor und suchte sich unter den zweihundertundfünfzig Gebeten das kürzeste aus.

»Da, Knebel, lese Sie's vor! Allez! vite! vite!«

Und Knebel begann zu lesen:

»Vollendet ist das Werk dieser Woche. Du, Herr, hast es vollenden helfen! …«

Doktor Veit, der mit gefalteten Händen auf dem Katheder stand und auf den Schwamm blickte, wechselte während der Lektüre mindestens achtmal sein Standbein und atmete erst wieder auf, wie Knebel das Amen flüsterte. Jetzt drängte die Klasse stürmisch dem Ausgange zu.

»Halb so wild!« rief Doktor Veit, seinen Hut ergreifend. »Festina lente, sagt der Lateiner!«

Und somit schritt er behaglich der Treppe zu.

Im Erdgeschoß begegnete er dem Pedell.

»Höre Se mal, Quaddler, ich hab's Ihne schon sage lasse: Wenn Sie wieder Kraut koche, dann mache Se gefälligst die Küch' zu. Es riecht hier so schon net grad' nach Ambra und Roseöl.«

»Aber erlauben Sie gütigst, die Tür war fest verschlossen, und der Geruch muß sozusagen durchs offene Fenster gestiegen sein. Insofern es übrigens auch ein ganz vortreffliches Kraut war.«

»Mache Se mer die Gäul' net scheu, Quaddler! Sie wisse nun, was ich gesagt hab'. Richte Sie sich danach. Und was ich noch weiter bemerke wollt': Lasse Sie doch drobe ans Tawelgestell e paar Hake mache, daß die Geschicht net alle Naselang auseinannerrutscht.«

»Schön, Herr Professor. Inwiefern soll ich die Haken denn machen lassen?«

»Ich werd' Ihne das später erörtern! Jetzt hab' ich kein' Zeit!«

Er räusperte sich.

»Ach ja,« stöhnte er vor sich hin, »ewig is mer geplagt! Das nimmt kein gut' End'! Heut' übers Jahr wirft mer mit meine Knoche die Birn' ab.«

»Ganz gehormster Diener, Herr Professor.«

Und nun begab sich unser trefflicher Mathematiklehrer ins Gasthaus »Zur Sonne«, wo er einen kolossalen Appetit entwickelte. Die Empfindlichkeit seiner Mandeln ließ nach, und den Zahnstocher zwischen den Lippen, wagte er die schöne Versicherung: »Es is immer noch kein schlecht Lebe auf der Welt. – Schorsch, bringe Se mer noch e Flasch Niersteiner!«

Erinnerungsbilder

Das beglückende Lenzgefühl, das der Mai durch alle Adern gießt, wird mir durch eine unauslöschliche Erinnerung zu einem wahren Rausch der Wonne gesteigert. Ich denke nämlich, wenn die Fluren und Wälder sich neu begrünen, an die Jahre zurück, da ich dies erquickende Schauspiel durch den steifen, weißgestrichenen Rahmen eines großen Schulfensters beobachten mußte und dazu verurteilt war, die entzückendsten Stunden des Frühlings vor dem Katheder höchst würdiger und höchst gelehrter Männer zu verbringen. Aus den benachbarten Gärten klang das Konzert der Vögel herüber in die dumpfigen Schulräume, aber die ernsten Männer mit den großen Rundbrillen hatten kein Ohr für diesen melodischen Zauber: sie redeten von Sprachgebräuchen, Anakoluthen, Konjunktionen, Schreibfehlern und Anachronismen, – ebenso wirr und zusammenhanglos, wie ich diese verschiedenen Gesichtspunkte ihrer pädagogischen Tätigkeit hier aneinander reihe. Anstatt die Lebensweisheit von den grünen Blättern der Natur abzulesen, mußten wir uns mit dem herumschlagen, was auf den gedruckten stand; sei es nun, daß ein Chorgesang des Sophokles oder eine schwungvolle Rede Ciceros, sei es, daß eine Gleichung aus der analytischen Geometrie, oder daß eine Frage aus der Kirchengeschichte unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

Ich seufzte dann oft heimlich über die Tyrannei der modernen Zivilisation und warf über den Rand meiner Bücher und Hefte hinaus sehnsuchtsvolle Blicke nach den lauschigen Baumwipfeln, die so wonniglich im linden Westwinde rauschten.

Drüben auf dem tannbewachsenen Hügel, etwa eine halbe Stunde vom Städtchen entfernt, lag die Liebigshöhe, so genannt nach dem großen Chemiker, dem die dankbare Bürgerschaft kein beredteres Denkmal ihrer Hochachtung zu stiften wußte, als daß sie einen Bierkeller – das Schätzbarste, was eine germanische Bürgerschaft besitzt – nach seinem Namen taufte. Dort hatten wir verfassungswidrigen Primaner mehr als einmal »eine Orgie gefeiert«, – wie der Direktor sich ausdrückte, wenn er unsere Zechgelage entdeckte und uns mit mehrtägiger Karzerstrafe belegte. Auch war die Liebigshöhe ein beliebter Sammelplatz für solche Insassen der Stadt, die sich einer zahlreichen Familie erfreuten; denn es war nirgends so billig, wie hier im Schatten der Tannen, ganz abgesehen davon, daß außer Bier, Kaffee und Kuchen nichts verabreicht wurde. Zu den Töchtern dieser Familien gehörte auch Jenny, die blonde, schlanke, blauäugige Jenny, an die ich bereits in Unterprima eine Reihe hervorragender Liebeslieder gestaltete, während ich sie in Oberprima zur Heldin eines fünfaktigen Trauerspiels erkor …

Wenn ich so von meinem Platz aus das zierliche Gehöft mit dem braunroten Dach und den blinkenden Fenstern aus der blauen Ferne herüberlächeln sah, so zogen all diese Bilder in bunter, beglückender Reihe durch mein Gemüt, und ich begann immer lauter zu seufzen und immer schwerer den Zwang zu empfinden, der mich an diese harten Subsellien fesselte …

Mit einemmal wurde ich durch die dröhnende Anrede des Direktors oder eines seiner ebenso pflichttreuen Kollegen daran erinnert, daß ich noch Sklave war und nicht das Recht hatte, meine Phantasien während der hochwichtigen Erklärung eines griechischen Tragikers über Berg und Tal wandern zu lassen.

»Sä sänd wäder änmal nächt bei der Sache!« klang es von den Lippen des erzürnten Philologen Doktor Samuel Heinzerling, desselben, der später mit meinem unvergeßlichen Freunde Wilhelm Rumpf das denkwürdige Rencontre in den Räumen des Karzers hatte. Die Worte trafen mich stets wie ein Blitz aus heiterem Himmel, denn ich war in der Tat durchaus nicht bei der Sache und mußte es stillschweigend über mich ergehen lassen, wenn Heppenheimer mich auf den Wink des Autokraten als »onaufmerksam« ins »Tagebooch« einschrieb.

Wie oft habe ich, noch ehe es halb schlug, die Uhr in die Hand genommen und auf dem Rand meiner Virgilausgabe Buch geführt über jede verstrichene Minute! Das gelangweilte Herz glaubte durch diese Kontrolle den Gang dieser trägen Zeit zu beflügeln; aber es war unglaublich, wie bleischwer trotz aller Machinationen die Augenblicke dahinzogen. Ein Triumphgeschrei klang durch die Seele, wenn man mit großen lateinischen Lettern »drei Viertel« notieren durfte. War man von dem Aufzeichnen dieser einzelnen Zeitstadien ermüdet, so erging man sich wohl auch in Epigrammen, deren schweres, molossisches Versmaß die Stimmung des niedergedrückten Gemüts versinnlichte. Der Kern ihrer Wehklagen ließ sich in den Ausruf zusammenfassen: »Will's denn heute wieder einmal gar nicht ›ganz‹ werden!« Ganz! Das war das erlösende Wort! Ganz! Was lag nicht alles in diesen vier Buchstaben, zumal wenn sie sich auf den Schluß der letzten Stunde, also auf vier Uhr nachmittags, bezogen. Und wenn nun gar Quaddler, unser ehrlicher Pedell, sich um ein paar Minuten verrechnet hatte und zu früh klingelte, – wie jauchzten wir da empor beim Gedröhne seines heiseren Metalls! War es doch das Signal der Freiheit, das er uns gab, und »die Freiheit schmeckt süß«, selbst in Prima.

Der geneigte Leser hat vielleicht ein paar Söhne auf dem Gymnasium und fängt an, diese Skizzensammlung für die Verbreiterin unsittlicher Ideen zu halten; aber ich kann ihm nicht helfen. Wenn er sich selber des Jubels nicht mehr erinnert, der ihm bei der Kunde von dem Schluß der Gymnasialexerzitien durch alle Fibern zuckte, so ist dies ein individuelles Unglück: ich meinesteils trage das Bild jener Zeit mit unverblaßten Farben im Busen und fühle fast stündlich ein gewisses Behagen, daß ich nicht mehr verpflichtet bin, nachmittags um zwei meine Bücher zusammenzuschnüren und nach der alten Spelunke zu traben, die mir die herrlichsten, sonnigsten Maitage gestohlen hat.

Worin besteht denn die Glückseligkeit des jungen Studenten anders, als in dem Bewußtsein, daß er aufgehört hat, dem Bann des Gymnasiallebens anzugehören?

Ich finde hierüber bei Hermann Grimm, dem geistvollen Novellisten, eine sehr bezeichnende Stelle.

»Ich war achtzehn Jahre alt«, schreibt dieser feine Beobachter menschlicher Verhältnisse, »und eben erst Student geworden. Das ist ein Übergang im Leben, wie wenige. Man ist mit einem Schlage aus einem ungewissen Wesen ohne Bedeutung zu einem Manne mit Titel, Rang und gegründeten Ansprüchen umgeschaffen. Man hat Geld zu seiner Verfügung, kann arbeiten, was und wie man will, und darf den Genuß des Lebens von den Bäumen pflücken, wo die Früchte am lockendsten aus dem Laube leuchten. So griff ich das Leben an: ohne kopfhängerische, einsiedlerhafte Neigung war ich ein vergnügter Student und wußte nur vom Hörensagen, daß es eine Zukunft gebe; die Vergangenheit war mir ein unbekanntes Land geworden, zu dessen Ufern die Erinnerung niemals zurückkehrte. Was konnte ich Größeres verlangen? Ein Palast, um darin zu studieren, berühmte Gelehrte, die uns »meine Herren« anredeten, die mit wunderbarer Höflichkeit Kenntnisse und Eifer bei uns voraussetzten, eine große Stadt, in der es sich frei und unbehelligt lebte, freie Abende, Nächte (wenn wir wollten), Theater – für einen Studenten gibt es keinen unerfüllten Wunsch.«

Aus diesen Zeilen spricht ganz dasselbe Gefühl, dem ich in den oben stehenden Worten Ausdruck verliehen habe. Im Winter läßt man sich die Sache zur Not noch gefallen. Man begeistert sich für Antigone, obgleich der Umstand, daß man die Tragödie des unsterblichen Meisters in minimalen Bruchteilen zu sich nimmt, sehr geeignet ist, dieser Begeisterung Abbruch zu tun. Man übt sich im lateinischen Stil, denn man kann einmal Reichstagsabgeordneter werden und in die Lage kommen, das »timeo Danaos« oder das »nil humanibus arduum est« zitieren zu wollen. Man fertigt deutsche Aufsätze nach klassischen Vorbildern, denn eine gewisse Leichtigkeit im Ausdruck ist allezeit nütze, sei es nun, daß man sich auf die Schriftstellerei wirft, was bei den Gymnasiasten von heutzutage die Regel ist, oder daß man als Hotelbesitzer lange Rechnungen verfertigt, die unter Umständen mehr einbringen als die Schöpfungen der Novellistik. Alles das geht im Winter, denn Schnee und Regen sind keines Menschen Freund, und im Feld und auf der Heide ist wenig zu suchen, wenn der Nord durch die kahlen Zweige der Buchen fegt. Aber im Frühling, sobald die ersten Lerchen ins Blaue steigen, ändert sich diese Sachlage. Dann wird der Zwang, auf die Vorträge eines Doktor Samuel Heinzerling zu lauschen, zur qualvollsten Sklaverei, und die Sehnsucht nach den Umarmungen der Mutter Natur macht jeden wissenschaftlichen Ernst zuschanden.

Das Bewußtsein, daß ich einst in diesen Ketten geschmachtet habe und jetzt frei bin, frei wie der Vogel in der Luft, dieses süße Gefühl des Nicht-Gymnasiastentums bildet jetzt eine der vornehmsten Würzen meines Frühlingsgenusses.

Aber die Medaille hat ihre Rückseite. Nicht selten rächt sich die Vergangenheit für den stillen, triumphierenden Hohn, mit dem ich ihrer gedenke, – und nachts in den entsetzlichsten Traumgesichtern kehrt sie mir zurück und schreckt mich mit der Maske der Gegenwart. Ich sehe mich trotz meines Doktordiploms, das bereits vor acht Jahren lügnerischerweise behauptet hat, ich sei ein vir perdoctus, und trotz des würdevollen Bartwuchses, den ich mir im Laufe der letzten zwei Lustra anzueignen wußte, von meinen ehemaligen Schulkameraden umringt in dem Saale der Prima, und vor mir steht die fragwürdige Gestalt des Doktor Samuel Heinzerling oder eines seiner gestrengen Kollegen. Das Verhängnis drückt mir einen lateinischen Klassiker in die Hand und verlangt von mir, ich solle exempli gratia das erste Kapitel der Rede Ciceros pro Roscio Amerino ins Griechische übersetzen. Ich überfliege den lateinischen Text mit fiebernden Blicken und gewahre sofort, daß mir für einige der notwendigsten Ausdrücke die griechischen Vokabeln fehlen. Mein Nachbar, ein fleißiger und gewissenhafter Schüler, der in den Tagen meiner wirklichen Primanerschaft stets aufs pünktlichste präpariert war, scheint diesmal ausnahmsweise faul gewesen zu sein, wie ich. Ich gebe ihm alle erdenklichen Signale mit dem Ellbogen, mit den Füßen, mit den Knien; ich raune ihm zu: »Mensch, Du bist des Todes, wenn Du mir nicht Dein Wörterbuch vorschiebst!« Aber er rührt sich nicht.

»Non,« klingt die Stimme meines Peinigers, »wollen Sä non bald anfangen? Sä scheinen mär wäder änmal nächt gehöräg vorbereitet.«

Ich lege die Hand aufs Herz.

»Aber, Herr Direktor,« stammle ich treuherzig, »ich kann Sie aufs bestimmteste versichern …«

Ich hoffe durch diese bestimmte Versicherung nur Zeit zu gewinnen, aber Samuel Heinzerling unterbricht mich.

»Sein Sä mer ställ«, sagt er in wegwerfendem Tone; »äch weiß zor Genöge, was äch von Ähren bestimmten Versächerongen zo halten habe. Öbersätzen Sä jetzt das Kapätel ins Grächäsche, oder gäben Sä zo, daß Sä nächt nach Geböhr präparärt sänd!«

Mit einem verzweifelten Entschluß beginne ich:

»Credo ego vos judices mirari … ϓμᾶς μὲν, ὦ ἄνδρες δικασταὶ, θαυμάζειν ἐγῷμαι …«

»Goot«, sagt Samuel Heinzerling; »non weiter!«

Da haben wir's! Das nächste Wort, summi, ist zwar ein ganz gewöhnliches, und ich weiß genau, daß ich die entsprechende griechische Vokabel mindestens hundertmal angewandt habe; jetzt aber, im entscheidenden Augenblicke vor den Schranken Doktor Samuel Heinzerlings, bin ich mit aller Kraft nicht imstande, die fluchwürdigen paar Silben aus meinem Gedächtnis heraufzubeschwören.

»Summi …« sage ich, »ja, summi, das heißt … es kommt darauf an, wie man das hier auffaßt; nämlich insofern … summus kann verschiedenerlei bedeuten. Wenn wir z. B. sagen, summus mons, so ist das etwas anderes, als wenn wir sagen, summa cum laude …«

»Bleiben Sä bei der Sache; öbersätzen Sä sommä mit dem änzägen bezeichnenden grächäschen Wort ond lassen Sä alle Omschweife!«

»Also,« stammle ich, während mir der helle Angstschweiß auf die Stirne tritt, »summi … Credo ego vos judices mirari, quid sit, quod cum tot summi …«

»Das Lateinäsche können wär ons sälbst lesen. Sä scheinen mer nächt recht zo wässen, was sommä auf Grächäsch heißt.«

»O gewiß, Herr Direktor; es fragt sich nur, ob wir das Wort hier figürlich auffassen, oder ob wir seine eigentliche Bedeutung …« (mit gedämpfter Stimme zum Nachbarn:) »Du, summi, Himmelkreuzdonnerwetter, lege mir doch Dein Heft hin!«

Mein Nachbar rührt sich nicht.

»Was haben Sä da eben zom Schwälble gesagt? Er soll's Ähnen wohl einflöstern? Korz ond böndig, wässen Sä, wä Sä sommä zu öbersätzen haben oder nächt?«

»Summi … natürlich … ich nehme das hier bildlich von den geistigen Eigenschaften.«

Der Direktor schüttelt unwillig mit dem Kopf und sucht mit der rechten Hand in der Westentasche nach dem Bleistift, um mir die Note »ongenögend« anzumalen.

Der Angstschweiß rinnt mir jetzt bereits literweise von der Stirn. Aber noch gebe ich meine Sache nicht verloren. Ich entsinne mich, daß griechisch καλὸς κἀγαθός eine hervorragende sittliche Eigenschaft bedeutet, und versuche ganz glatt weg, dieses summi auf die angedeutete Weise zu übertragen.

»Sä sänd wäder änmal faul gewesen«, ruft jetzt Heinzerling in schnarrendem Tone.

»Καλὸς κἀγαθός,« hauchte ich noch mit der letzten Kraft meines Mundes, »κἀγαθός, das heißt, ich wollte mir die ganz ergebene Bemerkung erlauben, ich war gestern unwohl, und wir hatten Besuch, und mein Onkel war da, und dann hatte ich noch gestern die Korrektur meiner neuen Novellen zu lesen, die dieses Jahr erscheinen, und die ich Ihnen nicht dringend genug empfehlen kann.«

»Was? Novellen wollen Sä schreiben ond wässen nächt änmal, wie sommä auf Grächäsch heißt? Wässen Sä was, Sä täten auch besser, Sä öbten säch ärst noch ein wenäg in den Elementen der Scholbäldong, ehe Sä säch daran machten, einem denkenden Volke geistige Nahrong onterbreiten zo wollen. Wenn mer än Mänsch sagt, er schreibt Novellen, so wärft das ein sehr schlechtes Lächt auf seinen Läbenswandel, ond korz ond got, Sä gehn mer sechs Stonden auf den Karzer. Schreiben Sä änmal ein, Heppenheimer: ›Doktor Ernst Eckstein wägen ongenögender Vorbereitong ond vorsätzlichen Novellenschreibens mit sechs Stonden Karzer bestraft‹. Knöpke, holen Sä einmal den Pedellen.«

Jetzt wird mir die Sache zu bunt.

»Was, Herr Direktor? Sie wollen sich hier über meinen schriftstellerischen Beruf ereifern? Sie wollen mir Verhaltungsmaßregeln erteilen in Angelegenheiten, von denen Sie nicht das geringste verstehen? Das übersteigt denn doch alles, was mir bis jetzt in meiner Praxis vorgekommen ist! Augenblicklich verlassen Sie das Zimmer! Augenblicklich, sage ich, oder Sie sollen mich von einer Seite kennen lernen, die Ihnen schwerlich gefallen wird.«

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
28 сентября 2017
Объем:
260 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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