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TAG ZWEI

Es war kurz nach neun, als ich erwachte.

Während ich langsam zu mir kam, erinnerte ich mich an die Geräusche, die ich in der Nacht gehört hatte. Ich lauschte, doch jetzt war alles ruhig. Zu ruhig für meine Begriffe. Ich konnte nicht einmal den Verkehrslärm auf der Straße vor dem Haus hören, den ich sonst sofort nach dem Aufwachen registrierte, obwohl mein Schlafzimmer nach hinten hinausging, wo es nur einen Hinterhof gab.

Ich stand auf, ging zuerst ins Bad und anschließend in die Küche, um mir eine Kanne Kaffee zu kochen, damit ich richtig wach wurde. Während die Maschine den Kaffee aufbrühte und die Luft mit aromatischem Kaffeeduft erfüllte, zog ich mir eine hellgraue Jogginghose und ein schwarzes Henley-Shirt über und schlüpfte in meine Turnschuhe. Anschließend schnappte ich mir meinen Schlüsselbund und schlappte nach unten, um die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen. Ich wohne im ersten Stock, deshalb nahm ich die Treppe. Mit dem altersschwachen Aufzug hätte ich dreimal so lange gebraucht.

Als ich das Erdgeschoss erreichte und an der Wohnungstür von Herrn Winter vorbeikam, hörte ich ein rhythmisches Klopfen. Ich blieb stehen und lauschte. Es hörte sich an, als schlüge jemand mit der Faust gegen die Wand. Ich konnte mir nicht vorstellen, wieso der alte Mann, der ein pensionierter Finanzbeamter und leidenschaftlicher Jäger war, so etwas tun sollte. Ich überlegte, ob ich mir Sorgen machen musste, schließlich war der Mann nicht mehr der Jüngste. War er gestürzt? Hatte er einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt erlitten? Lag er nun hilflos am Boden und klopfte gegen die Wand, um jemanden auf sich aufmerksam zu machen? Die Schläge erschienen mir dafür viel zu kräftig. Und wieso rief er stattdessen nicht um Hilfe, wenn er sogar in der Lage war, so fest gegen die Wand zu hämmern?

»Herr Winter?«, rief ich, nachdem ich mich der Tür genähert hatte, und legte mein rechtes Ohr ans Holz.

Die Schläge verstummten abrupt. Wer immer für den Lärm verantwortlich war, hatte mich gehört. Sonst erfolgte allerdings keine Reaktion.

»Alles in Ordnung bei Ihnen, Herr Winter?«

Doch erneut erhielt ich keine Antwort. Wer immer geklopft hatte, verhielt sich nun mucksmäuschenstill. Ich wusste daher nicht, was ich von der Sache halten sollte. Wäre der alte Mann tatsächlich in Not gewesen, hätte er jetzt bestimmt in irgendeiner Form auf meine Rufe reagiert. Die Stille, die nun – wie übrigens im ganzen Haus – herrschte, war merkwürdig und irgendwie auch unheimlich. Ich spürte, wie sich meine Nackenhärchen aufstellten und auf meinen Armen eine Gänsehaut bildete. Ich hatte plötzlich das irrationale Gefühl, jemand oder etwas in Herrn Winters Wohnung würde mich belauern.

Was sollte ich jetzt tun?

Ich streckte bereits die Faust aus, um gegen die Tür zu klopfen, während sich mein Herzschlag beschleunigte und mir der Schweiß ausbrach. Das Gefühl, belauert zu werden, wurde immer stärker. Es kam mir vor, als wartete irgendetwas in der Wohnung nur darauf, dass ich anklopfte, um dann blitzschnell die Tür aufzureißen, mich zu packen und ins Innere zu zerren.

Bescheuert, ich weiß, aber so war es nun einmal.

Noch ehe mein Fingerknöchel das Holz berührte, schüttelte ich den Kopf und zog rasch die Hand zurück. Schließlich konnte das Geräusch, das längst verstummt war, auch genügend andere, völlig harmlose Ursachen haben, ohne dass man gleich an das Schlimmste denken musste. Ich würde einfach später, bevor ich zum Einkaufen ging, noch einmal vorbeischauen.

Ich wandte mich schulterzuckend ab und ging weiter in Richtung Haustür, wo die Briefkästen an der Wand hingen. Meine Erleichterung, einen vernünftigen Grund gefunden zu haben, um nicht an die Tür der Wohnung klopfen zu müssen, war völlig irrational, gleichwohl aber riesig. Aus diesem Grund beruhigte sich mein Herzschlag auch rasch wieder.

Als ich zu den Briefkästen kam, sah ich sofort, dass es an diesem Morgen keine Tageszeitung gegeben hatte, denn normalerweise steckten die Zeitungen nur zur Hälfte in den Schlitzen. Ich öffnete trotzdem meinen Briefkasten und stellte bedauernd fest, dass er leer war.

Ich seufzte. Zuerst die komischen Geräusche aus Herrn Winters Wohnung und jetzt auch noch die fehlende Zeitung. Der Tag ging ja gut los!

Ob das etwas mit den Geräuschen von letzter Nacht zu tun hatte?

Blödsinn!, antwortete ich mir selbst und schüttelte den Kopf.

Mir fiel erneut auf, dass es vor dem Haus für einen Samstagvormittag noch immer verdächtig still war. Unsere Straße ist zwar keine Hauptverkehrs- oder Durchgangsstraße, normalerweise aber dennoch ziemlich belebt.

Ich ging zur Tür, öffnete sie und trat auf die Türschwelle, während ich die schwere Holztür aufhielt. Dann schaute ich in beide Richtungen und konnte im ersten Moment nicht glauben, was ich sah. Sowohl die Fahrbahn als auch die beiden Bürgersteige waren leer und verlassen. Kein einziges Auto fuhr durch unsere Straße, während ich dort stand. Und ich entdeckte auch niemanden, der zu Fuß unterwegs war. Die einzigen Fahrzeuge, die ich sah, waren leer und parkten auf beiden Seiten der Fahrbahn.

»Was ist denn hier los?«, fragte ich mich laut und schüttelte erneut den Kopf. Erst als ich meine eigene Stimme hörte, fiel mir auf, wie gespenstisch still es war. Das Einzige, was ich neben dem eigenen Herzschlag hören konnte, war das Zwitschern eines Vogels in der Nähe. Ansonsten war es geradezu totenstill.

Ich wusste nicht, warum mir ausgerechnet dieses Wort eingefallen war – eine Vorahnung möchte ich es nicht unbedingt nennen –, aber meine Wortwahl behagte mir nicht, weil sie unangenehme Assoziationen nach sich zog.

Was geht hier eigentlich ab?, fragte ich mich erneut, dieses Mal allerdings nur in Gedanken, während ich mich nach einem letzten Blick in die Runde wieder ins Haus zurückzog. War heute ein Feiertag, und ich hatte nichts davon mitbekommen? Unmöglich! Fronleichnam war vor gut einer Woche gewesen, und bis August gab es keine weiteren Feiertage. Ich muss das wissen, schließlich bin ich Lehrer. Was war dann der Grund, dass die Straße vor dem Haus und das ganze Viertel wie ausgestorben wirkten?

Die Tür fiel laut knallend ins Schloss. In der Stille kam es mir lauter als sonst vor. Es klang wie ein Sargdeckel, der mit voller Wucht geschlossen wurde.

Wieso musste ich plötzlich ständig Vergleiche ziehen, die sich um den Tod und das Sterben drehten? Totenstille! Sargdeckel! Und dann noch dieses irrwitzige Gefühl, etwas in Herrn Winters Wohnung hätte mich belauert, als ich vor seiner Tür gestanden hatte.

»Idiot!«, schalt ich mich und schüttelte den Kopf, als wollte ich damit alle merkwürdigen Emotionen und irrationale Gedanken abschütteln wie ein Hund die Regentropfen in seinem Fell. Dann atmete ich einmal tief durch und setzte mich wieder in Bewegung, um nach oben zu gehen. Nach einer Tasse Kaffee sah ich die Sache vermutlich schon wieder nüchterner und sachlicher. Und vielleicht hatte ich bis dahin auch herausgefunden, was wirklich für die unnatürliche Stille verantwortlich war.

Als ich erneut an Herrn Winters Wohnungstür vorbeikam, blieb ich kurz stehen, um zu lauschen. Doch von drinnen war nichts zu hören. Weder das rhythmische Klopfen noch sonst ein Geräusch.

Während ich die Stufen nach oben ging, fragte ich mich, ob Deutschland vielleicht Fußballweltmeister geworden war und deshalb alle anderen irgendwo feierten. Doch ich verwarf diesen Gedanken sofort wieder, denn obwohl ich mich wenig für Fußball interessierte, wusste ich zumindest, dass es bis zum Finale noch ungefähr zwei Wochen waren.

Ich kehrte in meine Wohnung zurück und schloss die Tür. Obwohl die Empfindung ebenso irrational war wie manch andere, die ich an diesem merkwürdigen Morgen schon gehabt hatte, fühlte ich mich sofort sicherer. Ich verzichtete dennoch darauf, von innen abzuschließen und die Sicherheitskette vorzulegen, um mir nicht noch paranoider vorzukommen.

Ich schenkte mir eine große Tasse Kaffee ein und ging damit ins Wohnzimmer. Dort öffnete ich die Balkontür und trat nach draußen. Während ich die ersten Schlucke nahm, sah ich mich um. Doch auch von dieser erhöhten Warte sah ich nicht mehr als von unten. Es war absolut niemand zu sehen. Auch an den Fenstern der mehrstöckigen Altstadthäuser auf der anderen Seite war keine Menschenseele zu entdecken.

Wo stecken die nur alle?

Ich ging zurück in die Wohnung und schaltete das Radio an. Es kam Musik, also wartete ich darauf, dass sich ein Sprecher meldete, und tigerte dabei mit der Tasse in der Hand ruhelos im Wohnzimmer herum. Doch nach dem ersten Musikstück kam ein zweites, dann ein drittes und anschließend ein weiteres. Ich sah auf die Uhr. Bis zu den Nachrichten um zehn würde es noch über eine halbe Stunde dauern. Also schaltete ich das Radio aus und machte stattdessen den Fernseher an. Der Bildschirm blieb allerdings schwarz. Lediglich am unteren Bildrand war ein Fließtext zu sehen, der darauf hindeutete, dass es sich nicht um einen Senderausfall handelte. Der Text, der immer wieder durchlief, lautete:

Das aktuelle Programm musste unterbrochen werden. Bitte warten Sie vor den Bildschirmen auf aktuelle Meldungen.

Ich zappte durch die Kanäle, doch überall bot sich mir das gleiche Bild.

Was war da bloß los?

Wieder erinnerte ich mich an die Schreie, Sirenen und Knallgeräusche von letzter Nacht. Irgendetwas war zu diesem Zeitpunkt geschehen. Und wie es aussah, war der Vorfall größer und folgenschwerer gewesen, als ich bislang angenommen hatte. Aber worum handelte es sich? Um einen Unfall? Ich dachte natürlich sofort an einen Chemieunfall. Allerdings hatte ich, als ich draußen war, keinen ungewohnten oder unangenehmen Geruch wahrgenommen. Und wieso sollten deswegen von einem Tag auf den anderen alle Menschen in meiner Umgebung spurlos verschwinden? Waren sie etwa alle evakuiert worden, und mich hatte man vergessen, weil ich so tief und fest geschlafen hatte, sodass ich das Klingeln und Klopfen an meiner Wohnungstür nicht gehört hatte?

Sobald meine Fantasie in Gang gekommen war, fielen mir rasch hintereinander weitere Ursachen ein: ein nuklearer Unfall, ein terroristischer Anschlag oder eine Atomrakete aus irgendeinem sogenannten Schurkenstaat. Doch danach sah es draußen überhaupt nicht aus. Soweit ich gesehen hatte, war nichts zerstört worden. Und es gab auch keine Brände. Außerdem war es dafür zu ruhig.

Ich seufzte und starrte auf den Bildschirm, der sich in den letzten Minuten, während ich fortlaufend die Programme gewechselt hatte, nicht verändert hatte. Der Kaffee schmeckte mir auf einmal nicht mehr, deshalb stellte ich die halbvolle Tasse auf den Tisch. Ich hatte weder Lust noch genug Geduld, noch länger vor der Mattscheibe zu hocken und darauf zu warten, dass endlich die versprochenen aktuellen Meldungen kamen. Und bis zu den Zehn-Uhr-Nachrichten im Radio wollte ich auch nicht herumhocken und Däumchen drehen. Ich war ruhelos und angespannt und hatte das Gefühl, unbedingt etwas tun zu müssen.

Doch was?

Ich beschloss, schon jetzt zum Einkaufen zu gehen, obwohl ich das samstags immer am Nachmittag erledigte. Der Supermarkt, in dem ich meistens einkaufte und in dessen Nähe sich auch ein Bäcker befand, war nicht weit. Vielleicht traf ich dort oder auf dem Weg dorthin jemanden, der mir sagen konnte, was hier los war.

Ich ging ins Bad, verzichtete jedoch ausnahmsweise auf eine Dusche, weil ich so schnell wie möglich aus dem Haus wollte. Ich wusch mich am Waschbecken und putzte mir die Zähne. Dann zog ich mich um und nahm meinen Rucksack und meine Schlüssel. An der Tür zögerte ich, als hätte ich plötzlich doch Bedenken, meine sichere Wohnung zu verlassen. Doch dann dachte ich an die Leere in meinem Kühlschrank, der dringend gefüllt werden musste. Und egal, was über Nacht geschehen und für die Stille und die leere Straße verantwortlich war, ich musste weiterhin essen und trinken.

Allerdings fiel mir auch das Klopfen aus Herrn Winters Wohnung wieder ein und das merkwürdige Gefühl, das ich dabei gehabt hatte, und ich hatte plötzlich das irrationale Bedürfnis, mich zu bewaffnen.

Ich konnte darüber nur – wenngleich halbherzig – den Kopf schütteln und mich fragen, was eigentlich in mich gefahren war. Gestern war ich noch ein rational denkender, mit beiden Beinen fest auf dem Erdboden stehender Gymnasiallehrer gewesen. Und was war über Nacht aus mir geworden? Allem Anschein nach ein Angsthase, der sich vor Monstern und Ungeheuern aus der Nachbarwohnung fürchtete. Demnächst würde ich vermutlich schon zusammenzucken, wenn ich meinen eigenen Schatten sah.

Dennoch überlegte ich mir, was ich als Waffe benutzen konnte, denn richtige Waffen besaß ich natürlich nicht. Ich ging in die Küche, nahm das lange Tranchiermesser mit der 20 Zentimeter langen Klinge aus dem Messerblock und steckte es in meinen Rucksack. Ich sah es schon vor mir, wie ich von der Polizei kontrolliert wurde und in Erklärungsnot geriet, warum ich ein riesiges Messer zum Einkaufen mitnahm. Aber darauf ließ ich es gerne ankommen, solange ich mich sicherer und besser fühlte.

Ich verließ die Küche, um zu gehen. Doch als ich an der Abstellkammer vorbeikam, fiel mir der Schlosserhammer in der Werkzeugkiste ein. Er hatte einen 300 Gramm schweren, stählernen Hammerkopf, mit dem man, wenn man denn wollte, vermutlich auch einen Schädel einschlagen konnte. Nicht dass ich das vorhatte, um Gottes willen, aber neben dem Tranchiermesser kam es einer Waffe am nächsten. Also holte ich den Hammer und steckte ihn zu dem Messer in den Rucksack. Ich musste nur daran denken, dass ich nicht gedankenlos hineingriff, sonst würde ich mich vermutlich böse an der scharfen Klinge verletzen.

Endlich fühlte ich mich gewappnet genug, die Wohnung verlassen zu können. Ich ging ins Treppenhaus und schloss die Tür sorgsam hinter mir ab.

Im Haus war es noch immer unnatürlich still, und ich fragte mich, wo meine Nachbarn waren. Die Meyers aus dem dritten Stock waren natürlich im Urlaub. Herr Unger von gegenüber war U-Bahnfahrer und saß vermutlich längst in seinem Führerhaus. Die alte Frau Berchtold aus der Wohnung über meiner ging jeden Vormittag auf den Friedhof, um ihren vor sechs Jahren verstorbenen Ehemann zu besuchen. Und die Übrigen waren vermutlich schon unterwegs, um fürs Wochenende einzukaufen.

Und was ist mit Herrn Winter?

Diese Frage stellte ich mir, als ich erneut die Stufen nach unten stieg. Ich beschloss, nun doch an seine Tür zu klopfen, um sicherzugehen, dass mit ihm auch alles in Ordnung war. Das merkwürdige Klopfen, das verstummt war, als ich seinen Namen gerufen hatte, ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Und wenn ich vom Einkaufen zurückkam und feststellte, dass ihm etwas passiert war, würde ich mir ewig Vorwürfe machen.

Ich blieb vor seiner Tür stehen, legte erneut mein Ohr ans Holz und lauschte. Drinnen war es jedoch noch immer mucksmäuschenstill. Dennoch hatte ich wieder das komische Gefühl, dass die Wohnung nicht leer war und etwas auf der anderen Seite der Tür stand und auf Geräusche von draußen lauschte.

Ich hob die Hand, ballte sie zur Faust und klopfte zaghaft mit den Fingerknöcheln gegen die Tür. In der Stille wirkte das Klopfen lauter, als ich beabsichtigt hatte. Ich erschrak, obwohl ich das Geräusch selbst verursacht hatte, und trat mit heftig klopfendem Herzen ungewollt einen Schritt zurück. Dann horchte ich aufmerksam, ob sich innerhalb der Wohnung des alten Mannes etwas tat.

Nichts!

Ich war allerdings immer noch nicht zufrieden. Deshalb ging ich erneut zur Tür und streckte meine Hand in Richtung Türknauf aus, um einmal kräftig daran zu rütteln. Die Tür machte zwar einen verschlossenen Eindruck, aber vielleicht war die Schlossfalle nicht richtig eingeschnappt, sodass ich sie öffnen konnte.

Doch noch bevor meine Hand den Knauf berührte, krachte etwas von innen so heftig gegen die Tür, dass sich mir das Holz entgegenwölbte. Ich schrie vor Schreck auf, riss meine Hand zurück und sprang nach hinten. Ich war froh, dass die Wohnungstüren keinen Glaseinsatz hatten, denn sonst hätte das, was auch immer sich gegen Herrn Winters Tür geworfen hatte, sicherlich die Scheibe zertrümmert.

Ich hörte ein angriffslustiges Knurren und erstarrte im ersten Moment vor Schreck. Doch dann entspannte ich mich wieder, denn mir fiel die Irisch-Setter-Hündin des alten Mannes ein. Wie hatte ich bloß den Hund vergessen können? Vermutlich war Herr Winter zum Einkaufen gegangen und hatte die Hündin allein in der Wohnung zurückgelassen. Das war höchstwahrscheinlich auch die Erklärung für das Klopfen von vorhin. Der Hund musste es verursacht haben, weil er sauer oder traurig darüber war, dass er allein gelassen worden war, und seinen Frust abreagieren musste.

»Lady, bist du das?«, fragte ich und ging wieder näher zur Tür.

Das Tier ließ sich allerdings durch die Nennung seines Namens nicht besänftigen. Da musste wohl jemand mächtig sauer sein. Erneut warf es sich mit voller Wucht gegen die Tür, sodass ich schon befürchtete, sie könnte mir im nächsten Moment entgegenfliegen. Doch zum Glück ging sie nach innen auf und hielt dem Ansturm stand.

Ich trat zurück und sagte nichts mehr, um die Hündin nicht noch mehr zu reizen. Sobald ihr Herrchen vom Einkaufen zurückkam, würde sie sich schon wieder einkriegen.

Wenigstens musste ich mir keine Gedanken mehr um das Wohlergeben meines Nachbarn machen und konnte beruhigt zum Einkaufen gehen.

Zu meinem Bedauern steckte die Tageszeitung immer noch nicht im Briefkasten. Ich beschloss daher, bei der Zeitung anzurufen und mich zu beschweren, sobald ich vom Einkaufen zurück war.

Ich verließ das Haus, trat auf den Gehsteig und sah mich erst einmal um. Noch immer konnte ich nirgendwo eine Menschenseele erblicken. Ich erschauderte, denn allmählich kam ich mir vor wie Will Smith in I am Legend.

Oder war das alles nur ein Scherz? Versteckte Kamera? Haha, sehr witzig! Selten so gelacht!

Ich wandte mich nach rechts und ging auf dem Bürgersteig in Richtung Kreuzung. Dort würde ich nach rechts abbiegen und schon 400 Meter weiter zu dem kleinen Supermarkt kommen, in dem ich einkaufen ging, wenn ich keine größeren Besorgungen zu erledigen hatte. Für Großeinkäufe fuhr ich mit dem Auto zu einem der größeren Einkaufszentren.

Während ich zügig voranschritt, behielt ich meine Umgebung aufmerksam im Auge und sah mich auch mehrere Male nervös um, ohne allerdings jemanden zu entdecken. Nicht einmal hinter den Fenstern der Häuser rechts und links war jemand zu sehen. Ich kam an mehreren kleineren Geschäften im Erdgeschoss der Häuser vorbei, doch alle waren geschlossen. Das unangenehme Gefühl, das mich längst beherrschte, wurde dadurch nicht unbedingt geringer.

Als ich die Kreuzung erreichte, blieb ich kurz stehen und sah in alle Richtungen. Auch hier war niemand unterwegs, weder zu Fuß noch mit dem Auto. Ich sah allerdings in der Straße, in der auch der Supermarkt lag, zwei Autos mitten auf der Fahrbahn stehen. Die Fahrertüren standen sperrangelweit offen, von den Fahrern war jedoch nichts zu sehen. Als ich vorsichtig näher heranging, bemerkte ich, dass bei einem der Fahrzeuge sogar noch der Motor lief. Neben den Rufen der Vögel war es das einzige fremde Geräusch, das ich hörte, seit ich das Haus verlassen hatte.

Ich runzelte die Stirn, während ich mich fragte, was das nun wieder zu bedeuten hatte, und ging zu den Autos. Ich bückte mich, um hineinzusehen, doch sie waren leer. Neben der offenen Fahrertür eines der Fahrzeuge entdeckte ich dunkle Flecken auf dem Asphalt der Straße. Man hätte sie bei einem beiläufigen Blick leicht für Ölflecke halten können, wären sie nicht verräterisch rot gewesen. Ich näherte mich ihnen, ging in die Hocke und tunkte meinen rechten Zeigefinger in einen der Flecken. Es handelte sich unzweifelhaft um Blut, und so wie es aussah, war es sogar noch ziemlich frisch.

Ich erschauderte erneut, richtete mich rasch wieder auf und sah mich um, als hätte jemand die kurze Zeit, in der ich abgelenkt gewesen war, genutzt und sich von hinten an mich herangeschlichen. Doch ich war noch immer der einzige Mensch weit und breit.

Ich dachte darüber nach, was hier geschehen sein und die beiden Fahrzeuglenker dazu veranlasst haben könnte, auszusteigen und ihre Autos mitten auf der Fahrbahn stehen zu lassen. Ein derartiges Verhalten war so abnormal, dass es meine Befürchtungen über das, was letzte Nacht passiert war, noch schrecklicher werden ließ. Ich seufzte schwer. Eigentlich hatte ich durch meinen Gang zum Supermarkt und zum Bäcker Antworten finden wollen, doch stattdessen stellten sich mir nur immer neue Fragen.

Ich wandte mich von den Autos ab, kehrte auf den Gehsteig zurück und setzte meinen Weg fort. Die Haut zwischen meinen Schulterblättern kribbelte, als würde ich beobachtet werden, doch als ich mich umsah, konnte ich niemanden sehen. Ich ging unwillkürlich schneller, ohne jedoch zu rennen, da ich plötzlich das drängende Gefühl hatte, dass es besser wäre, wenn ich so schnell wie möglich wieder zurück in meine Wohnung kam, weil ich nur dort wirklich sicher war. Allerdings wollte ich auch nicht ohne Nahrungsmittel zurückkehren. Ich beschloss spontan, mehr zu kaufen, als ich ursprünglich beabsichtigt hatte, damit ich einen Vorrat hatte und für den Notfall gerüstet war. Man konnte ja nie wissen. Außerdem sah das, was ich bisher zu Gesicht bekommen hatte, für mich eindeutig nach einem Notfall aus. Während des Gehens überlegte ich, was ich außer Lebensmitteln noch benötigen könnte: Batterien, Kerzen, Streichhölzer. Was noch? Eine neue Gaskartusche für meinen alten Campingkocher wäre vermutlich auch nicht schlecht, falls irgendwann auch noch der Strom ausfiel. Allerdings bezweifelte ich, dass ich so etwa in dem kleinen Supermarkt fand.

Ich konnte ihn bereits sehen und hoffte, dass er nicht ebenfalls geschlossen hatte. Auf dem Parkplatz standen nur wenige Autos, die noch dazu nicht wie gewohnt ordentlich geparkt, sondern kreuz und quer abgestellt worden waren. Wenigstens waren ihre Türen nicht offen. Auf der Straße vor dem Supermarkt stand jedoch ein Streifenwagen quer, als hätten die Polizisten die Straße absperren wollen. Die Blaulichter blinkten, und die Türen standen offen. Die dazugehörigen Streifenbeamten waren jedoch ebenso spurlos verschwunden wie die Fahrer der anderen beiden Autos, die ich auf dem Weg hierher gesehen hatte. Es sah immer mehr danach aus, als hätten sich alle Menschen außer mir in Luft aufgelöst. Ich konnte das Rauschen des Funkgeräts im Streifenwagen hören, vernahm aber keine menschliche Stimme. Vorsichtshalber hielt ich Abstand. Vermutlich wollte ich nicht noch einmal Blutflecken auf dem Asphalt finden, was mir nur noch mehr Angst machen würde.

Es wurde immer deutlicher, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Nur was, war mir noch immer absolut schleierhaft. Wo waren nur alle? Wieso standen Autos mit offenen Türen mitten auf der Straße, als wären sie in größter Eile verlassen und aufgegeben worden? Warum hatte einer der verschwundenen Fahrer geblutet? Und aus welchem Grund war ich scheinbar als Einziger übrig geblieben?

Da meine Angst stärker wurde, nahm ich den Rucksack von der Schulter und öffnete ihn. Nach kurzem Nachdenken holte ich den Hammer heraus, denn mit ihm konnte ich mögliche Angreifer auch bewusstlos schlagen, während das Messer im Grunde nur dazu geeignet war, blutende Wunden zu verursachen. Ich wollte jedoch niemanden ernsthaft verletzen, solange ich nicht wusste, was hier los war.

Ich näherte mich dem Supermarkt und versuchte, durch die großen Glastüren ins Innere zu sehen. Da sich in ihnen allerdings nur die Straße hinter mir und meine Gestalt widerspiegelten, konnte ich lediglich erkennen, dass im Laden die Lichter an waren. Wenigstens etwas.

Als ich mich den Türen bis auf anderthalb Meter genähert hatte, glitten sie automatisch zur Seite.

Ich seufzte erleichtert, denn wie es aussah, hatte der Supermarkt tatsächlich geöffnet. Ein winziges Überbleibsel von Normalität in einer Welt, die über Nacht komplett den Verstand verloren zu haben schien. Ich umfasste den Griff des Hammers fester und trat vorsichtig ein.

An den beiden Kassen saß niemand. Auch sonst war keiner zu sehen. Ich konnte jedoch aus dem Hintergrund des Ladens – ungefähr von dort, wo sich die Fleisch- und Wursttheke befand – Geräusche hören. Also war außer mir noch jemand da.

Da ich einen größeren Einkauf tätigen wollte, nahm ich mir einen Wagen und schob ihn, ohne allerdings den Hammer wegzustecken, durch die ersten Regalreihen. Die Warenbestände sahen schon etwas geplündert aus, vor allem, was Grundnahrungsmittel und länger haltbare Lebensmittel anging. Zum Teil lagen auch Packungen und Schachteln auf dem Boden und waren aufgeplatzt oder zerdrückt worden. Anscheinend war ich nicht der Erste, der sich hier mit Vorräten eindeckte. Das gab mir neue Hoffnung, dass ich doch nicht der letzte Mensch auf Erden war. Ich packte alles in den Wagen, was mir sinnvoll und notwendig erschien, vor allem Konserven. Ein paar kleinere Dinge packte ich auch gleich in meinen Rucksack, beispielsweise Batterien, Kerzen, Milchpulver, Fischdosen und aus einer Laune heraus zwei Flaschen Wodka.

Auf meinem Zickzackkurs durch die Gänge kam ich den Geräuschen im hinteren Teil des Ladens immer näher. Bisher war mir weder ein anderer Kunde noch einer der Mitarbeiter begegnet. Sobald ich die Quelle der merkwürdigen Laute erreicht hatte, würde sich das aber vermutlich ändern. Ich war froh, endlich auf einen anderen Menschen zu treffen. Und sei es auch nur, weil der andere mir vielleicht sagen konnte, was hier los war.

Obwohl die Geräusche immer lauter und deutlicher wurden, fiel es mir dennoch zunächst schwer, sie zu identifizieren. Zuerst dachte ich, der Metzger in der Fleischabteilung würde Fleisch zerteilen. Dann erinnerten mich die Laute eher an ein Reißen und Schmatzen. War da etwa jemand gerade beim Essen, ohne auf seine Tischmanieren zu achten?

Ich bog um die Ecke und sah an diesem merkwürdigen Tag zum ersten Mal andere Menschen vor mir. Sie waren zu viert und tatsächlich gerade beim Essen. Obwohl das nicht ganz korrekt ist. Denn eigentlich aßen nur drei von ihnen. Der Vierte, der zwischen ihnen auf dem Boden lag, beteiligte sich nicht an dem Festmahl – er war das Festmahl!

Ich blieb so abrupt stehen, als wäre ich von einer Sekunde zur anderen zu Eis gefroren. Dann starrte ich fassungslos auf das makabre und ekelhafte Schauspiel nur wenige Meter vor mir, das sich mir in diesem Augenblick nicht nur in die Netzhaut, sondern auch unauslöschlich ins Gehirn einbrannte.

Bei der Person, die auf dem Boden lag und von den anderen gefressen wurde, handelte es sich um eine junge Frau. Der Riemen einer Einkaufstasche hing noch über ihrer Schulter. Außerdem stand ein voller Einkaufswagen in der Nähe. Sie war also vermutlich ebenfalls hierhergekommen, um ihren Samstagseinkauf zu erledigen, und dabei von den drei Zombies angefallen worden.

Denn dass es sich bei den anderen drei Personen um wandelnde Tote handelte, wurde mir schon auf den ersten Blick klar. Schließlich hatte ich in meiner Jugend genügend Zombie-Filme und zuletzt alle bisherigen Staffeln von The Walking Dead gesehen.

Die Typen – zwei Männer und eine Frau – sahen trotz ihrer Bewegungen mehr tot als lebendig aus. Die sichtbaren Teile ihrer Haut waren wachsbleich. Außerdem hatten sie Verletzungen, die teilweise tödlich aussahen und jeden lebenden Menschen im Nullkommanichts auf die Bretter geschickt hätten.

Bei dem rechten Zombie, der immer wieder blutige Organteile aus der Bauchhöhle der toten Frau holte und in den Mund stopfte, handelte es sich um den Filialleiter des Supermarkts. Ich kannte ihn aufgrund meiner häufigen Besuche zwar vom Sehen, wusste allerdings seinen Namen nicht. Er trug einen dunkelblauen Kittel mit dem Logo des Supermarkts auf der Brust und einer Namensplakette. Allerdings war ich – zum Glück! – nicht nah genug, um ihn lesen zu können. Nicht, dass es in dieser Situation wichtig gewesen wäre, ihn zu kennen. Der Mann war in den Hals gebissen worden, denn dort befand sich eine riesige Wunde, die heftig geblutet hatte. Seine Kleidung war dementsprechend mit Blut getränkt. Allerdings hatte die Blutung längst aufgehört. Außerdem fehlte ihm der linke Unterarm, der entweder abgebissen oder abgerissen worden war. An seiner Stelle befand sich ein blutiger Stumpf, aus dem die abgebrochenen Unterarmknochen ragten. Er ließ sich von seiner Behinderung allerdings nicht beeinträchtigen, sondern schaufelte sich weiterhin einhändig Innereien ins Maul, die er, ohne lange darauf herumzukauen, gierig hinunterschluckte.

In dem mittleren wiedererweckten Leichnam des Trios erkannte ich eine der Kassiererinnen wieder. Meines Wissens gab es drei oder vier, die Teilzeit arbeiteten und sich abwechselten, und sie war die mit Abstand unfreundlichste. Der Tod hatte sie allem Anschein nach nicht freundlicher werden lassen, denn sie benutzte ihre langen, lackierten Fingernägel dazu, große Fleischfetzen aus den Oberschenkeln der toten Frau zu reißen. Ihr Lippenstift und ihr Lidschatten waren verwischt und ließen sie, zusammen mit ihrem bleichen Mondgesicht und dem blutverschmierten Mund, wie ein Clown aussehen. Ein gefährlicher, absolut tödlicher Clown allerdings, der keinen Funken Humor in sich trug. Ihr dunkelblauer Kittel und ihre Bluse waren aufgerissen, sodass man ihren BH sehen konnte, der einmal weiß gewesen war, sich nun jedoch von all dem Blut, das aus ihrem offenen Brustkorb geflossen war, dunkelrot verfärbt hatte. Von den dreien schmatzte sie am lautesten, während sie sich große Fleischstücke in den Mund schob und darauf herumkaute, ohne ein einziges Mal den Blick von ihrer Mahlzeit zu nehmen.

Der linke Zombie, ein älterer Mann mit schütterem, grauem Haar, war mir unbekannt. Ihm fehlten ein Ohr, die Nase und ein großer Teil der Wange, sodass man die Zähne und die Kieferknochen sehen konnte, während er kaute. Ständig fielen ihm Fleischbrocken aus dem Loch in der Backe. Irgendwie war es ihm gelungen, den Schädel der toten Frau zu knacken. Er griff immer wieder in das faustgroße Loch und pulte Teile ihres Gehirns heraus. Vermutlich war das der Grund, warum sie nicht ebenfalls längst zu einer lebenden Leiche geworden war.

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9783847605362
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