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Читать книгу: «Das Wissen der Welt», страница 3

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„Los, geh“, wiederholte Mo.

Wortlos erhob sie sich, warf noch einen letzten verzweifelten Blick zurück und ging gesenkten Haupts zurück zu ihrer Höhle.

Freiheit (Ursprung plus 16 Jahre)

– Viktoria –

Dort angekommen fand sie ein kleines Tablett ohne Besteck auf ihrem Bett. Vielleicht von Peter. Hungrig stopfte sie sich das Brot in den Mund und schaufelte sich mit ihren Fingern den Brei in den Rachen. Zuletzt schleckte sie das Tablett sauber und stellte es unter ihr Bett. Dort sah man es nicht auf den ersten Blick und wer auch immer ihr wohlgesonnen war, konnte es trotzdem schnell entfernen, bevor jemand anderes auf seine Spur käme. Anschließend saß sie auf ihrer Pritsche und starrte auf die weiße Wand. Ihr Magen knurrte immer noch.

In Gedanken projizierte sie Bilder auf die helle Wand und spann dunkle Fäden dazwischen. Von dem Regime zur Vorsteherin, zu Bully, zu ihr. Eine gerade Linie, die zum Zweck hatte, sie ruhig zu halten. Die Frage nach dem Warum drängte sich in den Vordergrund. Ging es darum, sie stillschweigend zu verstecken? Dann konnten sie das mit einer Kugel und einem dunklen Grab effizienter und kostengünstiger erledigen. Seit sie fünf Jahre alt war, befand sie sich in der Anstalt. Sie hatte keine Fäden, die sie mit der Außenwelt verbinden würden. Hier drin kannte sie niemanden so gut wie Sue und Mags. Vermutlich nur noch Sue, korrigierte sie sich in Gedanken. Und Bully. Der sie heute Nacht besuchen kommen würde, daran bestand kein Zweifel. Von ihm aus ging ein Faden ins Nichts. Wieso meinte er, auf sie aufgepasst zu haben? Wer sollte ihn vergessen haben? Und warum würde Bully deshalb Rache an ihr nehmen wollen? Sie seufzte auf. In Wahrheit wusste sie einfach nichts.

Eine weitere Linie erschien vor ihrem inneren Auge – vom Regime zur Anstalt zu Mo. Was auch immer sie angestellt haben mochte, woraus bestand der Faden zwischen Mo und der Vorsteherin? Er mochte so dünn sein wie ein Spinnenfaden, aber auch er hatte Bestand. Niemand außer der Vorsteherin gab in diesen Wänden die Befehle. War Mo nichts weiter als ein braver kleiner Zinnsoldat, der unter den Bewohnern seine Ruhe behielt und Unterhaltungen und Verhalten an die Spitze weitermeldete? Viktoria stellte sich vor, wie sie ihre Hand zu dem Spinnenfaden hob und daran zupfte. Ein leichter Ton erklang, als wäre er die Saite eines Instruments. Er mochte zart sein, aber er war widerstandsfähig. Dennoch führte er auch von Mo zu ihr, denn sie hatte Viktoria gewarnt. Von Mo führte je ein Faden zu einem Patient. Sie war eine Person, um die man als Insasse einfach nicht herumkam. Strategisch explizit gut platziert.

Viktorias Stirn kräuselte sich. Es gefiel ihr nicht, was um sie herum geschah. Was mit ihr geschah. Denn sie war es, die plötzlich Gespenster in jeder Ecke sah. Die Misstrauen in sich aufwallen fühlte. Das wiederum einen Anspruch an sie stellte: Was war die Wahrheit? Sie lebte in einem Kokon, der sie von der Außenwelt abschottete. Und beschützte. Ohne Rafi brauchte sie jeden Schutz, den sie bekommen konnte.

Es klopfte. Viktoria fuhr herum und wich ein paar Schritte zurück. Sie antwortete nicht, sondern stand sprungbereit neben ihrem Bett und starrte auf den einzigen Ausgang ihrer Höhle. Die Türklinke senkte sich ein bisschen ab. Millimeter für Millimeter arbeitete sie sich lautlos nach unten, bis ein erster Spalt erschien. Etwas Licht stahl sich hindurch und fiel auf den Boden, direkt bis hin zu Viktorias Füßen. Sie hatte keine Waffe. Sie hatte keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Eine männliche Hand schob sich durch den Spalt und tastete nach dem Lichtschalter. Ohne jedes Geräusch glitt sie darüber und zog sie wieder zurück. Ein Überfall im Dunklen also.

Viktoria atmete durch. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Die Tür öffnete sich ein weiteres Stück. Halb erwartete sie, dass Bully nun mit Schwung durch die Öffnung springen würde und spannte sich an. Nur weil sie keine Waffe hatte, musste sie es ihm nicht unnötig leicht machen!

Dann traute sie ihren Augen kaum. Eine Tasche wurde auf dem Boden durch den Türspalt gehoben und die Tür leise und langsam wieder geschlossen. Viktoria verharrte auf ihrer Position. Hier stimmte etwas nicht. War der Typ vor ihrer Tür überhaupt Bully? Was sollte die Tasche? Warum wollte ihr jemand etwas geben? Vielleicht wollte ihr jemand was anhängen. Sie für immer nach unten in die Verliese bringen. Unruhe bemächtigte sich ihrer und zwang sie zum Ausatmen. Sie lockerte ihre verkrampften Hände und ließ die Schultern sinken. Die Tür war zu, der Griff horizontal. Wenn jemand doch wieder reinkommen wollte, würde sie es sofort sehen.

Unsicher stakste sie einige Schritte nach vorne und ließ sich auf ein Knie sinken. Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, streckte sie eine Hand aus und zog die Tasche zu sich. Sie war alt. Scheinbar hatte sie damals einen künstlichen Verschluss, der sich wie eine Naht der Länge nach hinzog. Irgendwann mochte er den Geist aufgegeben haben, wie so einige Dinge der alten Welt. Jemand hatte grobe Holzstücke auf der einen Seite befestigt und schmale Löcher in die andere geschnitten. Nicht wirklich wasserdicht, aber tat wohl seinen Dienst. Ihre Hand stahl sich ins Innere und fühlte Stoff. War das etwa Kleidung? Sie zog am Stoff und eine Hose stahl sich aus der Lücke zwischen den Knöpfen. Das Material war seltsam glatt und fest. Verwundert strich sie darüber. Dann nahm sie ihren Mut zusammen und knöpfte die Tasche gar auf. Eine Art Jacke aus dem gleichen Material. Viktoria war sich nicht sicher, ob sie da wirklich reinpassen könnte. Sie hatte eine Kapuze! Das war unerhört praktisch. Dass es solche Kleidung heutzutage überhaupt noch gab? Nachdenklich breitete sie vor sich aus. Wer würde so hart daran arbeiten, sie in Schwierigkeiten zu bringen? Ein Löffel unter der Matratze hätte vollkommen ausgereicht.

Einer verrückten Eingebung folgend schlüpfte sie in die Hose und ein T-förmig geschnittenes Oberteil mit langen Ärmeln, das unfassbar eng an ihrem schmalen Körper anlag. Die Jacke legte sich wie eine zweite Haut darüber. Verwirrt starrte sie an sich herab, als ihr ihre Füße auffielen, die immer noch in den weißen Stoffschlappen steckten, die zur Anstalt gehörten. Ein leises Klopfen ertönte. Sofort zuckte Viktoria zurück. Sie verfluchte ihre Neugier, als sie vergeblich versuchte, in der dunklen Kleidung mit der weißen Wand zu verschmelzen. Grandios, wirklich großartige Vorstellung meine Damen und Herren. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit und eine tiefe Stimme flüsterte eine Botschaft. In ihrer Angst verstand Viktoria kein Wort.

Stille. Der Unbekannte wartete auf ihre Antwort. Sie öffnete den Mund, aber brachte kein Wort heraus. Sie räusperte sich leise.

„Wie bitte?“

Fast konnte sie die Wut des Unbekannten mit den Händen greifen.

„Fertig?“, zischte es als Nächstes aus dem Dunkel.

„Ich glaube ja.“

Ein ungeduldiges Zungenschnalzen ertönte und der Spalt öffnete sich ein weiteres Stück. Ein vermummter Kopf erschien und Viktorias Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie wurde von Kopf bis Fuß gemustert und es dauerte keine Sekunde, bis die Gestalt hineinhuschte, die Tasche ergriff und sie ihr vor die Füße warf. Ein dunkles Wesen. Die Erinnerung an den Todestag ihres Bruders überrollte sie wie ein Tsunami. Ihr wurde schwindlig, sie sackte gegen die Wand. Tränen schossen ihr in die Augen, die Angst vor den dunklen Gestalten saß wie eine hässliche Kröte vor ihr und lachte sie hämisch aus. Aber die Gestalt in ihrem Zimmer blieb wo sie war und machte keinerlei Anstalten, sich auf Viktoria zu stürzen.

„Schuhe!“

„Bitte?“

Die Gestalt knurrte.

„Zieh die Stiefel an und beeil dich!“

Ohne das dunkle Wesen aus den Augen zu verlieren, beugte sie ihre Knie und suchte mit einer Hand in der Tasche nach Schuhen. Sie waren ebenfalls fest, stark und glatt. Waren diese Dinge wirklich ein Teil der alten Welt? Sie wirkten so neu. Misstrauisch beäugte sie die Schuhe. Ein komplizierter Schnürmechanismus diente zum Festbinden.

„Ich sagte Beeilung!“, zischte die tiefe Stimme wieder. Viktorias Bewegungen wurden langsamer. Erkannte sie die Gestalt? Die Art, wie sie sich bewegte, kam ihr bekannt vor. Doch wer das auch war, verlor die Geduld mit ihr. Mit drei schnellen Schritten war die Person bei ihr und ragte drohend über Viktoria auf. Sie erstarrte, die Augen aufgerissen. Mit geradezu sanften Bewegungen ergriff diese die Schuhe, kniete sich selbst auf den Boden und zog ihr den ersten an. Wie betäubt saß Viktoria auf dem Boden und sah dabei zu. Sie hatte keine Ahnung mehr, was sie fühlte oder in welcher Situation sie gerade steckte. Es war zu surreal. Jemand staffierte sie mit einem Outfit aus, das für die Außenwelt gemacht war. Gestern war sie abends in Einzelhaft gesessen, alleine und vollkommen im Reinen damit, ihr restliches Leben in dieser weißen Hölle zu verbringen.

Eine Option, die offenbar nicht bestand. Gänsehaut überzog ihre Arme und sie zitterte. Was sich nicht geändert hatte war, dass man ihr keine Wahl ließ. Wortlos ließ sie sich aufhelfen. Probeweise ging sie ein paar Schritte. Ihre Füße federten weich zurück. Das waren Schuhe, die zum Laufen gemacht wurden. Sie sah auf und blickte in zwei grüne Augen. Das Gesicht war mit einem schwarzen Tuch vermummt, was die Augen umso stärker strahlen ließ. Sie leuchteten nicht warm, sondern waren voller Energie. Und Wut, wenn er wie jetzt die Augen zusammenkniff. Alles oder nichts. Sie konnte die Kleidung wieder ablegen und in ihre weiße Hölle zurückkehren. Oder sie konnte mitgehen und sehen, was die Welt in ihrer Abwesenheit so getrieben hatte. Und denjenigen ausfindig machen, der sie aus dieser Anstalt raus haben wollte. Und verdammt noch mal fragen warum.

Viktoria biss die Kiefer zusammen und reckte das Kinn hoch. Na dann los. Die Gestalt vor ihr glitt lautlos zur Tür. Mit umsichtigen Bewegungen öffnete sie sie und legte den Kopf schief. Viktoria wunderte sich, dann begriff sie. Vögel legten den Kopf schief, wenn sie besser hören wollten. Probeweise neigte sie ihren Kopf. Nein, da war nichts. Ihr mysteriöser Besucher schien zum gleichen Schluss zu kommen und öffnete die Tür ganz. Nach einem prüfenden Blick in den Gang drehte er sich zu ihr herum und bedeutete ihr, die Kapuze hochzuschlagen. Ohne zu zögern, kam Viktoria der Aufforderung nach.

„Was auch passiert, lass die Kapuze nicht runter.“

Noch etwas, das sie irritierte.

Auf ein Winken der dunklen Hand begann sie, sich nach vorne zu bewegen. Ein kleiner Teil von ihr schien über ihr zu schweben und sie zu beobachten. Setzte sie tatsächlich einen Fuß vor den anderen, ging immer einen Schritt weiter? Konnte sie noch umkehren? Sollte sie? Vor der Türschwelle blieb sie stehen, während die dunkle Gestalt bereits zur nächsten Ecke gehetzt war, wo ein anderer Gang den ihren kreuzte. Die Wahl war die ihre und sie war es auch nicht. Fast ohne ihr Zutun hob sich ihr Fuß und setzte einen Zentimeter hinter der Türschwelle wieder auf. Es war getan, sie hatte die Grenze überschritten.

Ein Zischen riss sie aus ihren Gedanken. Der Unbekannte hatte sich zu ihr herumgedreht und starrte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Ein Blick nach rechts verriet ihr, dass niemand im Gang stand. Mit gesenktem Kopf huschte sie nach vorn. Jeder Schritt knallte in ihren Ohren wie Schüsse. Rafi. Er war nicht dort draußen in der Welt. Er wartete nicht auf sie. Aber die Welt war voller Kreaturen, jemand schien Interesse an ihr und ihrem Leben zu haben.

Sie vermisste die weißen Schuhe bereits jetzt. Sie waren sanfter, bequemer und verursachten keine Geräusche. Auch ihr Retter musste den Pegel als Lärm einstufen, denn er sah alarmiert die Gänge hinauf und hinunter, ließ alle Gefahr beiseite, griff Viktorias Hand und rannte los. Hinter ihnen öffneten sich Türen, wurden erste Schreie laut. Links, rechts, endlos gerade aus und fast wären sie an einer unscheinbaren Tür vorbeigerannt. Doch ihr Begleiter legte eine Vollbremsung ein, die Viktoria fast einige Meter weiter nach vorn in die falsche Richtung geschleudert hätte, hätte seine Hand sich nicht verlässlich um ihre geschlungen. Mit einer energischen Bewegung warf er sich gegen die Tür, deren Schloss platzte und sie hindurch ließ. Eine Treppe. Er zog sie bergauf. Die Schreie wurden lauter. Eine Sirene ertönte. Sie heulte auf und ab, wie Wellen brandeten die schiefen Töne an Viktorias Ohren. Sie hatte aufgegeben, einen Sinn in den Ereignissen dieser Nacht zu sehen.

Sie stürzten wieder durch eine Tür und kühle Nachtluft schlug ihnen ins Gesicht. Er ließ ihre Hand nicht los. Vorsichtig näherte er sich mit Viktoria im Schlepptau dem Dachrand. Prüfend blickte er nach unten. Er korrigierte seine Position um einige Meter nach rechts und blickte wieder in den Abgrund. Viktoria schauderte und wollte zurückweichen. Doch er ließ immer noch nicht los. Vertraute sie ihm? Sie hatte keine Ahnung. Es war unwahrscheinlich, dass er sie einfach töten wollte, das hätte er anders auch haben können. Endlich schien er mit seiner Position zufrieden, als hinter ihnen die Metalltür aufflog und mit einem hässlichen Krachen gegen die Wand schlug.

„Bleibt wo ihr seid!“, rief eine männliche Stimme.

Bully? Viktoria drehte sich um. Nein, einer der anderen Pfleger. Sie hatte ihren Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als sie fremde Hände um ihre Taille spürte. Sie rissen sie nach hinten. Für einen Moment war selbst sie zu überrascht, um sich zu wehren, doch als sie die Richtung im Kopf richtig einordnete, begann sie um sich zu schlagen. Sie musste ihn getroffen haben, denn von irgendwo her drang ein Schmerzensschrei zu ihr. Es half nichts. Sie schlug, strampelte und wand sich hin und her, doch mittlerweile hielte er sie umschlungen. Mit ihr in seinen Armen vollführte er einen halben Kreis. Mit Entsetzen realisierte sie, wofür das gut war. Er holte Schwung. Als er sie über die Brüstung warf, brach ein markerschütternder Schrei von ihren Lippen und stürmte wie eine Schockwelle durch die Nacht. Der Wind fuhr schmerzhaft in ihr Gesicht, der Boden kam unerbittlich näher. Mitten in der Luft drehte ihr Körper sich und sie sah nach oben. Durch die Schwärze leuchtete ein helles Gesicht über die Brüstung. In der Schrecksekunde bevor sie ihren letzten Schrei ausstieß, sah sie sein Gesicht.

Bully.

Er lächelte bösartig.

Mit einer schnellen Armbewegung schleuderte er ihr etwas hinterher und Viktoria erkannte, dass es die Überreste eines verbrannten Stück Papiers sein mussten, bevor ihr Körper sich wieder drehte und unaufhaltsam dem Boden entgegen raste.

Traumwelt (Ursprung plus 16 Jahre)

– Viktoria –

War das wirklich Bully, bevor er sie in den Abgrund stieß? Der Gedanke ließ Viktoria nicht mehr los, als ihr Bewusstsein aus der Dunkelheit wieder auftauchte.

Mit einem Schlag versteifte sich ihr kompletter Körper. Der Abgrund. Sie war gefallen. Dem Boden entgegen gestürzt in der sicheren Erwartung eines schmerzhaften Todes. Viktoria verstand die Welt nicht mehr. Sie fühlte unter ihrer ausgestreckten Hand das Gras. Der Boden war kühl, aber nicht kalt. Eine Brise strich über ihre Haut. Was auch immer das hier war, es schien einigermaßen harmlos zu sein. Und echt, denn sie spürte den Boden unter sich. Sie fühlte keine Schmerzen, schlug die Augen auf und ließ die Sonne sie blenden. Sie lag auf einer großen grünen Fläche, vereinzelt fanden sich Bäume dazwischen und mittendurch schlängelten sich Pfade wie Adern durch die Wiese. Testweise atmete Viktoria tief durch. Echte, lauwarme Luft strömte in ihre Lunge. Sie wackelte mit den Zehen, bewegte ihre Glieder und stellte fest, dass sie keinerlei Schmerz litt. Fein. Dann war das eben so. Für den Moment, in dieser Sekunde musste diese Sicherheit reichen. Viktoria ahnte, dass sie Stunden damit verbringen würde, bevor sie wirklich verstand, was passiert war. Nein, lieber akzeptieren, was jetzt gerade vor ihr lag und erst einmal damit zurechtkommen. Grübeln konnte sie später auch noch. Vielleicht konnte sie dann dem Ganzen wenigstens etwas Sinn geben. Sie schloss die Augen, genoss das Gefühl der Sonne auf ihrer Nasenspitze und atmete weiter tief durch. Sie spürte in ihrem Bewusstsein, dass mit ihr alles okay war. Keine Prellung, keine Brüche. Kein Schmerz, der durch ihren Körper pulste. Probeweise setzte sie sich auf. Sofort sackte sie mit Schwindel im Kopf wieder nach hinten und schloss die Augen. Noch mal, dieses Mal langsamer. Sie stützte ihre Ellenbogen auf und setzte sich mit langsamen Bewegungen aufrecht hin. Ja, besser. Nein. Sie beugte sich zur Seite und erbrach etwas Schleim. Jetzt aber definitiv besser. Sie ließ etwas Spucke durch ihren Mund laufen und versuchte, den bitteren Geschmack hinunterzuschlucken. Als das nicht half, riss sie etwas Gras ab, zerkaute es leicht und schluckte wieder. In so einem gepflegten Bereich war bestimmt kein giftiges Kraut dabei.

Richtig, sie saß inmitten einer Wiese. Die Bäume hatte sie sich auch nicht eingebildet. Die Szene war so friedlich und schön, dass sie für einen Moment vergaß, warum sie hier war. Ein Blitz durchzuckte sie. Wie WAR sie in dieser Wiese gelandet?! Sie hatte keinen Schimmer. Sie war gefallen. Ihre letzte Erinnerung vor der Dunkelheit. Panik überflutete sie. War das ihr Nachleben? Hektisch sah sie sich um und musste sich dem Schwindel geschlagen geben. Durchatmen. Wirklich erst darüber später nachdenken. Immerhin könnte jederzeit jemand auftauchen, von dem sie nicht wusste, ob er Freund oder Feind war.

Sie stand sehr langsam auf und drehte sich gemächlich um ihre Achse. Grün so weit ihr Auge reichte. Noch nie hatte sie so eine ausgedehnte Naturfläche gesehen. Mit Rafi hatte sie immer zwischen zerbombten Häusern gelebt, in denen sich gerade einmal ein paar Wildblumen verstreut hatten. Aber alles, was schön und essbar war, hatte dort nicht lange Bestand. In die Viertel hatte sie sich nie getraut und Rafi hätte sie eher festgekettet, als sie mit auf eine seine Touren zu nehmen.

Viktoria lief zum Weg und freute sich über die Schuhe, mit denen sie wie auf Wolken lief. Mit den flauschigen Pantoffeln der Anstalt wäre sie hier verloren gewesen. Geistesabwesend strich sie über das Material ihrer Hose und der Jacke. Es war glatt, fast kühl. Mit Sicherheit fest. Ein Sturz würde dem Gewebe nichts antun, vermutete sie. Viktoria fuhr sich mit den Händen durch die Haare.

Wohin sollte sie an der nächsten Kreuzung gehen? Links? Rechts? Egal. Im Prinzip hatte sie sowieso keinen Plan.

Die ganze Zeit, während sie den Weg entlang marschierte, fühlte sie sich beobachtet. Sie blickte sich um, aber entdeckte keine Person und auch keine Kamera auf einem Zaun, keine Wächter patrouillierten. Kein Roboter mit Kamera, der durch die Gegend rollte und verdächtige Bewegungen der Bevölkerung aufzeichnete. Hier gab es keinerlei Technik, nur Wiese und Wälder. Ein rhythmisches Klackern drang an ihr Ohr. Vorsichtshalber wich sie vom Weg ab und versteckte sich hinter einem der alten, knorrigen Laubbäume. Das Geräusch schwoll an und wurde ab und zu durch ein seltsames, festes Klatschen ergänzt. Viktoria sank auf die Knie und lugte ein wenig hinter dem Baum hervor. Ein ungewöhnliches Gefährt auf mehreren Rädern schoss an ihr vorbei. Fast hätte ein vorbeifliegendes Steinchen sie getroffen. Tiere liefen davor her und waren scheinbar durch ein Gestell daran befestigt. Zwischen ihnen und dem Wagen, welcher Art auch immer er war, saß ein dunkel gekleideter Mensch, der ab und an den Arm schwenkte und das Knallen ertönen ließ. Kutscher. Viktoria erinnerte sich, so etwas war in einer der Geschichten vorgekommen, die Rafi erzählt hatte. Das seltsame Gefährt, nein, die Kutsche, fuhr in atemberaubender Geschwindigkeit an ihr vorbei. Ein ungutes Gefühl setzte sich in Viktoria fest. Ob es nun real war oder eine perfide Art ihres Nachlebens – sie wollte keine nähere Bekanntschaft mit dem Besitzer des Gefährts machen. Irgendetwas daran schien seltsam. Und so lange sie nichts darüber wusste, hielt sie sich lieber fern. Sie ließ den Weg hinter sich, sodass sie ihn aus der Ferne gerade noch ausmachen und parallel verfolgen konnte. Viktoria wollte lieber abseits bleiben und dafür allein. Ihre Richtung entsprach der Fahrtrichtung des Gefährts. Wo auch immer es hergekommen sein musste, hier musste ein Ausgang sein. Oder ein Ziel.

Nach einer Weile erreichte sie einen schmiedeeisernen Zaun, der mehr schief als gerade in der Erde stand und von Efeu überwuchert war. Wieder stand sie vor der Frage, welche Richtung sie einschlagen wollte. Wenigstens hatte sie dieses Mal die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten. Weder die dunkle Gestalt, Bully, noch ihr unrühmlicher Fenstersturz hatte oder war eine Wahl ihrer selbst gewesen. Wo zum Henker war sie hier nur? Suchend blickte sie den Zaun entlang hinauf und hinunter. Unschlüssig drehte sie sich um. Quer durch das Grün wollte sie nicht zurück, wer wusste schon, wann die nächste dunkle Gestalt hindurch sauste. Ob es nur einen einzigen Ausgang gab? Unruhe schlich sich in Viktorias Herz. Jeder Schritt, der sie näher an den Weg führte, führte sie zum dunklen Gefährt. Sie wusste nicht warum, aber sie wollte keineswegs entdeckt werden. Solange sie keine Ahnung hatte, was sich hier abspielte, musste sie Sicherheit über alles andere stellen.

„Eine kluge Entscheidung“, piepste eine hohe Stimme neben ihrem Ohr.

Vor Schreck sprang Viktoria nach rechts und landete voll im Efeu, der den rostigen Zaun verdeckte. Was zur … ? Ein kleines Etwas schwirrte vor ihr in der Luft. Viktoria wollte danach greifen, aber es war zu schnell für sie. Auf die Idee, sich etwas eingebildet zu haben, kam sie gar nicht. Sie richtete sich wieder auf und versuchte, das schwirrende Etwas auszumachen. Da, rechts oben störte etwas Flirrendes die ruhige Baumszene.

„Was bist du?“

Keine Antwort. Viktoria kniff die Augen zusammen. Es war weg. Sie sah sich suchend um. „Wo bist du?“

Nichts.

„Hallo?“, versuchte sie es erneut.

Ein Rascheln antwortete ihr, es kam vom Zaun. Vorsichtig ging Viktoria mit einem Knie auf den Boden.

„Ich tue dir doch nichts. Wer bist du?“

„Ich bin Zara“, zwitscherte das kleine Ding aus dem Efeu. „Und ich musste warten, bis du die richtige Frage stellst.“

„Die richtige Frage?“, gab Viktoria überrascht zurück.

„Natürlich. Ich bin kein Etwas, ich bin ein wer. Und wenn man das nicht erkennt, neigen Menschen dazu, uns als kleine Dinge zu betrachten, die nichts wert sind.“

Auf einer betrüblichen Ebene machte das sogar Sinn.

„Bringst du mich heim?“

Viktoria zuckte zurück. „Wie bitte?“

„Ich habe den Weg aus den Augen verloren, hilfst du mir?“

Sie zögerte. „Ich weiß nicht wie.“

Das Schweigen zwischen ihnen zog sich in die Länge.

„Wo ist dein Zuhause?“

„Die schwarze Kutsche.“

Viktoria schwindelte es.

„Dorthin willst du zurück?“

Fast kam es ihr vor, als würde Zara die Flügel traurig hängen lassen. „Ich muss. Sonst kann ich meine Aufgabe nicht erfüllen.“

Das war ein Gefühl, das Viktoria kannte, seit Mo ihr in der Anstalt den Kopf gewaschen hatte.

„Welche Aufgabe hast du denn?“

„Erinnern.“

Viktorias Stirn furchte sich. „An was willst du dich denn erinnern?“

Leise kicherte Zara.

„Nicht ich muss mich erinnern. Ich weiß genau, worum es geht. Hilfst du mir?“

„Sag mir wie und ich kann dir und wem auch immer vielleicht helfen“, bot Viktoria an.

„Wir müssen zur Kutsche“, wiederholte die kleine Gestalt.

Zögerlich drehte sich Viktoria in die Richtung des Weges, der das Gefährt verschluckt hatte. Sie versuchte, sich einzureden, dass sie sowieso nichts anderes tun könne. Sie war vom Dach gefallen, in einer Wiese aufgewacht und von einem Flatterwesen besucht. Wahrscheinlich lag sie in Wirklichkeit schwer komatös auf der Krankenstation der Anstalt. Sie zuckte mit den Schultern.

„Okay, lass uns gehen.“

Fröhliches Gekicher antwortete ihr und sie stutzte, bis sie begriff. Ein verstecktes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie antwortete: „Fein, ich gehe, du fliegst, Zara.“

Gemeinsam pirschten sie sich immer näher an den Weg. Aus der Nähe sah er unschuldig aus. Bedeutungslos. Trotzdem mochte er an ein Ziel führen, das Unsicherheiten bereithielt. Zara zwitscherte ihr ermutigend ins Ohr. Zumindest vermutete Viktoria, dass sie es so meinte. Das Tor, zu dem der Pfad sie geführt hatte, war eine simple Öffnung im Zaun. Es gab kein Gatter, keine Tür. Die Mauer endete einfach und der Weg führte hindurch. Als wäre einfach eine Bresche geschlagen worden. Vorsichtig lugte sie um die Ecke. Vor ihr lag mehr Weg, mehr Grünanlage. Weit konnte sie allerdings nicht blicken, eine kniehohe Hecke versperrte ihr die Sicht. Für eine Weile regte sich absolut nichts auf der Anlage. Viktoria nahm ihren Mut zusammen und rannte los. Für sieben beängstigende Sekunden befand sie sich im Sichtfeld von Personen oder Wesen, von deren Anwesenheit sie nicht einmal wissen mochte. An der Hecke angekommen, ließ sie sich sofort auf den Boden fallen und verharrte in absoluter Stille. Kein Wind ging, kein Grashalm neigte sich auch nur einen Millimeter. Als Zara plötzlich vor ihr flatterte, wäre Viktoria fast umgekippt.

„Was machst du da unten?“, fragte das zierliche Geschöpf.

„Mich verstecken“, erklärte sie das Offensichtliche.

„Was bringt dir das?“, bohrte Zara weiter.

„Nicht entdeckt zu werden.“

Suchend sah die Kleine sich um.

„Wer sollte dich entdecken? Hier ist niemand.“

Entnervt blickte Viktoria auf.

„Vielleicht versteckt er sich auch.“

Irrte sie sich oder kratzte ihre flatternde Begleitung sich am Kopf?

„Nein, das glaube ich nicht. Los komm, wir müssen zur Kutsche.“

Vorsichtig spähte Viktoria über den Heckenrand. Sie sah nichts. Was nichts heißen mochte. Dennoch. Ewig konnte sie nicht auf dem Boden kauern. Sie stand auf und wandte sich ihrer Begleitung zu.

„Weißt du, wo wir hinmüssen?“

Ein beschäftigtes Summen war die Antwort.

„Zara?“

„Eine Kutsche kann schlecht durch die Wiese fahren. Wir folgen dem Weg, Dummerchen.“

Es war das erste Mal, dass eine Welle aus Wut durch Viktoria rollte. Da stand sie hier in einer eigentümlichen Welt und wusste nicht, was real war. Genauso gut könnte sie sich einfach wieder in die Wiese legen und Zara ein flatterndes Etwas sein lassen, das verloren gegangen war. Was kümmerte sie der Verbleib eines kleinen Wesens und seine Aufgabe.

Doch sobald diese Gedanken einmal ihren Kopf durchquert hatten, schämte sie sich auch schon wieder. Nach Rafi hatte sich niemand um sie gekümmert. Sie war genauso ignoriert worden. Es war eine beschissene Zeit. Und auch wenn Zara vielleicht nur eine Einbildung war – sie war die beste Gesellschaft, die sie aktuell hatte. Sie gab sich einen Ruck und bereitete sich darauf vor, einen langen Marsch zu ihrem Ziel zurückzulegen.

„Okay, dann los“, resignierte sie und umging die Hecke mit großen Schritten.

Bald schreckte ein Geräusch sie aus ihrem gleichmäßigen Trott auf. Ein Rabe flatterte nicht weit über ihren Köpfen durch die ausschweifenden Äste der umherstehenden Bäume. Ohne Umschweife ließ er sich auf einem Zweig nieder, der bis tief in den Weg reichte. Viktoria überlief ein Frösteln, als sie unter ihm hindurch ging. Ein weiteres Mal ertönte starker Flügelschlag und als sie sich umblickte, war ein zweiter Rabe auf dem Ast. Sie spannte ihre Hände zu Fäusten. Es fehlte noch einer. Stur blickte sie gerade aus und setzte einen Fuß vor dem anderen. Zara konnte ihre Anspannung nicht entgangen sein, doch das kleine Wesen flog wortlos neben ihr her. Sie näherten sich einer weitläufigen Kurve und instinktiv hielt sich Viktoria auf der Innenseite des Weges.

Ihre Schritte verlangsamten sich, bis sie schließlich vollständig innehielt. Da stand es, das dunkle Gefährt. Scheinbar hatte es kehrtgemacht und stand nun mit der Vorderseite schräg zu Viktoria da. Die davor gespannten Pferde standen bewegungslos und scharrten nicht einmal mit den Hufen. Die Gestalt vor der Kutsche war verschwunden. Zara neben ihr brach in hektisches Flattern und Zirpsen aus.

Viktoria stockte, mit ihrer Hand griff sie an ihren Hals. Diese Kutsche löste eine tiefgehende Unruhe in ihr aus, die sie nicht erklären konnte. Aber woher?

„Zara?!“, flüsterte sie erstickt.

„Ja?“, zwitscherte das Wesen von ihrer rechten Schulter.

„Willst du dort wirklich hinein?“

Jauchzend stieg die Kleine in die Höhe und drehte eine Pirouette.

„Ja, hier gehöre ich hin. Erinnerst du dich an etwas?“

Der erwartungsvolle Ton ließ Viktoria erschauern. Etwas hatte sich in ihr gelöst und nahm Fahrt auf. Es war ein einzelner Gedanke. Schnell kniff sie sich in den Arm und Zaras Jubeltanz brach ab.

„Was ist los, warum willst du dich nicht erinnern?“

Aufgebracht wandte Viktoria sich der Kleinen zu.

„Willst du mir etwa sagen, es geht um meine Erinnerungen?“

Sie rümpfte ihr kleines Näschen.

„Na in wessen Gedankenwelt sind wir denn hier, wenn nicht in deiner?“, fragte sie eingeschnappt. „Natürlich geht es darum, dass du dich erinnerst. Hör auf, dich dagegen zu wehren, das bringt nichts.“

Betäubt wich Viktoria nach hinten aus. Noch im Zurückgehen drehte sie sich um und fiel in einen Laufschritt. Das konnte nicht wahr sein! Fast wäre sie in den Ast gerannt, der tief im Weg hing. In letzter Sekunde legte sie eine Vollbremsung hin und kam schlitternd wieder zum Stehen. Die beiden Raben waren nicht mehr allein. Ein Dritter hatte sich zu ihnen gesellt, merklich größer als die beiden anderen. Majestätisch saß er zwischen seinen Begleitern und sah auf sie herab. Eine Erinnerung stieß blubbernd an die Oberfläche. Drei Raben auf einem Ast waren das Symbol für Tod. Eine alte Frau hatte ihr das immer wieder gesagt, während sie auf ihrem Schoß saß und sich die alten Geschichten anhörte. Vor dem Feuer saßen sie und die Hände der alten Frau hatten kaum mehr Kraft, deswegen durfte Viktoria sich nicht plötzlich bewegen, sonst wäre sie auf den Boden gefallen. Drei Raben. Fragte sich nur, wer sterben würde.

233,67 ₽
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321 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783742794383
Издатель:
Правообладатель:
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Формат скачивания:
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