Читать книгу: «Depression und Burn-out überwinden», страница 5

Шрифт:

Der Notfallkoffer

Zum Verständnis:

Menschen, die sich in schwer aushaltbaren seelischen Zuständen befinden, ist eines gemeinsam: Die Ganzheit von Körper, Geist und Seele ist verloren gegangen. Es kann leicht geschehen, dass Sie als Betroffene aus ihren Gedankenschleifen, den Emotionen und der Unruhe nicht mehr herauskommen. Das Gefühl für die Realität gleitet Ihnen weg und Katastrophenfantasien, das typische „Kopfkino“ oder bestimmte Körpersymptome nehmen überhand. Das liegt an den Alarmreaktionen im limbischen System, die die normale Körperwahrnehmung und das nüchterne Denken beeinträchtigen. Die gesamte Persönlichkeit ist auf Notfallprogramm geschaltet, bei dem es allein darauf ankommt, zu fliehen, zu kämpfen oder sich tot zu stellen, was meist wenig nützt. Deshalb sind Sie vielleicht immer wieder außer sich, unruhig, panisch, verkrampft oder blockiert.

In solchen Situationen sind alle Maßnahmen hilfreich, die dafür sorgen, dass Sie sich körperlich wieder besser spüren und in die Realität des Hier und Jetzt zurückfinden. Erfahrungsgemäß haben Sie in solchen Situationen jedoch keinen klaren Kopf. Es fällt Ihnen gerade dann, wenn Sie es am nötigsten brauchen, nichts ein, was Sie für sich tun könnten. Sie sind, ähnlich wie es Menschen im ganz normalen Alltag oft geht, wie abgeschnitten von Ihrer Kreativität. Ihr „Notfallkoffer“ hält die Maßnahmen für Sie bereit, die für Sie ganz persönlich hilfreich sind, um da wieder herauszukommen.

Dieser „Notfallkoffer“ ist eine Auflistung aller für Sie derzeit hilfreichen Aktivitäten, die Ihnen helfen können, wieder klar zu werden und zur Realität zurückzufinden. Praktischerweise haben Sie ihn (sie) immer bei sich oder Sie wissen, wo er liegt. Was ist darin enthalten?

Der Notfallkoffer ist so individuell, wie die Betroffenen verschieden sind, und vor allem: Sie kann für den objektiven Beobachter sehr unorthodoxe, ja, sogar absurde Empfehlungen enthalten. Die Maßnahmen dieser Notfallliste haben nur einen Zweck, nämlich den, dass Sie sich selbst steuern können, indem Sie etwas „Sinn-volles“ tun.

Nehmen wir diesen Fall: Sie bekommen plötzlich Panik, allein zu sein. Sie werden von extremen Verlassenheitsgefühlen überschwemmt, da ihr Mann gerade das Haus verlassen hat. Sie können sich noch so oft sagen, dass das doch Unsinn sei, da sie ja eben gerade noch in Ruhe die Zeitung gelesen haben, doch das nützt Ihnen wenig.

Egal, was es ist – es ist gerade so. Kein Grund jedenfalls, mit sich zu hadern, sondern die Aufforderung, die Situation so, wie sie ist, anzunehmen und konkret damit umzugehen.

Ihr Notfallkoffer könnte die folgenden Maßnahmen für Soforthilfe enthalten:

•Stopp! Bewusstheit einschalten, die Situation annehmen: Ja, es ist jetzt wieder so. Ich bin panisch, obwohl das eigentlich nichts mit der Realität zu tun hat. Was kann ich tun?

•Ein großes Glas kaltes Wasser trinken, eventuell mit Rescue-Tropfen (5 Tropfen) oder mit Baldriantropfen (50 Tropfen)

•Auf die Schnelle erst einmal die Thymusdrüse klopfen oder den „Wunden Punkt“ reiben, wie im Kapitel „Leib-Seele-Kontakt durch Klopfen und Berühren“ beschrieben, und sich sagen:

„Auch wenn ich gerade totale Panik habe, bin ich gut so, wie ich bin …“

•Für ein kraftvolles Körpergefühl sorgen – Ausrichtung in der Horizontalen und Vertikalen: Fest mit den Füßen auf den Boden stampfen (Erdung) und/oder die Hände fest gegen die Wand stemmen (eigene Kräfte spüren). Einen Gegenstand in der Hand fest drücken (handlungsfähig werden).

•Mit den Händen die Innenseiten der Knie berühren und ein paar ruhige Atemzüge zulassen.

•Ausprobieren, ob Willenskraft hilft, die Abwärtsspirale zu durchbrechen (zum Beispiel wütend werden: „Jetzt aber Schluss mit dem Quatsch!“). Sie dürfen in dieser Situation gerne Kraftausdrücke benutzen, in einer anderen Sprache sprechen oder singen. Werden Sie von mir aus zum Clown, zum Schauspieler, falls Sie dadurch eher die Kontrolle über sich bekommen. (Eine Frau sprach in solchen Situationen gerne bayrisch, da sie auf diese Weise besser schimpfen konnte.)

•Ortswechsel, Ebenenwechsel: Sie gehen nach draußen oder tun etwas, was Sie beschäftigt (Gehweg fegen, aufräumen, staubsaugen …).

•Auf Bewährtes zurückgreifen. Eine Klientin hatte beispielsweise folgende Punkte auf ihrer Liste: Ein festes Kissen umarmen und sich beruhigen durch sanftes Hin- und Herwiegen; Fahrrad fahren; sich in die Badewanne legen, duschen, einkaufen; einen Freund anrufen; Wut am Boxsack ausagieren; eine „Trommelmusik“ anhören

•Wenn das alles nicht hilft, gehen Sie durch das Gefühl hindurch: Wo im Körper spüre ich das Gefühl? Das Gefühl vor sich sehen, es als Gegenstand vor sich hinstellen und Augenbewegungen machen (längere Zeit rechts und links daran vorbeischauen).

•Entlastung durch Schreiben: Aus „Verzweiflung“ eine Story ähnlich einem Märchen (er)finden und sich buchstäblich aus dem unglücklichen Zustand herausschreiben („Es war einmal ein ganz unglücklicher kleiner Junge. Er hatte sich im Wald verlaufen … Da sah er auf einmal … Sie gingen zusammen … Da war er endlich sicher und geborgen …“) Märchen sind immer in der Vergangenheit geschrieben. Der Held geht durch schwierige Gefühle hindurch und die Geschichte nimmt ein gutes Ende. Das weiß unser Unbewusstes. Ich werde später darüber noch ausführlicher berichten.

•Jemanden zur Unterstützung dazuholen oder anrufen, der sich nicht verwickeln lässt und der einem etwas zutraut („Mit dem Rest der Angst kommst du auch allein zurecht!“)

•Klopfserien nach Dr. D. Klinghardt (2014), wie im Kapitel „Leib-Seele-Kontakt“ (S. 189) beschrieben, oder Mentaltechniken anwenden. (Siehe Kapitel „Probleme kompostieren“, S. 201)

Alle Techniken, die Sie gut finden und mit denen Sie sich auskennen, gehören auf Ihre Liste. Notieren Sie alles, was Sie schon einmal als hilfreich empfunden haben, auch wenn Sie meinen, dass das doch albern sei. Ist es nicht! Niemand anders muss das lesen.

Eine Frau fragte mich einmal allen Ernstes: „Ich rede immer mit mir wie mit einem Hund, ist das nicht verrückt?“ Ich erklärte ihr, dass ich das für äußerst sinnvoll hielte. Wer mit sich selbst spricht, nimmt mit sich Kontakt auf. Sprache ist unser wichtigstes Kontaktmedium. Und Beziehung zu uns selbst ist das, was die Seele gerade jetzt braucht, um Ruhe und Selbstkontrolle zurückzugewinnen. Nebenbei bemerkt haben viele Menschen genau deshalb einen Hund, damit sie einen Vorwand haben, um mit sich selbst sprechen zu dürfen. Und sie sprechen mit ihrem Hund meist netter als mit sich selbst!

Sie können sich auch spezielle Notfallkoffer für ganz verschiedene Gefühlszustände kreieren: für Panik, für Lethargie, für Verwirrung, für Traurigkeit, für negative Stimmen …

Meine Empfehlung:

Schreiben Sie ganz schnell ein paar Dinge auf, die Ihnen vertraut sind und von denen Sie wissen, dass sie Ihnen schon einmal gutgetan haben. Tun Sie es jetzt, jetzt sofort! Dann haben Sie schon etwas Wichtiges unternommen.

Im Anhang finden Sie ein Verzeichnis aller praktischen Maßnahmen, die im Buch vorgestellt werden. Wählen Sie die Selbsthilfemaßnahmen aus, die Ihnen spontan einleuchten und die zu Ihnen passen. Vor allem aber: Finden Sie Ihr eigenes Repertoire an Maßnahmen. Von Angeln über Holz hacken bis Zeitung verbrennen ist alles erlaubt. Hauptsache, es hilft!


Foto Franziska Bauß

Themenkreis 2: Gute Rahmenbedingungen schaffen
Was ist richtig oder falsch? – Stimmige Entscheidungen treffen

Zum Verständnis:

Gerade in der Anfangszeit, wenn Sie sich der Krankheit bewusst geworden sind, stehen viele Entscheidungen an: Klinikaufenthalt – ja oder nein? Medikamente – ja oder nein? Ausruhen oder belasten? Kontakt oder Rückzug? Viele Betroffene berichten mir, dass sie sich überfordert fühlen, irgendwelche Entscheidungen zu treffen, insbesondere, wenn sie sowieso schon ständig hin- und hergerissen sind und sich schwach oder unausgeglichen fühlen. Der Grund: Bei jeder Entscheidung riskiert man, etwas Falsches zu tun, mit der Konsequenz, dass es einem danach noch schlechter gehen könnte, denn leider gibt es keine Garantie, immer das Richtige zu tun. Was ist in dieser Situation hilfreich?

Ein Mann, der schon einige Zeit krankgeschrieben war, berichtete mir, eigentlich habe er nur noch ein einziges tiefes Bedürfnis, nämlich zu Hause zu sein. Er würde am liebsten mit niemandem sprechen, gerade mal das Notwendigste mit seiner Frau und seinen Kindern, und er könne stundenlang einfach nur so in einer ruhigen Ecke sitzen und nichts tun. Er habe keine Lust, Musik zu hören, Medien zu nutzen, zu lesen oder Beschäftigungen nachzugehen, die er sonst immer sehr gerne gehabt habe. Er fragte mich, ob das denn in Ordnung sei oder ob er sich zwingen solle, etwas Bestimmtes zu tun. Seine Wortwahl, dass er eigentlich nur ein tiefes Bedürfnis habe, war im Grunde schon seine klare Entscheidung für Ruhe und Konzentration auf sich selbst. Sie kam ganz von innen. Sein Verstand meldete jedoch Zweifel an.

Gerade dann, wenn Menschen lange Zeit über ihre eigenen Bedürfnisse hinweggegangen sind oder sich nicht erlaubt haben, zu sich selbst zu stehen, fehlen ihnen das Vertrauen und der Mut, ungewohnte Bedürfnisse zuzulassen. Doch gerade das ist der „not-wendige“ Lernprozess bei Krankheit oder jeglichem anderen Leiden. Auch mit ganz kleinen Entscheidungen wie „Gehe ich jetzt raus oder bleibe ich zu Hause?“ kann man lernen, eigene Bedürfnisse zu erkennen. Richtige Entscheidungen erkennt man daran, dass sie sich „nicht anstrengend“ anfühlen. Es ist vielleicht ungewohnt, dem lockeren Gefühl im Körper zu trauen, der Entspannung im Kopf und dem Empfinden „Ja, das ist es!“. Stattdessen wären viele andere Optionen vielleicht vernünftig, empfehlenswert oder gesundheitsfördernd, aber das Gefühl sagt dazu: „Nee, keine Lust!“

Eine Frau gestand mir, dass es ihr fast etwas peinlich sei, dass ihr „die banalsten Beschäftigungen wie die, ein wenig herumzuräumen“, schon vollauf genügen würden. Sie plagte sich sehr mit der Entscheidung, ob sie der Einladung zu einer Familienfeier folgen solle. All die netten Angehörigen hatte sie vor Augen, die ja so viel Verständnis für ihre Situation zeigen würden und den Wunsch hätten, sie dabeizuhaben. Ihr Empfinden war jedoch eindeutig: Eine so große Gesellschaft wäre jetzt nicht das Richtige für sie. Allerdings fürchtete sie, man werde ihr eine Absage übel nehmen.

Tatsächlich können wir es im Leben nicht allen Menschen recht machen. Immer zieht einer den Kürzeren, entweder wir selbst oder die anderen. Da es aber in der Krise vornehmlich darauf ankommt, die eigenen Bedürfnisse kennenzulernen und ernst zu nehmen, gehen diese vor.

Da die Patientin noch unsicher war, machte ich ihr den Vorschlag, zu testen, welche Option sich stimmiger anfühlte, indem sie sich zuerst auf einen Stuhl mit der Option „Einladung annehmen“ und dann auf einen anderen Stuhl mit der Option „Zu Hause bleiben“ setze. Im ersten Fall verkrampfte sich ihr ganzer Körper. Sich die vielen Menschen vorzustellen machte ihr Kopfschmerzen und alles zog sich in ihr zusammen. Sie kam zu dem Schluss: Ich will zurzeit nicht viel sprechen. Bei der Vorstellung, zu Hause zu bleiben, machte sich ein wohliges Gefühl von Geborgenheit in ihrem Körper breit und sie atmete erleichtert aus. Es erstaunte sie selbst, wie eindeutig die Signale waren. Doch in ihr kam auch Angst vor ihrer eigenen Entscheidung hoch. Ihr „inneres Kind“ fürchtete sich davor, nicht mehr gemocht zu werden. Wir überlegten deshalb eine Formulierung, die niemand vor den Kopf stoßen würde, wie etwa: „Im Moment ist es besser für mich, zu Hause zu bleiben. Wenn ich wieder fit bin, freue ich mich, euch wiederzusehen.“ Statt also nur abzusagen, drückte sie es positiv aus. Auf diese Weise kann man negativen Befürchtungen meist den Wind aus den Segeln nehmen.

*

Nicht immer ist die Sachlage so eindeutig, da eine Entscheidung vielleicht noch gar nicht getroffen werden kann. Die Zeit ist einfach noch nicht reif. Vielleicht muss sich ein eindeutiges Gefühl erst entwickeln. Lassen Sie sich deshalb Zeit. Meine Erfahrung ist, dass die Betreffenden Schritt für Schritt Klarheit gewinnen, zur Not mit Unterstützung von außen. Immer geht es um die beste Lösung für die Seele.

Fremder, warum sitzt du hier und starrst vor dich hin?

Der Fremde: Ich bin drei Tage scharf geritten und warte darauf, dass meine Seele mich einholt.

So lautet ein Spruch aus dem Orient. Er beschreibt treffend das Bedürfnis von Seele und Körper nach Ausgleich und Ganzheit. Wie Sie noch sehen werden, ist Ruhe ein zentraler Heilungsfaktor, um die Ganzheit wieder herzustellen. Haben Sie also Geduld und lassen Sie Ihre Entscheidungen reifen.

Meine Empfehlung:

Der Stühletest

Mit dem Stühletest können Sie leicht überprüfen, ob Entscheidungen stimmig sind oder nicht. Stellen Sie zwei oder mehrere Stühle hin, die verschiedene Lösungen repräsentieren. Indem Sie sich auf die jeweiligen Stühle setzen, können Sie genau herausfinden, auf welchem Stuhl es sich am stimmigsten anfühlt. Manchmal ergeben sich auch Teillösungen oder eine Rangfolge von Lösungen. Man kann sich auch ein Zeitfenster vorstellen, in dem eine bestimmte Lösung vorläufig gelten soll.

Leiten Sie die Übung damit ein, dass Sie sich etwas „dumm“ stellen. Das gibt Ihrer Kreativität mehr Raum und Sie entscheiden mehr „aus dem Bauch“. Stimmige Entscheidungen fühlen sich immer entlastend, leicht und richtig an, selbst wenn Sie damit nicht vollends auf Zustimmung Ihrer Umwelt stoßen sollten. Entscheidend sind im Moment aber nicht die anderen, sondern ganz alleine Sie.

Die Gratwanderung zwischen zu viel und zu wenig

Zum Verständnis:

Die Depression ist eine Lebensphase, die von starker Instabilität geprägt ist, sowohl seelisch als auch körperlich. Sie haben wechselnde Stimmungen, fühlen sich körperlich mal völlig erschöpft, mal hoch angespannt und getrieben. Mal überschlagen sich die Gedanken, mal haben Sie einen völlig leeren Kopf, der nichts verarbeiten mag. Die „Mitte“, das normale nüchterne Denken, das Sie von sich kennen, ist Ihnen mehr oder weniger abhandengekommen. Insbesondere am Anfang ist es eine wirkliche Gratwanderung zu entscheiden, was für Sie im Moment gerade zu viel und was zu wenig ist.

Sie haben vielleicht schon Ratschläge gehört wie diese: Du musst dich jetzt mal gründlich ausruhen! Oder: Du solltest jetzt ganz viel Sport machen und aktiv werden! Oder: Du solltest dich jetzt mal völlig zurückziehen! Oder: Du darfst jetzt auf keinen Fall allein sein!

Es geht einerseits darum, sich nicht zu überfordern, und andererseits darum, nicht in Lethargie abzurutschen und mit der Zeit ein Gefühl dafür zu bekommen, was guttut und was nicht.

Ich betone diese Herangehensweise deshalb, weil jede Überforderung, aber auch jede Unterforderung Stress erzeugt. Im Gehirn werden dann wieder zu viele Stresshormone ausgeschüttet und wertvolle Neurotransmitter verbraucht. Sowohl Lethargie als auch übersteigerte Anstrengung müssen deshalb vermieden werden.

Wie kommt es, dass in der Depression so leicht die Gefahr besteht, sich entweder zu überfordern oder im Gegenteil in die völlige Passivität abzugleiten? Wir haben weiter vorn von den Stimmungsschwankungen gesprochen. Die depressiven Gefühlszustände sind mal sehr schlimm und manchmal sind sie auch völlig verschwunden, sodass die Betroffenen meinen, nun seien sie wieder fit. Da die Sehnsucht groß ist, möglichst schnell wieder normal zu funktionieren, ist die Versuchung groß, dass Sie Ihre Belastbarkeit überschätzen, sobald Sie sich nur ein wenig besser fühlen. Das bisschen mehr an Energie wird dann oft in Aktionen umgesetzt, die Sie noch überfordern.

Ich erinnere mich an eine Patientin, die in einem Anflug von Euphorie mit Freunden eine eintägige Städtereise machte, um eine Freizeitmesse zu besuchen. Sie waren vierzehn Stunden unterwegs. Es war ein tolles Erlebnis, doch war die Patientin danach zwei Wochen lang in einem heftigen Stimmungstief. Offensichtlich hatte sie die Reise nur unter Aufbietung von sehr viel Adrenalin geschafft. Die Nebenniere brauchte zwei Wochen, um sich davon zu erholen. Adrenalin wird dann ausgeschüttet, wenn unser emotionales Gehirn Notsignale empfängt und sendet. In der Depression kann das schon durch eine ganz geringe Überanstrengung geschehen.

Verführerisch ist, dass Adrenalin kurzfristig das Stimmungsbarometer ansteigen lässt. Für einen Gesunden hat das durchaus positive Konsequenzen. In der Depression aber verstärkt sich durch die Überanstrengung und den Stress das Neurotransmitter-Defizit nur noch mehr. Das Gehirn braucht lange, bis es sich davon erholt hat. Viele Hilfesuchende haben erst nach dieser Erklärung verstanden, warum es ihnen nach solch einem positiven Erlebnis schlechter geht als vorher. Vermeiden Sie also jede Übertreibung und gehen Sie im Zweifelsfall eher zwei Schritte zurück. Vor allem zu Beginn der Erkrankung, wenn das Hormonsystem instabil ist, gilt es, ein „Polster an Energie“ anzulegen, etwa im Sinne von: Eigentlich könnte ich noch mehr. Aber erst mal lieber nicht … Das gilt insbesondere für Sport, dem ich in diesem Buch ein eigenes Kapitel widme, aber auch für alle anderen Tätigkeiten. Egal, ob es sich um Gartenarbeit oder um das Erledigen von beruflichen und privaten Pflichten handelt – gewöhnen Sie sich an, nach einer oder zwei Stunden zu überprüfen: Was tue ich da gerade? Wie geht es mir dabei? Wechseln Sie die Tätigkeit und wechseln Sie vor allem zwischen Aktivität und Ruhe.

Es versteht sich von selbst, dass es auch wenig sinnvoll ist, stundenlang apathisch im Bett zu liegen, es sei denn, Sie gönnen sich bewusst mal einen Tag im Bett, weil Ihr Körper und Ihre Seele diese Fürsorge jetzt brauchen und sie genießen können.

Übertreibungen erkennt man daran, dass man sich damit letztlich nicht richtig wohlfühlt. Es fühlt sich entweder so an, wie außer sich zu sein, oder so, wie dumpf und leer zu sein. Viel gesünder ist jetzt ein Pendeln um die Mitte. Deshalb ist ein harmonischer Tagesrhythmus so wichtig, in dem der Körperpflege, dem Essen und Trinken, den kleinen Belastungen und Pflichten des Alltags, aber auch musischen Beschäftigungen bestimmte Zeiten gewidmet sind, die mit Bewegung und Ruhe abwechseln. Berufstätige sollten auf einen guten Tagesbeginn, auf bewusste Körperwahrnehmung und schrittweise erfolgendes, ruhiges Arbeiten mit vielen kleinen Pausen achten, indem Sie ständig positive Selbstgespräche führen im Sinne von: „Schau mal, das haben wir jetzt schon gut geschafft! Den Rest kriegen wir auch noch hin.“

Wenn die Krankheit einen Sinn hat, dann den, dass Sie sich selbst besser kennenlernen und herausbekommen, was Ihnen guttut. Die meisten Menschen haben erst durch die Erkrankung die Balance der eigenen Kräfte entdeckt.

Sie können Ihren Zustand in etwa vergleichen mit der Phase eines Säuglings kurz nach der Geburt, in der die Seele äußerst empfindlich ist. Da müssen Temperatur und Lichtverhältnisse stimmen. Anregung und Ruhe müssen sich die Balance halten. Der Säugling möchte mal allein sein, mal braucht er ganz viel Zuwendung und Pflege. Ähnlich wie bei einem Säugling geht es nicht um Standardmaßnahmen, sondern um Dinge, die ganz individuell richtig sind.

Finden Sie für sich selbst heraus: Wie viel Rückzug in mein Schneckenhaus ist gut und wie viel Kontakt brauche ich? Auch hier kommt es auf die Qualität an. Rückzug in die Atmosphäre des eigenen Zuhauses ist dann sinnvoll, wenn Sie sich dort geborgen fühlen. Kontakt ist dann wichtig, wenn Sie sich zu viel um die eigene Achse drehen und sich selbst verlieren.

Nehmen Sie sich täglich eine kleine Unternehmung vor, um mit Menschen in Kontakt zu sein: Einkaufen, eine physiotherapeutische Anwendung, Kontakt mit dem behandelnden Arzt oder Therapeuten, Besuch einer wohltuenden Veranstaltung oder eine Tätigkeit, die angenehme Empfindungen auslöst. Achten Sie darauf, dass Sie zwischen Aktivität und Ruhe abwechseln. Kommen Sie sich auf die Schliche, wenn Sie drauf und dran sind, wieder in Extreme zu verfallen. Sie wissen ja jetzt, warum.

Meine Empfehlung:

Verschaffen Sie sich in jeder Phase Ihres Tages Klarheit darüber, ob die Tätigkeit oder das Untätigsein gerade guttun und wie lange Sie darin verweilen wollen. Sie könnten sich fragen:

•Habe ich einen guten Tagesrhythmus?

•Habe ich Bewegung und Ruhe im Blick?

•War ich heute schon an der frischen Luft?

•Habe ich genug gegessen und getrunken?

•Habe ich heute schon einen menschlichen Kontakt gehabt?

•Habe ich heute etwas Schönes erlebt (Musik, Tiere, Garten, eine Kerze, ein Lächeln)?

•Brauche ich meinen Notfallkoffer?

•Habe ich heute schon etwas Aufbauendes gelesen (einen Spruch, ein Gebet, ein paar wohltuende Worte oder Zeilen)?

•Habe ich heute schon dokumentiert, was ich gemacht habe und was gut war?

Sie werden sehen, wie nützlich das „Übungsfeld Depression“ für Sie ist, wenn Sie wieder aktiver am Leben teilnehmen. Leiden ist nicht angenehm, aber es zwingt zu wichtigen Erkenntnissen und macht kreativ.

Zum Abschluss dieses Kapitels ein Sinnspruch aus dem Sanskrit:

Achte gut auf diesen Tag,

denn er ist das Leben – das Leben allen Lebens.

In seinem kurzen Ablauf

liegt alle Wirklichkeit und Wahrheit des Daseins,

die Wonne des Wachsens, die Größe der Tat,

die Herrlichkeit der Kraft.

Denn das Gestern ist nichts als ein Traum

und das Morgen nur eine Vision.

Das Heute jedoch – recht gelebt –

macht jedes Gestern zu einem Traum voller Glück

und jedes Morgen zu einer Vision voller Hoffnung.

Drum achte gut auf diesen Tag.

[Neben dem Sanskrit wird als Quelle für diesen Text vielfach auch genannt: Rumi (1207–1273), persischer Mystiker und Dichter, Begründer des Sufismus. Anmerkung des Verlags]

1 244,25 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
368 стр. 15 иллюстраций
ISBN:
9783954843879
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают