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4Wissenschaftspropädeutik im Spannungsfeld von Fach und Fächerverbindung

Wiebke Kuske-Janßen

4.1Wissenschaftspropädeutik, fächerübergreifendes Lernen und außerschulische Lernorte – eine vielversprechende Kombination

Unter Wissenschaftspropädeutik versteht man das unterrichtliche Lernen über wissenschaftliche Arbeitsweisen und die Reflexion von Stärken und Grenzen einer wissenschaftlichen Disziplin (vgl. Huber, 2009). Sie kann als Verknüpfung zwischen dem Unterrichtsfach und seiner Bezugsdisziplin im Wissenschaftsbereich aufgefasst werden und verortet das Lernen über eine Wissenschaftsdisziplin im Fachunterricht. So ist das Unterrichtsfach Physik durch seinen Bezug zur Wissenschaftsdisziplin Physik bestimmt, auch wenn weder die Legitimation des Fachs noch dessen Ausrichtung ausschließlich durch diesen Bezug gerahmt wird. Ähnliches gilt für das Fach Chemie. Was in naturwissenschaftlichen Bereichen noch recht augenfällig scheint, erweist sich für Schulfächer aus anderen Wissenschaftsbereichen jedoch durchaus als deutlich divergenter. In den verschiedenen Unterrichtsfächern ist die Wissenschaftspropädeutik unterschiedlich stark auf ihre Bezugsdisziplin bezogen und setzt unterschiedliche Schwerpunkte. So wird in den naturwissenschaftlichen Didaktiken Wissenschaftspropädeutik intensiv unter dem Begriff «Nature of Science» reflektiert (vgl. Lederman, 2006). In der Geschichtsdidaktik wiederum geht es um das Erlernen und Reflektieren der historisch-kritischen Methode als Grundlage der Gegenwarts- und Zukunftsanalyse (vgl. z. B. Brauch, 2015) sowie speziell um das historische Argumentieren (vgl. z. B. Mierwald und Brauch, 2015). In der Deutschdidaktik werden hingegen mit spezifischen Lese- und Schreibkompetenzen (vgl. z. B. Ludwig, 2003) vor allem die Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens generell diskutiert.

Während Huber (1994) die Notwendigkeit fächerübergreifenden Unterrichtens für das Erreichen wissenschaftspropädeutischer Lernziele betont, werden in diesem Kapitel nach einer einführenden Begriffsklärung auf Grundlage innerfachlicher fachdidaktischer Betrachtungen über Wissenschaftspropädeutik interfachliche Bezüge, die für fächerübergreifendes Unterrichten nützlich sein können, herausgearbeitet, und das Potenzial außerschulischen Lernens für die Wissenschaftspropädeutik wird ausgelotet.

4.2Begriffsbestimmung: Wissenschaftspropädeutik

Der Begriff der Wissenschaftspropädeutik wird im Schulkontext verwendet, um zum einen vor allem im Rahmen der gymnasialen Oberstufe die Vermittlung des notwendigen wissenschaftlichen Methodenwissens für ein Hochschulstudium zu beschreiben, zum anderen wird der Begriff aber auch genutzt, um im unterrichtlichen Kontext das Metawissen über ein Fach und seine fachliche Bezugswissenschaft zu reflektieren. Insbesondere letztere Form der Wissenschaftspropädeutik kann durch fächerübergreifendes und außerschulisches Lernen gefördert werden. Aus diesem Grund soll im Folgenden Wissenschaftspropädeutik aus Sicht der Fachdidaktiken Physik, Chemie, Geschichte und Deutsch beleuchtet werden, um daraus vielversprechend erscheinende Ansätze für fächerübergreifendes und außerschulisches Lernen abzuleiten.

Allgemein kann wissenschaftspropädeutisches Lernen nach Huber (2009) auf drei unterschiedlichen Ebenen verstanden und vermittelt werden. Wissenschaftspropädeutik meint demnach die Vermittlung von

•Techniken wissenschaftlichen Arbeitens sowie von Lern- und Studienstrategien,

•Grundbegriffen und Grundmethoden sowohl in fachlicher Konkretisierung als auch in überfachlichem Vergleich und

•Metareflexionen in philosophischen (z. B. wissenschaftstheoretischen und ethischen), historischen und sozialen/politischen Bezugsrahmen (Huber, 2009, zit. nach Krause, 2014, 23).

Huber (1994) betont, dass sich Wissenschaftspropädeutik nicht in der Vermittlung wissenschaftlicher Arbeitsweisen oder in der exemplarischen Einführung in die Grundlagen eines Fachs (Grundfrage, Grundbegriffe, Grundmethoden) erschöpft. Vielmehr umfasst Wissenschaftspropädeutik die Thematisierung des wissenschaftlichen Vorgehens selbst:

«die expliziten und vor allem die impliziten zugrundeliegenden Annahmen (hidden assumptions), die Grundbegriffe (in ihrer Differenz von intra- und extradisziplinärer Bedeutung), die Problemdefinitionen (und damit Problemausblendungen), die methodischen Zurechtlegungen des Gegenstandes und die Gütekriterien innerhalb der jeweiligen Zunft (scientific community), die daraus folgende Aspekthaftigkeit des Wissens, die historischen Kontexte und Bestimmungen der Konzipierung, Herstellung und Verwertung wissenschaftlichen Wissens, kurz: Wissenschaft als soziale Konstruktion von Wirklichkeit» (Huber, 1994, 245).

Die von Huber genannten Punkte zur Wissenschaftspropädeutik erscheinen eng verknüpft mit dem Disziplinbegriff bei Heckhausen (1972) (siehe Abb. 4.1). Dieser betont, dass jede Disziplin charakterisiert wird durch:

•ihr «material field» (Piaget): Welches ist der lebensweltliche Ausschnitt an Primärerfahrungen (Objekte, Phänomene), auf den sich das Erkenntnisinteresse richtet, und damit der Untersuchungsgegenstand der Disziplin?

•ihr «subject matter»: Was ist das Erkenntnisinteresse? Mit welchen Observablen wird das «material field» beobachtet, welche werden ausgeblendet (Perspektive)? Dies ist vergleichbar mit den von Huber (1994) genannten Problemdefinitionen (s.o.).

•ihr «level of theoretical integration»: Heckhausen meint hier die «Theoriegeladenheit» einer Wissenschaftsdisziplin. Er schreibt:

«Each empirical discipline (i.e. leaving purely theoretical disciplines, like mathematics, aside) tries to reconstruct the ‹reality› of its subject matter in theoretical terms in order to get hold of that overwhelmingly complex reality, in order to understand, explain and predict phenomena and events involving the subject matter. In doing so the categorial nature of the relevant observables of the subject matter determines the categorial level of theoretical integration of the fundamental and unifying concepts.» (Heckhausen, 1972, 84)

Er spricht auch davon, dass eine Disziplin umso reifer («state of maturity») sei, je höher ihr Level an theoretischer Integration sei. Huber spricht in diesem Zusammenhang nicht explizit von Theorien, wenn er aber von Grundbegriffen spricht, sind diese Teil davon.

•ihre «methods»: Welche Methoden nutzt eine Disziplin, um ihre Observablen beobachten zu können und sie in interpretierbare Daten zu verwandeln?

•ihre «analytical tools»: Wie werden Daten analysiert? (Anwendung der Methoden auf die Observablen für die Objekte, Phänomene.)

•«applications of a discipline in fields of practice»: Wie anwendungsorientiert ist eine Wissenschaftsdisziplin, und in welchen Bereichen wird sie angewendet? Dies hat Einfluss auf die epistemologischen Konzepte und die Organisation, Forschung(sinteressen) und (universitären) Lehrpläne einer Wissenschaftsdisziplin.

•«historical contingencies of a discipline»: Die geschichtliche Entwicklung einer Disziplin, die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse und der aktuelle Zeitgeist beeinflussen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie die Wissenschaft (vgl. Heckhausen, 1972, 83–86).

Abbildung 4.1:

Der Disziplinbegriff in Anlehnung an Heckhausen (1972) und Huber (1994)


Unterrichtsfächer orientieren sich häufig an den etablierten Wissenschaftsdisziplinen und deren inhaltlichen und methodischen Grenzen (vgl. auch Rajh, 2017, 188). Sie bilden somit im klassischen Sinne die Grundfragen, Grundbegriffe und Grundmethoden der entsprechenden Wissenschaftsdisziplin ab. Erst wenn Unterricht auch über Leistungen und Grenzen einer Disziplin reflektiert, ist er im Sinne von Heckhausen und Huber wissenschaftspropädeutisch und bildet die Disziplin somit umfassend ab. Abbildung 4.2 veranschaulicht das beschriebene Verhältnis.

Abbildung 4.2:

Das Verhältnis von Wissenschaftsdisziplin und Unterrichtsfach


Wissenschaftspropädeutik kann nach Huber (1994) nur in fächerübergreifenden Lerngelegenheiten vermittelt werden. Um Traditionen und Kulturen eines Fachs sichtbar zu machen, bedarf es eines fachfremden Blickes. Hierfür bietet fächerübergreifender Unterricht Möglichkeiten (siehe Kap. 3).

4.3Wissenschaftspropädeutik in der Schulpraxis

Die Verankerung wissenschaftspropädeutischer Bildung im Unterricht basiert auf dem 1970 vom Bildungsrat verabschiedeten «Strukturplan für das Bildungswesen». Hier wird begründet, dass die moderne Gesellschaft es erfordert, dass Schülerinnen und Schüler sich der Bedeutung und des Einflusses von Wissenschaften bewusst werden und diese kritisch reflektieren können (Bildungsrat, 1970, 33). Allgemein wird im «Strukturplan» die Wissenschaftsorientierung des Schulunterrichts festgelegt. Dies bedeutet eine Orientierung der im Unterricht behandelten Themen und Inhalte an wissenschaftlich akzeptierten Theorien und Modellen sowie die Vermittlung wissenschaftlicher Denk- und Arbeitsweisen.

In den aktuellen Vorgaben für das Gymnasium wird der Rahmen für wissenschaftspropädeutisches Lernen durch einen Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) auf Bundesebene begründet. Aus dem Beschluss der KMK «Vereinbarung zur Gestaltung der Gymnasialen Oberstufe» geht hervor, dass der Unterricht in der gymnasialen Oberstufe eine allgemeine Studierfähigkeit sowie wissenschaftspropädeutische Bildung vermitteln soll. Das heißt, der Unterricht soll an wissenschaftliche Fragestellungen, Kategorien und Methoden heranführen (vgl. KMK, 2016). Die Lehrpläne der Bundesländer setzen diesen Beschluss unterschiedlich um.

Einen Kern der wissenschaftspropädeutischen Bildung stellt in den meisten Bundesländern die Facharbeit dar, die Schülerinnen und Schüler mehr oder weniger selbstständig verfassen müssen. Der geforderte Umfang und die Gewichtung der Facharbeit sind von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich. Zum Teil werden diese Facharbeiten durch den Lehrplan obligatorisch gefordert, in anderen Bundesländern sind sie eine fakultative Leistung. Auch die Verfahren zur Themenbestimmung differieren zwischen der freien Wahl eines Themas durch die Schülerinnen und Schüler oder der Auswahl aus einem gegebenen Fragenkatalog bis hin zur Themenvorgabe. Ebenso wird die Bindung an ein konkretes Unterrichtsfach mehr oder weniger eng vorgenommen. Große Unterschiede gibt es auch hinsichtlich der Bearbeitungszeit: Während den Schülerinnen und Schülern in Thüringen ein ganzes Schuljahr für die Bearbeitung zur Verfügung steht, ist der Bearbeitungszeitraum in Nordrhein-Westfalen auf sechs Wochen beschränkt. Dies zeigt den sehr unterschiedlichen Stellenwert, den diese Form der wissenschaftspropädeutischen Aufgabenstellung in den verschiedenen Bundesländern hat.

Auch wenn das wissenschaftspropädeutische Arbeiten am Gymnasium einen besonderen Stellenwert einnimmt, ist es in Grundzügen auch in den Klassenstufen der Mittel- oder Realschule ein durchaus wichtiger Aspekt, der in den Fächern Beachtung finden sollte und auch findet. Hier steht in der Regel die Vermittlung grundlegender Arbeits- und Denkweisen einer Wissenschaftsdisziplin im Vordergrund und wird so auch in den curricularen Vorgaben gefordert.

4.4Wissenschaftspropädeutik aus den fachdidaktischen Perspektiven der Einzelfächer

In der fachdidaktischen Forschung wird der Begriff je nach Fach mit unterschiedlicher Schwerpunktlegung und sehr unterschiedlich hinsichtlich Intensität und Umfang verwendet. Im Folgenden soll eine grundlegende Literaturschau aus den Fachdidaktiken Chemie, Physik, Geschichte und Deutsch einen ersten Überblick über das Forschungsinteresse und den aktuellen Stand der Forschung geben.

In den naturwissenschaftlichen Fächern finden die Reflexion und Begründung wissenschaftspropädeutischen Lehrens und Lernens in den letzten Jahren verstärkt Beachtung. In den Fachdidaktiken der Physik und Chemie umfasst der Begriff «Nature of Science», wie bereits angedeutet, die Reflexion über das Wesen der Naturwissenschaften, aber auch notwendige Kompetenzen und Metawissen über naturwissenschaftliche Arbeitsweisen wie beispielsweise das experimentelle Handeln sowie die Reflexion über Rolle und Bedeutung des Experiments in der Naturwissenschaft. In der Geschichtsdidaktik finden sich Ansätze, die über die Vermittlung wissenschaftspropädeutischer Bildung zum einen zum Verstehen der Wissenschaftlichkeit des eigenen Fachs beitragen wollen. Zum anderen geht es um die Orientierungsfunktion historischer Bildung und Erfahrung für die Bewältigung von Gegenwarts- und Zukunftsfragen. In der Deutschdidaktik finden sich vergleichsweise wenige Publikationen (vgl. aber z. B. Betz & Firstein, 2019), die explizit fachspezifische wissenschaftspropädeutische Fragen thematisieren. Ursächlich hierfür ist u.a. das Verhältnis der Lerninhalte des Unterrichts zur Bezugswissenschaft Germanistik, auf das im Folgenden noch näher eingegangen werden soll. Ein zentraler Gegenstand deutschdidaktischer Arbeiten sind hingegen Fragen spezifischer wissenschaftlicher Lese- und Schreibkompetenzen und ihrer Propädeutik in der Schule.

4.4.1Wissenschaftspropädeutik in der Didaktik der Physik und Chemie

In der Didaktik der Physik und der Chemie wird die wissenschaftspropädeutische Ausbildung in der Schule unter dem Begriff des Lernens über «Nature of Science» beziehungsweise «Natur der Naturwissenschaft» zusammengefasst. Hierzu gehören wissenschaftsphilosophische Lerninhalte, die sich erkenntnistheoretischen und wissenschaftstheoretischen Bereichen zuordnen lassen.

Die Gründe für die Notwendigkeit einer wissenschaftspropädeutischen Ausbildung im naturwissenschaftlichen Unterricht beziehen sich auf das grundlegende Ziel der Erziehung zum mündigen Bürger. Dieser muss in der Lage sein, aktuelle wissenschaftliche Entwicklungen multiperspektivisch unter ethischen, ökologischen, sozialen oder auch ökonomischen Gesichtspunkten kritisch abzuwägen, in der technisierten Welt autonom zu handeln und bei Entscheidungen und Stellungnahmen in aktuellen Diskursen begründete Positionen einzunehmen (vgl. Kircher, 2015, 770–773, Schaake, 2011, Höttecke & Henke, 2010). Kurzum: Um aktuelle Diskurse in Politik und Wissenschaft nachvollziehen zu können und auf ihrer Basis eigene Meinungen zu bilden und Entscheidungen treffen zu können, ist es essenziell, zu verstehen, was Naturwissenschaft leistet und wie naturwissenschaftliche Diskurse funktionieren.

Im Folgenden sollen einige Ansätze beschrieben werden, mit denen wissenschaftspropädeutische Inhalte im naturwissenschaftlichen Unterricht vermittelt werden können. Zunächst wird beschrieben, was in der naturwissenschaftsdidaktischen Forschung unter «Nature of Science» verstanden wird. Hier geht es um die explizite Thematisierung und Reflexion von Metawissen über eine Wissenschaft. Im darauffolgenden Abschnitt sollen dann einige wissenschaftliche Methoden dargestellt werden, die den Schülern und Schülerinnen grundlegende naturwissenschaftliche Arbeitsweisen näherbringen sollen.

«Nature of Science»: Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie im naturwissenschaftlichen Unterricht

Bezogen auf den Physikunterricht, differenziert Kircher (2015, 809–841) erkenntnistheoretische, wissenschaftstheoretische und ethische Ziele und Inhalte. Diese im Folgenden beschriebenen Ziele sind für Naturwissenschaften allgemein formuliert und damit sowohl für den Physik- als auch den Chemieunterricht relevant. Unter ethischen Zielen versteht Kircher grundlegende Fragen der Wissenschaftsethik, Technikethik sowie Bioethik und beispielsweise die Reflexion der Fragen, wie viel Technik der Mensch braucht und wie das Biotop Erde erhalten werden kann.

Die Aspekte der Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie sollen im Folgenden näher beschrieben werden.

Erkenntnistheorie befasst sich mit dem Verhältnis des physikalischen Wissens und der Welt. Kircher (2015) formuliert folgende erkenntnistheoretische Ziele für den Physikunterricht: Die Schülerinnen und Schüler sollen verstehen,

•dass sich die Erkenntnistheorie mit dem Verhältnis von Naturwissenschaft und Wirklichkeit befasst;

•dass erkenntnistheoretische Auffassungen die Arbeit der Naturwissenschaftler und Naturwissenschaftlerinnen und damit auch die Interpretation fundamentaler naturwissenschaftlicher Theorien beeinflussen;

•dass bei Entscheidungsprozessen innerhalb der Naturwissenschaften (Bestätigung oder Widerlegung einer Hypothese) experimentelle Tatsachen einen hohen Stellenwert haben, Theorien aber weder endgültig beweisen noch widerlegen;

•dass naturwissenschaftliche Theorien immer in bestimmte Epochen ihrer Disziplin eingebettet sind. Sie spiegeln damit wider, was in dieser Epoche als wahr gilt, und sind somit prinzipiell vorläufig und veränderbar;

•dass diese prinzipielle Vorläufigkeit naturwissenschaftlicher Theorien keine Willkür darstellt, sondern einen moderaten Relativismus impliziert, der mit der Kontingenz8 und Unbestimmtheit der Sprache und der empirischen Unterbestimmtheit naturwissenschaftlicher Theorien zusammenhängt;

•dass durch die Naturwissenschaften gesicherte experimentelle Tatsachen hinreichen können, um grundlegende Erkenntnistheorien (z. B. Realismus und Instrumentalismus) zu modifizieren und Anlass und wichtiges Argument für einen Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften sein können. Auch solche wichtigen experimentellen Tatsachen können grundlegende naturwissenschaftliche Theorien und grundlegende Erkenntnistheorien weder endgültig beweisen noch endgültig widerlegen;

•dass ihr eigenes Verständnis der Physik, Chemie oder Biologie von erkenntnistheoretischen Auffassungen beeinflusst wird;

•dass erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Auffassungen nicht immer zu trennen sind (vgl. Kircher, 2015, 766–767).

Neben den beschriebenen Aspekten der Erkenntnistheorie sollen auch wissenschaftstheoretische Inhalte im Unterricht verankert werden. Wissenschaftstheorie befasst sich mit der begrifflichen und methodischen Struktur der Wissenschaft (analytische Wissenschaftstheorie) und ihrer historischen Entwicklung (historische Wissenschaftstheorie). Die analytische Wissenschaftstheorie beschäftigt sich mit Arten von Erklärungen, die in einer Wissenschaft genutzt werden, bestimmten Vorgehensweisen (Erkenntnisprozessen) und auch mit der Wissenschaftssprache. Die historische Wissenschaftstheorie nimmt die Änderung naturwissenschaftlicher Weltbilder im Laufe der Zeit in den Fokus und reflektiert über die wechselseitige Einflussnahme von Gesellschaft und naturwissenschaftlicher Forschergemeinschaft. Zu den wissenschaftstheoretischen Zielen und Inhalten für den Physikunterricht zählt Kircher:

•Grundelemente zur Beschreibung des Wechselspiels der Genese neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse: naturwissenschaftliches Objekt, Theorie, Modell, Gesetz, Hypothese, Experiment, experimentelle Daten.

•Befassung mit Begriffen, die die Methodologie der Naturwissenschaft beschreiben: hypothetisch-deduktive und induktive Methode, Falsifikation, Verifikation, Bestätigung und Bewährung von Theorien (z. B. nach Popper). Hier ordnen sich auch Arbeiten ein, die einen modellhaften naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess beschreiben, der dann Grundlage für die didaktische Strukturierung von Erkenntnisprozessen im Unterricht oder explizit zum Inhalt wissenschaftspropädeutischen Naturwissenschaftsunterrichts sein kann. In der Chemiedidaktik findet sich eine solche Beschreibung eines Forschungszyklus beispielsweise bei Gall, Völkl und Anton (2012).

•Sinn naturwissenschaftlicher Theorien: Phänomene (im naturwissenschaftlichen Sinne) erklären, prognostizieren, systematisieren.

•Kritische Diskussion des modernen Relativismus (vertreten v. a. durch Kuhn und Feyerabend, die den Einfluss soziologischer und psychologischer Aspekte auf den naturwissenschaftlichen Diskurs und Erkenntnisprozess betonen).

•Theoriegeladenheit physikalischer Begriffe und damit einhergehende Bedeutungsveränderung im Vergleich zu ihrer alltagssprachlichen Nutzung (z. B. Masse, Raum, Zeit).

•Erkenntnis, dass naturwissenschaftliche Theorien empirisch unterbestimmt und prinzipiell hypothetisch und vorläufig sind (vgl. Kircher, 2015, 769).

Eine kürzere Zusammenfassung wissenschaftspropädeutischer Inhalte findet sich bei Ertl (2013). Dieser beschreibt sechs Aspekte der «Nature of Science»: (1) die Vorläufigkeit, (2) Empiriebasiertheit und (3) Theoriegeladenheit naturwissenschaftlichen Wissens, (4) den naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess als kreativen sozialen Aushandlungsprozess, (5) die Unterschiede zwischen Beobachtung und Schlussverhalten sowie (6) die Unterschiede zwischen Theorie und Gesetzen (vgl. Ertl, 2013).

Ähnliches beschreibt auch Hofheinz (2010) für den Chemieunterricht. Er fasst zusammen: Wissen über Naturwissenschaften umfasse das Nachdenken über Methoden und Wertvorstellungen einer Forschergemeinschaft, die Reflexion des erkenntnistheoretischen Status naturwissenschaftlichen Wissens und die kulturelle und soziale Verflechtung des naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozesses. Hofheinz betont außerdem, dass es kein konsensfähiges Wissen über die Natur der Naturwissenschaften gebe, sondern vielmehr darüber, welches Wissen über Naturwissenschaften relevant sei. Dieses relevante Wissen beschreibt er nach Lederman (2006) hinsichtlich folgender Aspekte: der empirischen Basis naturwissenschaftlicher Erkenntnis, des Status von Beobachtungen, Deutungen und Modellen, des Status von Theorien und Gesetzen, der anschaulich-kreativen Seite der Naturwissenschaften, der Theoriegebundenheit naturwissenschaftlichen Wissens, des sozialen und kulturellen Einflusses auf naturwissenschaftliches Wissen, des Mythos einer einheitlichen naturwissenschaftlichen Methode und der Vorläufigkeit naturwissenschaftlichen Wissens (vgl. Hofheinz, 2010).

Wissenschaftsnahe Methoden im naturwissenschaftlichen Unterricht

Für die naturwissenschaftliche Methodik ist das Experiment zentral. Die Beschreibung der Rolle des Experiments wie des Experimentierens selbst in der Physik oder Chemie würde hier jedoch zu weit führen (vgl. als Einstieg z. B. Kircher, 2015, 244–260). Im naturwissenschaftlichen Unterricht werden in der Regel vorstrukturierte Versuche durchgeführt, jedoch sollen Schüler und Schülerinnen auch einen authentischen Einblick in den naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess erhalten und entsprechende Experimentierkompetenz entwickeln (einen Überblick über Arbeiten zur experimentellen Kompetenz geben Gut-Glanzmann & Mayer, 2018). In Bezug auf das Experimentieren verspricht insbesondere die Methode des explorativen Experimentierens, Schülerinnen und Schüler nah an wissenschaftliche Erkenntnisprozesse heranzuführen. Dies setzen sich insbesondere viele Schülerlabore als Ziel, die dank ihrer Nähe zur Forschung häufig eine besondere Authentizität in Bezug auf das naturwissenschaftliche Arbeiten aufweisen.

Eine andere wichtige wissenschaftliche Methode ist das Modellieren, das ebenfalls Teil des unterrichtlichen naturwissenschaftlichen Methodenrepertoires sein sollte (vgl. z. B. Krüger et al., 2018).

Eine Methode, die Schülerinnen und Schüler bewusst den historischen Erkenntnisgang nachentdecken lässt und die damit auch das Potenzial bietet, über die Entwicklung der Wissenschaft und wissenschaftliche Methoden zu lernen, stellt das historisch-genetische Lernen dar. Bei dieser Methode wird die explizite Auseinandersetzung mit dem Erkenntnisweg zu einem eigenständigen Lernziel. Den Schülerinnen und Schülern soll vermittelt werden, wie eine naturwissenschaftliche Erkenntnis entstanden ist, welche Methoden und Arbeitsweisen zu ihr geführt haben und auch welche mittlerweile überholten fachlichen Konzepte und Erklärungen auf dem Weg zu ihr lagen. Damit rückt die naturwissenschaftliche Erkenntnisgewinnung in den Fokus (vgl. Kircher, 2015, 172).

Ein ähnliches Ziel, ohne die historische Dimension, verfolgt die Methode des forschenden oder entdeckenden Lernens, bei der die Schülerinnen und Schüler möglichst selbstständig arbeiten und sich an Methoden naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung orientieren sollen (vgl. z. B. Kircher, 2015, 174–176, 811–813).

Fachsprache und Argumentationskompetenz

Ein weiterer wesentlicher Aspekt der Wissenschaftspropädeutik sind fachsprachliche Fähigkeiten als Teil naturwissenschaftlicher Kommunikationskompetenz. Diese haben als ein zentraler Bestandteil naturwissenschaftlichen Unterrichts in jüngster Zeit in der fachdidaktischen Forschung viel Beachtung gefunden. Die Vermittlung grundlegender fachsprachlicher Kompetenzen gehört in dem Sinne zur Wissenschaftspropädeutik, als sie Schülerinnen und Schülern die Teilhabe an gesellschaftlichen Diskursen über Wissenschaft erst ermöglicht, auch wenn das Ziel nicht darin bestehen kann, Schülerinnen und Schüler zur Teilnahme am wissenschaftlichen Expertendiskurs selbst zu befähigen. Einen Überblick über Theorie und Forschungsstand zum Thema Fachsprache im Physik- und Chemieunterricht bieten z. B. Rincke und Markic (2018).

Neben der grundsätzlichen fachsprachlichen Kompetenz wird in der aktuellen Forschung auf das Argumentieren fokussiert. Einen Überblick hierzu geben von Aufschnaiter und Prechtl (2018):

«Argumentationen spielen nicht nur im Alltag eine bedeutsame Rolle, ihnen kommt auch als wissenschaftliche Denk- und Arbeitsweise eine tragende Funktion zu. Sie dienen auf der einen Seite dazu, aus Beobachtungen und theoretischen Überlegungen Schlussfolgerungen abzuleiten, haben also eine epistemische Funktion (wissensgenerierende Argumentationen; Jiménez-Aleixandre und Erduran 2008). Auf der anderen Seite bilden sie das zentrale Kernelement der verbalen und schriftlichen Kommunikation wissenschaftlicher Erkenntnisse, von deren Gültigkeit andere Personen überzeugt werden sollen (persuasive Argumentationen; Jiménez-Aleixandre und Erduran 2008; s. a. Osborne 2010).» (Aufschnaiter & Prechtl, 2018, 88)

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