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9

Am Sonnabend stand Nora früh auf, zog ihre Reitsachen an und fuhr los. Es hatte die ganze Woche geregnet, nun versprach das Wetter, schön zu werden. Nach der anstrengenden Woche im Büro war sie süchtig nach frischer Luft und Sonne. Auf dem Parkplatz des Reiterhofes angekommen, zog sie ihre Stiefel an, nahm den Eimer mit Futter für Jupiter und ging in Richtung Sattelkammer, um ein Halfter zu holen. Klaus-Dieter, der Hofbesitzer mit den krummen Beinen, von allen nur „Rittmeister“ genannt, kam ihr entgegen.

„He, Nora! Viel Spaß beim Ausritt. Du hast Glück, die Wege sind schon ganz gut abgetrocknet durch den Wind heute Nacht.“ Er hielt einen Führstrick in der Hand und zog eine ältere Stute hinter sich her, die offensichtlich lahmte. „Trixi hier muss zum Tierarzt, hat ein dickes Bein.“ Beruhigend klopfte er dem Pferd den Hals.

Nora blickte ihn fragend an.

„Ich habe Ralf angerufen, er hat Bereitschaftsdienst. Hoffe, das stört dich nicht.“

„Nein.“ Doch. Das störte Nora ganz gewaltig. Sie mochte ihrem Ex nicht unverhofft begegnen und ging ihm möglichst aus dem Weg.

„Dann ist’s ja gut.“ Mit diesen Worten stiefelte der Rittmeister weiter in Richtung Stall. Dort wartete Ralf sicher schon. Sein Auto hatte Nora allerdings nicht gesehen. Sie beeilte sich damit, ihr Pferd zu holen und es zu satteln, um dann so schnell wie möglich zu fliehen. Pferde waren Fluchttiere, und wahrscheinlich nahm sie dieses Wesen jetzt auch an, dachte sie bitter.

Seit Nora allein war, verbrachte sie wieder mehr Zeit auf dem Reiterhof. In der Woche arbeitete sie meist lange, machte im Haushalt nur das Nötigste und ging mit einem Buch zu Bett. Manchmal verabredete sie sich mit Sanne oder ihren Kollegen im Kino oder zum Essen. Aber das Wochenende gehörte Jupiter, ihrem Wallach. Sie kam sich wie ein Pferdemädchen vor und genoss die Zeit mit dem Tier. Jupiter hatte ihr über so manche Krise hinweggeholfen. Auch jetzt, da sie sich mit der Einsamkeit abgefunden hatte, war er ein zuverlässiger Weggefährte. Wie früher als Kind und junges Mädchen freute sie sich auf die Stunden mit ihm. Sie hatte ein neues Halfter und ein modernes Gelpad als Sattelunterlage gekauft. Auch eine schicke Abschwitzdecke hatte sie im Internet bestellt und alles mit kleinen Metallanhängern versehen, auf denen sein Name eingeprägt war. Das hatte sie sich bei den jungen Mädchen abgeschaut, die sogar die Decken besticken ließen. Nach wie vor bot der Reitsport Nora die maximale Entspannung. Dabei vergaß sie alle Sorgen, Probleme und den Stress, den ihr ihre Arbeit bescherte. Sobald sie auf dem Rücken ihres Pferdes saß, schenkte sie ihm die volle Aufmerksamkeit. Sie musste ihm Hilfen zum Wechseln der Gänge geben, die Richtung bestimmen und den im Gelände lauernden Gefahren aus dem Weg gehen. Nur manchmal, wenn sie Jupiter die letzte vertraute Strecke zum Hof galoppieren ließ, schweiften ihre Gedanken ab. Dann dachte sie wieder an die Zeit, als Ralf sie mit Jana betrogen hatte. Jana gehörte der Reiterhof, bei dem Nora damals ihr Pferd in Pension gehabt hatte. Sie und Jana hatten sich gut verstanden. Nora empfand es als doppelten Verrat, dass die Reiterin sich an Ralf herangemacht hatte. Was alles seitdem passiert war! Sogar ein neuer Mann war Nora begegnet und sie hatte noch einmal eine wunderbare Liebe erlebt. Manchmal kamen ihr aber Zweifel. Hätte sie um ihre Ehe kämpfen sollen? Als Ralf vor der Tür gestanden hatte und sie zurückhaben wollte, obwohl Jana schwanger gewesen war? Nein, es ging einfach nicht. Sie würde wieder so entscheiden. Sie wollte ihren Mann nicht mit einer anderen teilen, auch nicht vorübergehend.

Mittlerweile war sie wieder auf dem Hof angekommen und hatte Jupiter die Zügel nachgegeben. In gemächlichem Schritt erreichten sie den Platz vor der Sattelkammer. Die Hufe klapperten laut auf dem gepflasterten Boden. Nora fuhr aus ihren Tagträumen auf. Ralf war nirgends zu sehen. Erleichtert saß sie ab, versorgte ihr Pferd und machte sich auf den Weg zu ihrem Auto. Als sie um die Ecke bog, stieß sie fast mit ihrem Ex-Ehemann zusammen.

„Ich hab dich gesucht. Hast du ein paar Minuten Zeit?“

„Ja. Kurz“, sagte sie hastig und registrierte mit einem Blick, dass er abgenommen hatte. Seine Hose schlotterte und um die eingefallenen Wangen hatte sich ein grauer Bartschatten ausgebreitet. In Noras Kehle stieg ein wohlbekannter Schmerz hoch, der sie unweigerlich erfasste, wenn sie Ralf sah. Dieser Schmerz schoss in Sekundenbruchteilen Pfeile mit Fragen in ihr Gehirn, die nie beantwortet wurden. Was denkt er, wenn er mich sieht? Ist er glücklich? Bereut er es? Wie wäre alles gekommen, wenn ich nicht ausgezogen wäre? Und immer wieder: Warum? Warum ist das alles passiert? Warum musste mir das passieren? Nora schluckte den Schmerz hinunter und überlegte, wie lange Ralf wohl noch arbeiten wollte. Ob er keinen Nachfolger fand? Aber immerhin musste er jetzt Alimente zahlen. Da war es natürlich besser, ordentlich zu verdienen, anstatt Rente zu beziehen. Von Bea wusste sie, dass er und Jana nicht zusammenwohnten, geschweige denn verheiratet waren. Plötzlich dehnte sich ein verlegenes Schweigen zwischen ihnen aus wie eine dicke Nebelwand, die jedes gesprochene Wort verschluckte. Sie verhinderte auch, dass Nora und Ralf allzu nah beieinander zum Parkplatz liefen.

Achtlos warf Nora ihre Sachen in den Kofferraum und drehte sich energisch zu Ralf um. „Was wolltest du denn?“

„Es ist wegen der Hochzeit.“

Wie eh und je musste sie ihm alles aus der Nase ziehen. Nora sah ihn auffordernd an.

„Ich habe mich gefragt, ob du vielleicht mit … mir … mitfahren willst. Es ist ja ganz schön weit bis zu diesem Hotel auf Rügen.“

Nora hatte bereits nach seinem ersten Satz den Kopf geschüttelt. Dachte er etwa, sie würde mit Jana und dem Kind in einem Auto sitzen wollen? „Nein. Danke.“

„Ich fahre allein. Jana bleibt zu Hause. Falls du das befürchtet hast.“ Er besaß die Frechheit zu grinsen.

„Trotzdem, nein, wir sehen uns dann dort. Mach’s gut“, beschied sie ihm knapp. Erst als sie wieder hinterm Steuer saß, bemerkte sie das heftige Herzklopfen in ihrer Brust. Wütend fuhr sie los.

10

„Und du willst tatsächlich in Neustadt ausstellen, Carlo?“, fragte Hans ungläubig. „War die Stadt nicht immer ein rotes Tuch für dich?“

„Stimmt, aber jetzt fühle ich mich gewappnet. Meine Großmutter hat mir jahrzehntelang eingeredet, dass wir die Stadt meiden, weil da das Unrecht mit ihren Verwandten begann. Aber es sind so viele Jahre vergangen. Vielleicht sollten wir die alten Geschichten ruhen lassen.“

„Hast du denn schon eine Idee, wo du dich um eine Ausstellung bewerben willst?“

„Ja. Die Städtische Galerie ist meine erste Wahl. Ich muss mich an eine gewisse Nora Schönemann wenden. Hab mir ihre E-Mail-Adresse besorgt. Es kommen auch noch andere Galerien infrage, schauen wir mal.“ Karl sah sich im Atelier um. Es war nicht besonders groß, reichte aber für seine Zwecke. Meistens zeichnete er hier. Vier alte, metallene Grafikschränke standen an den Wänden und waren gut gefüllt mit großformatigen Kohle- und Bleistiftarbeiten. Auch Aquarelle und Temperamalereien waren dabei und die Ergebnisse seiner seltenen Ausflüge in die Druckgrafik. Zufrieden registrierte er, dass er ausreichend Material besaß, um ganze Säle mit seinem Werk zu füllen. Den meisten Platz nahm aber inzwischen seine stetig wachsende Sammlung von Gemälden dieser einen Malerin ein, die ihm so viel bedeutete. Wilhelmine Ernst. Ihr zu Ehren nannte Karl Kiesewetter sich als Künstler Carlo Ernesto.

Er trat an ein großes Ölbild heran, das neben dem Fenster hing. Zärtlich strich er mit dem Zeigefinger am Goldrahmen entlang. Er konnte sich nie sattsehen an dem Farbenrausch, den dieser im Zaum hielt.

„He, was ist? Gibt’s noch ’nen Kaffee bei dir?“, holte Hans ihn aus seinen Gedanken.

„Klar doch, mein Freund, schließlich brauche ich dich noch. Vielleicht musst du ja wieder meine Bilder transportieren, wenn Frau Schönemann einer Ausstellung zustimmt.“ Mit diesen Worten ging Karl in die kleine Teeküche seines Ateliers und setzte Wasser auf. Flüchtig blickte er in den Spiegel, den die Vormieterin zurückgelassen hatte. Er musste dringend zum Friseur. Unwillkürlich fuhr er sich mit den Fingern durch das feuerrote Haar. An den Schläfen zeigte sich endlich das erste Grau! Zeitlebens hatte ihm das rote Haar Hänseleien eingebracht. „Pumuckl“ oder „Feuerkopf“ waren noch die harmlosesten Spitznamen. Er war froh, dass ihm das wohl in nicht allzu ferner Zukunft erspart blieb.

11

Nora saß im Lesesaal des Stadtarchivs. Heute war es ziemlich voll. In den hinteren Reihen hatte sich eine Studentengruppe ausgebreitet, von denen einige miteinander flüsterten. Eine energisch wirkende Mittvierzigerin stand auf und öffnete eins der Fenster, die zum Hof hinausgingen. Vogelgezwitscher drang aus der großen Sommerlinde, deren Krone bis hierher im dritten Stock zu sehen war. Bald würde der Baum blühen und später die klebrigen Pollen umherfliegen. Entnervt schlug Nora den dicken Band mit gebundenen Zeitungen der Jahrgänge 1926 bis 1929 eine Spur zu laut zu. Ihr Nachbar blickte sie tadelnd an. Sie zuckte mit den Schultern. Das galt nicht nur ihm, sondern auch der ergebnislosen Suche. Wieder nichts. Kein Hinweis auf eine Ausstellung oder gar andere Notizen über das Leben von Wilhelmine Ernst. Es war, als hätte es die Frau in Neustadt gar nicht gegeben! Dabei hatte sie seit 1923 wieder hier gelebt. Da wäre es kein Problem mehr gewesen, als Frau auszustellen, es hatte in Neustadt sogar ein Museum gegeben. Was war passiert? War sie als Künstlerin in Vergessenheit geraten? Die Todesanzeige, die Nora schon früher in einer Tageszeitung gefunden hatte, enthielt nur die üblichen nüchternen Floskeln. Zumindest hatte sie daraus erfahren, dass Wilhelmine erst 1933 gestorben war und nicht schon drei Jahre vorher, wie Nora bis dahin angenommen hatte. Unterzeichnet hatte sie Wilhelmines Mutter, die damals uralt gewesen sein musste. Ihr Vater war bereits um die Jahrhundertwende gestorben. Hoffnungsvoll öffnete Nora den letzten Band des Neustädter Anzeigers, der die Jahrgänge 1930 bis 1933 enthielt. Die Seiten waren vergilbt. Trotz der Routine durchströmte sie jedes Mal, wenn sie alte Zeitungen oder Akten wälzte, das eigenartige Gefühl, Seite für Seite, Blatt für Blatt vergangene Existenzen zu spüren, die Aura der Menschen, deren Schicksale auf dem Papier vorbeizogen wie auf einem nie endenden Zeitstrahl. Sie begann, die Seiten zu durchforsten, die neben politischen Beiträgen, Werbeanzeigen, Schiffsnachrichten und einem Fortsetzungsroman auch Artikel über das gesellschaftliche Leben in Neustadt enthielten. Die Sucherei war ermüdend, und vor allem war Nora andauernd abgelenkt durch Anzeigen, die ihr ins Auge sprangen. So suchte ein Bauer eine Magd, die „recht drall“ sein sollte. Wozu war das wichtig? Ein Wirt hatte einen Zechpreller im Streit erschlagen und die Herren des Turnvereins gaben den Termin für das nächste Vereinsfest bekannt. Nora gähnte und sah auf die Uhr. Aber da! Endlich! Die Zeitung vom 15. Mai 1932 enthielt die Meldung über eine Ausstellung mit Bildern „der berühmten Tochter Neustadts“ anlässlich ihres fünfundsechzigsten Geburtstags. Sie selbst hatte wegen Krankheit nicht an der Eröffnung teilnehmen können, war jedoch von ihrem Berliner Galeristen Justus Brönning vertreten worden. Also hatte man sie doch nicht vergessen! Die Ausstellung hatte damals im Rathaus stattgefunden und alle zwanzig Gemälde waren verkauft worden. Der Kunstverein, dessen Vorsitzender der Uhrmacher Heinrich Wiechmann gewesen war, hatte die Schau initiiert. Dieses Geschäft gab es immer noch, vielleicht wussten die Nachkommen etwas oder besaßen gar Bilder. Und, was noch wichtig war, sie hatte den Namen des Galeristen von Wilhelmine Ernst gefunden. Das war immerhin eine weitere Spur. Zufrieden räumte Nora die Bände weg und klopfte an Bettinas Bürotür, um ihr von ihrem Fund zu berichten.

Die war jedoch nicht überrascht. „Siehst du? Wenn man gründlich sucht, findet man früher oder später was. Du hast beim letzten Mal zu schnell aufgegeben. Aber ich habe auch eine Neuigkeit.“

Nun setzte Nora sich doch auf den angebotenen Stuhl und sah ihre Kollegin erwartungsvoll an.

„Wir haben bei dem Fall deiner Gräfin Rattau etwas übersehen. Es lohnt sich immer, ein wenig nach links und rechts zu schauen.“

„Mach es doch nicht so spannend!“ Nora verdrehte die Augen.

Bettina lachte und schob sich die Lesebrille wieder auf die Nase. „Stell dir vor, sie hat noch mal geheiratet. Ich habe die Anzeige im Neustädter Tageblatt gefunden, ehrlich gesagt durch Zufall, aber ist ja egal.“

Nora nickte aufgeregt.

„Zwei Jahre nach Wilhelmines Verschwinden hat sie einen Adligen geehelicht, Rudolf von Horovitz. Sie haben das Stadthaus in Neustadt nicht aufgegeben, obwohl sie die meiste Zeit in Budapest lebten. Wie viele Adlige sind sie 1945 in den Westen gegangen oder vielleicht gleich dageblieben. Wann das letzte Mal jemand aus der Familie hier war, ist nicht bekannt. In der Villa haben dann Flüchtlinge aus Ostpreußen gewohnt. Was aus den Möbeln geworden ist, wissen wir nicht. Aber eine“, Bettina wedelte mit einer alten Karteikarte, „Jolanta Weber lieferte 1948 einen Karton mit Dokumenten und Briefen ein.“

„Ja, und wo ist der?“, rief Nora ungeduldig.

Bettina hob die Hände. „Gemach, gemach!“

Nora kicherte ob dieser alten Floskel in sich hinein. Die Archivarin tauchte manchmal nur schwer aus dem Sprachgebrauch in ihren Akten wieder auf.

„Den lasse ich erst aus dem Außendepot holen. Die Sachen sind noch nicht mal digitalisiert. Deshalb musste ich auf die gute alte Karteikarte zurückgreifen.“

„Okay.“ Nora gab sich geschlagen. „Wann kann ich da mal reingucken, in diesen Karton?“

„Ich ruf dich an.“

12

Nora saß in ihrem Büro und grübelte über dem Hängeplan für die Ausstellung von Wilhelmines Bildern. Dreißig hatte sie beisammen. Die Leihverträge mussten noch geschrieben werden, aber das Einverständnis aller Leihgeber lag schon vor. Unter den Exponaten waren etliche Ölbilder, Aquarelle und einige großformatige Zeichnungen. Bei großzügiger Hängung würde sie mit der Anzahl auskommen. Trotzdem war sie nicht zufrieden. Fünf oder zehn Bilder mehr konnten nicht schaden. Außerdem waren nur wenige Porträts dabei, meist Landschaften und Stillleben. In einem alten Katalog einer Berliner Ausstellung aus den Zwanzigerjahren hatte Nora Abbildungen einer ganzen Serie von Porträts in Öl gefunden, die „Nachbarn“ hieß. Wo waren sie geblieben? Auch die Nachforschungen über den Galeristen der Künstlerin waren bisher ergebnislos verlaufen. Nach dem Krieg war er nirgends mehr erwähnt worden. Allerdings hatte seine Berliner Galerie in einer Straße gelegen, die bei einem Bombenangriff vollständig zerstört worden war. Womöglich war er dabei umgekommen. Auch der Spur mit dem Uhrmacher Wiechmann war sie nachgegangen. Wiechmann Junior hatte erklärt, dass seine Familie keine Bilder von Wilhelmine Ernst mehr besäße. Er selbst hätte sie von seinem Vater geerbt. Sie hätten ihm aber nicht gefallen und so seien sie eben verkauft worden. Am liebsten hätte Nora ihn durchgeschüttelt. Wie konnte man so etwas Wertvolles und Schönes verkaufen? Angeblich hatte der Uhrmacher keine Adresse von dem Käufer mehr, obwohl der Verkauf erst vor wenigen Jahren über die Bühne gegangen war. Nora raufte sich die Haare.

Das Telefon klingelte. Der Antiquitätenhändler Hermann Meusel meldete sich, wie Nora erfreut feststellte. Sie hatte ihn gebeten, die Augen nach Bildern von Wilhelmine Ernst offen zu halten.

„Hallo, Frau Schönemann, ich hoffe, ich störe Sie nicht?“

„Natürlich nicht, Herr Meusel. Haben Sie Neuigkeiten für mich?“ Nora richtete sich auf ihrem Bürostuhl auf, wie immer, wenn sie ein Telefonat führte, das spannend zu werden versprach. Mit dem Kugelschreiber malte sie Kringel auf die Schreibtischunterlage und pustete sich nervös den widerspenstigen Pony aus der Stirn.

„Nun ja, ich weiß nicht, also es wurde letzte Woche ein Bild eingeliefert“, begann er umständlich. „Meine Assistentin hat es angenommen, ich war leider krank – Ischias, wenn Sie wissen, was ich meine.“

Nora hasste es, auf die Folter gespannt zu werden. Was interessierte sie denn sein eingeklemmter Nerv? Fast hätte sie gesagt: „Kommen Sie zur Sache!“, aber sie wollte nicht unhöflich sein, und Meusel war nicht mehr der Jüngste.

„Also ich kam zurück in den Laden, sah das Bild und erkannte sofort die Signatur der Wilhelmine Ernst. Sie hat ja stets mit abgekürztem Vornamen signiert.“

Das wusste Nora schon lange. Alle Welt sollte denken, die Bilder seien von einem Mann, Wilhelm Ernst, geschaffen worden. Angeblich waren sie so besser zu verkaufen.

„Tja, was soll ich sagen? Gleich am nächsten Tag erschien ein Käufer. Er bekannte, dass er von einem Freund den Hinweis auf das zum Verkauf stehende Bild bekommen hätte. Er zahlte bar, da konnte ich nicht Nein sagen, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Auch das kapierte Nora sofort. „Haben Sie das Bild denn wenigstens fotografiert? Und haben Sie den Mann nach seiner Adresse gefragt, sodass ich ihn kontaktieren kann? Vielleicht leiht er uns das Gemälde ja aus. Um was für ein Motiv handelte es sich denn?“

„Es ist das Porträt einer jungen Frau, hervorragende Arbeit. Ein Foto konnte ich noch machen, und ich habe den Herrn auch gefragt, ob Sie ihn kontaktieren dürfen. Also, begeistert war er nicht, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich fürchte, verleihen will er es wohl nicht.“

Das lass mal meine Sorge sein, dachte Nora. Laut sagte sie: „Mailen Sie mir das Foto? Und kann ich die Adresse bitte trotzdem haben?“

Ihr Gesprächspartner wand sich. „Also, ich weiß nicht, Frau Schönemann, eigentlich darf ich nicht … aber gut, verboten hat er es nicht direkt. Meine Assistentin schickt Ihnen alles.“

„Danke, Herr Meusel!“, antwortete Nora erleichtert.

Zehn Minuten später ploppte eine E-Mail in ihrem Postfach auf. Gespannt öffnete sie den Anhang und vergrößerte das Foto. Es war ein Selbstporträt der Malerin, ganz eindeutig Wilhelmine als junge Frau. Nora hatte in deren Tagebuch eine Zeichnung gefunden, die die knapp einundzwanzigjährige Künstlerin zeigte, und auch in alten Ausstellungskatalogen hatte sie schon ähnliche Abbildungen gesehen. Die eigentliche Überraschung aber war eine andere: Wilhelmine war offensichtlich schwanger.

13

„Hast du die E-Mail an Frau Schönemann schon geschrieben, Carlo?“, fragte Hans zwischen zwei Schlucken seines Bitburger Bieres und wischte sich den Schaum vom Mund.

Karl schüttelte den Kopf und sah seinen Freund an. Sie kannten sich aus der Schule, hatten zusammen Abi gemacht. Hans war lang und dünn wie eh und je, nur die Haare wichen immer mehr aus seiner Stirn, so als wollten sie sich im wahrsten Sinne des Wortes zurückziehen. Wie Karl hatte auch Hans kein Glück mit den Frauen. Wenn sie manchmal nach einem ihrer Junggesellenabende aus der Kneipe kamen, schworen sie sich, wie in Jugendzeiten ewig zusammenzuhalten. Sie waren beide der Überzeugung, dass nur Männer treu sein konnten. „Nein, hatte noch keine Zeit. Aber ich hab sie mal gegoogelt und ein Pressefoto gefunden. Vielleicht bisschen jünger als wir, sieht ganz nett aus.“

„Ganz nett?“ Hans schielte von seinem Glas hoch, das fast leer war. Viel war heute nicht los in der „Ecke“, ihrer Lieblingskneipe seit Urzeiten. Er winkte der Kellnerin, die gelangweilt hinter dem Tresen stand. Sie war eine Aushilfe für Uschi, die Stammkraft. Die hätte sofort das leere Glas durch ein volles ersetzt.

„Du Spinner! Ist das bei meinem Anliegen wichtig?“ Karl rollte mit den Augen. „Ich würde sagen, nicht mein Typ.“

„Und zu alt, Don Carlo, was? Hattest du nicht von jungen Frauen die Nase voll?“

Nur Hans durfte ihn damit aufziehen. „Zu alt, zu jung, ist doch eh wurscht“, nuschelte Karl. „Ich habe noch überlegt, was genau ich schreibe. Schließlich bewerbe ich mich nicht so oft um eine Ausstellung.“

„Stimmt, die haben sich um dich gerissen. Du solltest sowieso wieder öfter ausstellen. Bilder hast du genug und die Kritiken deiner wenigen Werkschauen waren immer gut. Anerkennung kann doch nicht schaden, oder?“

„Ja, schon, doch es macht auch viel Arbeit. Allein die ganzen Passepartouts zu schneiden, kostet Zeit. Aber vielleicht haben sie in einer solchen Galerie jemanden dafür.“ Karl gähnte und sah auf die Uhr. Morgen würde wieder ein anstrengender Tag werden. Die zehnten Klassen kamen aus dem Praktikum zurück.

399
477,84 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
Объем:
281 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783961456451
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