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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

I

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Vollständige e-Book Ausgabe 2021

© 2021 SPIELBERG VERLAG, Neumarkt

Herausgeber: Jin Tao

Umschlaggestaltung: Ria Raven, www.riaraven.de

Chinesische Titelkaligrafghie: © LIU Dehong

Alle Rechte vorbehalten Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung können ziviloder strafrechtlich verfolgt werden.

(e-Book) ISBN: 978-3-95452-112-8

www.spielberg-verlag.de

Autor

Dong Xi, alias Tian Dailin, lebt als Schriftsteller in der Provinz Guangxi, China, Professor an der Universität der Nationalitäten. Seit 1998 ist er Mitglied des Allchinesischen Schriftstellerverbandes in Peking. Seine Hauptwerke sind u.a. »Eine schallende Ohrfeige« »Das verfälschte Schicksal« »Unser Vater« »Frage mich nicht!« »Raten bis zum Ende« und insbesondere »Bereuen«. Seine Novelle »Ein Leben ohne Sprache« wurde bereits ins Deutsche übersetzt und in die Anthologie »Das leere Fenster« (herausgegeben von Jin Tao im Spielberg Verlag) aufgenommen. Sein Werk wurde mit dem Lu Xun-Literaturpreis, einer Art deutschem Büchner-Preis ausgezeichnet.

Übersetzer

Jin Tao ist Germanist, hat viele Jahre Thomas Mann studiert und u.a. den Roman „Das Parfum“ ins Chinesische übersetzt und die Anthologie „Das leere Fenster“ in Deutsch mit 12 Autoren chinesischer Gegenwartsliteratur bei Spielberg Verlag herausgegeben. Er studierte Germanistik an der Fremdsprachenuniversität in Peking und machte sich dort Bachelor- und Magistertitel. 1990 wurde er zu einem Promotionsstudium der Germanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München zugelassen und lebt seit 1988 in Deutschland.

»Meiner Mutter«

»Mein herzlicher Dank gilt Wolfgang und Hermann für ihre freundlichen Einsichtnahmen!«

Vorwort

Eine Bemerkung darf ich mir hier erlauben: Daß das alte Anfangsschwärmen des Übersetzers und dessen tiefe Liebe für die Deutsche Sprache wie seine zweite Muttersprache in den letzten Jahren der 1970er und den ersten Jahren der 1980er noch heute frisch und nach wie vor groß erhalten geblieben sind. Ich mag diese ehemalige Schreibweise, die ich bis jetzt immer noch sehr schön finde, und möchte gern von dem Deutsch meiner damaligen wissenschaftlichen Arbeiten über Thomas Mann Gebrauch machen, indem ich um das Verständnis der Leser dankbar bittend letztendlich „daß“ wie einmal statt „dass“ von heute schreiben werde.

Herzliche Grüße!

Jin Tao

I

Askese

1

Wenn du nichts dagegen hast, fange ich mit meiner Geschichte an.

Damals wuchs mir ein Kopf voll von Locken, meine Stimme war unlängst heiser geworden und mir war noch kein Bart gewachsen. „Ohne Bart am Mund ist man noch unzuverlässig.“ Mein Vater Lang-wind warnte mich diesbezüglich immer wieder. Damals war es anders als heute. Wir haben jetzt viel Spielerei gegen Langeweile wie z.B. Fernseher, Internet und so weiter. Das alles gab es damals gar nicht. Teehäuser wurden verboten, die Straßen waren verlassen. Nirgendwo war ein Café oder Tanzball zu sehen, geschweige denn so etwas Ähnliches wie Sauna oder Massage. Sogar Geschäfte waren selten. Neben Schulbesuch und Verurteilungsversammlung sangen wir nur im Chor. Im Unterricht wurde nicht über Sex gesprochen. Es war sogar selten die Rede von Geschlechtsorganen. Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, daß ich meine erste Lektion der Geschlechtsaufklärung von unseren zwei bunten Hunden bekam.

Das geschah an einem Sonntag. Die beiden Bunthunde wurden unglücklicherweise mit ihren Gesäßen zusammen verbunden. Sie standen im Sonnenschein vor einem Lager und streckten dabei ihre Zungen heraus. Vorsichtig guckten sie uns an. Mein Vater schleppte eine Bambusmatte aus dem Lagerhaus herbei und versperrte ihnen damit den Weg. Mit Hunderthaus Yu holte ich eine zweite Matte, mit der ich sie von hinten einkreiste. Die zwei Hunde wurden auf diese Weise eingezingelt. Der eine zog vorwärts, wobei der andere rückwärtsgehen musste. Sie drehten sich innerhalb der Matten im Kreis, indem sie ein leises Stöhnen hervorstießen. Hunderthaus rief aus vollem Hals begeistert: „Alle herschauen, fünf Cent für eine Eintrittskarte.“ Sofort lief jemand aus dem Lagerhaus heraus. Anfangs waren es die Eltern von Hunderthaus Wärmespender Yu und Zierapfel Fang, gefolgt von Aufrichtig Zhao und seine Frau Hellhübsch Chen. Sie traten an die Matten heran, rissen ihre unterschiedlich geformten Münder auf und ließen ihre weißgelblichen und schwarzen Zähne zum Vorschein kommen. Manchem floss vor Lachen Speichel aus dem Mund. Die Hunde wurden durch die sich vermehrende Menschenmenge schockiert und schauten uns bei ihren chaotischen Bewegungen erregt an. Der Rüde kreiste ein paar Runden entlang der Matten, während die Hündin rückwärts nicht Schritt halten konnte und versuchte sich mit allen Pfoten an den Boden zu klammern. Die Spuren ähnelten denen auf einem Leichtathletikplatz.

Vielleicht kannst du nicht wissen, daß es in der damaligen Zeit für uns, die eine schlechte Klassenherkunft hatten, schwieriger war, nach Spaß zu suchen als nach Geld. Deshalb lachten alle herzlich über das ganze Gesicht, als wollten sie alle an heutigem Tag ihre Ersparnisse mit Zinsen ausgeben. Ich muss dir nicht verheimlichen, daß derjenige, dem vor Lachen der Speichel floss, mein Vater war. Und derjenige, der gefühllos lächelte, war Onkel Yu. Tante Fang bedeckte mit der Hand ihren Mund. Onkel Zhao riss seine beiden Reihen schwarzer Zähne weit auf und Tante Chen tränten die Augen vor Lachen. Als sich alle gerade krummlachten, kam plötzlich Bergfluss Zhao aus dem Lager gestürzt und machte ein empörtes Gesicht: „Pa und Ma, ihr werdet ausgenutzt. Seht euch doch mal an, von wessen Familie werden die Matten kaputt gemacht?“

Onkel Zhao und Tante Chen hörten alsbald mit ihrem Lachen auf. Ihre Minen aber konnten sie nicht beherrschen. Das ließ Bergfluss Zhao ziemlich blamabel aussehen. Sie war die Tochter von Aufrichtig Zhao und arbeitete in einer Munitionsfabrik im Stadtvorort. Sie war von korpulentem Aufwuchs, dick und rund wie ein Lederball, besonders ihre Brust, für deren Spannweite sich im gesamten Kaufhaus keine passenden Blusen fanden. Mein Vater meinte aber nicht ohne Dreistigkeit: „Bergfluss, wir sind alle unsterblich bedrückt und deprimiert. Du tust so, als ob du selbst eine Bühne aufbauen und deine Nachbarn zur Theaterschau einladen willst.“

„Warum hast du nicht die Matten deiner Familie für den Bühnenbau genommen?“

„Sind denn die Hunde nicht von meiner Familie? Ich habe die Schauspieler ohne Entgelt zur Verfügung gestellt und am Abend werde ich ihnen noch extra Futter geben. Ich bin der große Verlierer, nicht du mit deinen Matten.“

Bergfluss reckte ihren Kopf, warf einen Blick auf die Matten und musste unwillkürlich in ein Gelächter ausbrechen. Endlich legte sie ihre Wichtigtuerei ab, lachte mit allen zusammen und machte ihren Mund noch weiter auf als Onkel Zhao. Sie krümmte sich vor Lachen. In diesem Augenblick fuhr ihr Großbruder Tausendjahr Zhao gerade mit dem Fahrrad herbei auf dem Weg nach Hause und nahm wahr, wie seine Schwester ungezügelt lachte. Sein Gesicht verdunkelte sich. Mit einer Hand in die Hüfte gestemmt und mit der anderen auf die Stirne der Anwesenden drückend: „Ihr seid unverschämt! Wie vulgär das ist! Das muss verurteilt werden!“ Tausendjahr Zhao war der Schuldirektor der fünften Mittelschule und galt als ein bekannter aber unverheirateter junger Mann. Ohne daß er den Sinn der Gedichtzeile wie „Auf den Bergen schlängeln sich die silbernen Schlangen und auf den Steppen rasen die Wachselefanten“ klar erklären konnte, war er trotzdem der Schuldirektor geworden, wobei man nicht verneinen konnte, daß er von seiner „Arbeiterklasse“ nicht profitiert hätte.

Seine anklagende und heimtückische Sprechweise sorgte bei allen Anwesenden für ein blasses Gesicht. Die Matten haltenden Hände zogen sich eine nach der anderen zurück, bis die Matten ohne Stütze krachend zu Boden fielen. Die beiden Hunde wurden dadurch für jedermann sichtbar.

Da streckte Tausendjahr Zhao seine Hände aus und schrie laut: „Her mit einem Holzstock.“ Ich rannte flink ins Lager und holte einen Stab herbei. Tausendjahr riss ihn an sich und versetzte einen unbarmherzigen Hieb auf die Verbindung der Hunde. Sie jaulten schmerzlich auf und hinkten auf allen Vieren in Richtung der Landstraße. Ihre Schritte waren wie ein Wunder. Die vorwärts und rückwärts tretenden Beine schritten überraschend gut im gleichen Trab, als riefe ihnen jemand „eins-zwei, eins-zwei“ zu. Sie hetzten quer über die Straße und stießen dabei auf einen heranfahrenden Omnibus. Die Stoßstange verbog sich. Der Krach vom Fleisch gegen Eisen hallte lange wider. Die Fahrzeugreifen überrollten ihre Körper. Blut, als auch Darm und Magen wurden ausgedrückt. Aber ihre Hintern waren weiter in enger Verbindung geblieben. Die Hunde klebten wie zwei dünne untrennbare Pfannkuchen auf der Straßenfläche.

Meine Augen vergossen unaufhaltbar Tränen, als wären sie durch Sandkörnchen gereizt. Mein Vater packte die toten Hunde in die Matten ein und schmiss sie vor die Tür des Lagers. Mittels eines Stabs hob Tausendjahr unter der Mithilfe von Hunderthaus die Hunde hoch und hing sie an Baumzweige vor der Tür. Der Stab befand sich ausgerechnet auf der Mitte der Verbindung. Die beiden Hunde hingen mit ihren Hintern gegen den Himmel und mit den Köpfen zur Erde, derart symmetrisch, als ob ein Hund sich im Spiegel spiegelte. Die zunächst auseinander gegangenen Zuschauer sammelten sich allmählich wieder. Tausendjahr, mit Finger auf die Hunde deutend: „Ihr sollt nicht glauben, es ginge hier bloß um die Frage der Hunde. Vielmehr handelt es sich hier darum, ob jemand hinter den Kulissen mit Absicht die Drähte zieht. Erotik in der Öffentlichkeit ist viel schlimmer als Pornobücher. Ihr seid alle anwesend gewesen. Ich hoffe, ihr könnt das klären und anzeigen.“

Mein Vater drehte sich um und ging weg, womit in der Menschenmenge eine Lücke entstand, die aber durch meine Mutter ausgefüllt wurde, die gerade Feierabend machte. Meine Mutter hieß Lebensfroh Wu und kam aus gutem Haus. Sie beherrschte Kaligrafie, spielte ein Musikinstrument und war gut im Sticken. Sie war weit und breit bekannt, wobei selbstverständlich eher durch ihre persönliche Schönheit als durch ihre Kaligrafie und Stickerei. Nach der Gründung der Volksrepublik änderte sie fortwährend ihre Weltanschauung und bemühte sich, durch ihre beiden fleißigen Hände die Tiere im Zoo sorgfältig zu züchten. Tausendjahr starrte meine Mutter an: „Diejenigen, die heute die Hunde bei der Paarung beobachtet haben, müssen entweder eine eingehende Selbstprüfung ausführen oder einen entlarvenden Brief schreiben und ihn mir binnen drei Tage aushändigen.“

Die Menschen verschwanden einer nach dem anderen. Onkel Zhao spuckte ein paar Mal auf den Boden, drehte sich um und ging auch. Letztendlich blieben vor Tausendjahr nur noch vier Schüler der Fünften Mittelschule zurück. Es waren Hunderthaus, Weiherchen, Helllicht Rong und ich. Tausendjahr betrachtete die allmählich scheidenden Rücken: „Um einen Tiger zu schlagen braucht man blutsverwandte Gebrüder, um aufs Schlachtfeld zu gehen, müssen es Lehrer und Schüler tun. Wenn man heute nichts schreibt, gibt es morgen keine Chance mehr. Meine Schüler, ihr schreibt das auf, egal ob die anderen das tun oder nicht. Ihr schreibt mit Niveau. Euer Niveau wird dann durch den Lautsprecher der Schule publik gemacht.“

2

Ich muss hier ein paar Worte über das Lager sagen. Dies Lager war ein Nachlass von meinem Großvater. Er war ein Kapitalist. Vor der Gründung der Volkrepublik machte er eine Zeit lang Geschäfte mit westlicher Medizin. Im Jahr 1949 wurde die Stadt durch die neue Regierung übernommen. Er spendierte all seine Immobilien. Mit einem kaputten Lederkoffer eilte er mit Kind und Kegel zum Bahnhof und war bereit, in seine alte Heimat auf dem Lande umzuziehen. Wegen seiner aktiven Vermögensübergabe an die öffentlichen Anstalten schickte der damalige neue Oberbürgermeister zwei Sekretäre zum Bahnhof, um meinen Großvater zurückzuhalten und gab ihm zum Dank das Medikamentenlager meiner Familie fürs Wohnen zurück. Das war natürlich nicht für meine Familie allein. Wäre das umfangreiche Haus nur für eine Familie zum Wohnen gewesen, hätte das bedeutet, daß die beabsichtige Umerziehung gar nicht ausgeführt wurde. Auf diese Weise wäre er ein stinkender Kapitalist geblieben. Deshalb waren insgesamt drei Familien in das Lager eingezogen. Neben uns waren noch die Familien von Wärmespender Yu und von Onkel Zhao. Die Familie Yu führte in der Vergangenheit für uns die Buchhaltung und Wärmespender war unser Hausverwalter. Familie Zhao war unser Diener. Sie erledigte die körperliche Arbeit wie Karrenziehen oder Sacktragen. Ich war zu der Zeit noch nicht geboren. Solche Geschichten bekam ich später aus dem Mund der Erwachsenen zu hören. Als ich geboren wurde, war mein Großvater bereits beim König des Totenreiches. Ich wusste wenig von ihm. Gegebenheiten wie das schwarze Muttermal im Handteller meiner Schwester und die lockeren Haare an meinem Kopf konnte man trotz aller Mühe nicht ausschaben und geradebiegen. „Dem Restgesindel der Kapitalisten“ war gedanklich ein zehnstufiger Hoher Papierhut als Demütigungen aufgesetzt. Wer ihn auf den Kopf gesetzt bekam, dem war als Folge eine Halswirbelkrankheit zugefügt worden. Der hätte gar „Kanzler Buckliger Liu“ werden müssen, seinen Kopf nicht erheben und seine Augen nur auf eigene Zehen richten können. Ach Entschuldigung, ich bin vom Thema abgeschweift! Ich fahre nun fort mit meiner Erzählung über das Lager.

Das Lager wurde durch rote Backsteinmauern für die drei Familien aufgeteilt. Jeder Teilbereich mit Schlafzimmer und Küche. Bloß die Toilette und das Dach teilten alle drei Haushalte gemeinsam. Die Toilette wurde hinter dem Lager mit fünf Hockhöhlen gebaut. Sie konnte gleichzeitig drei Männer und zwei Frauen aufnehmen. Das sogenannte gemeinsame Dach hieß zwar so, doch jede Wand, die vier Meter hoch gebaut wurde, war oben nicht zugemauert und man konnte darüber von jedem Zuhause aus erhobenen Hauptes die Dachsparren, Dachziegel und Dachgläser erblicken. Deshalb strömten die Stimmen aller Familien wie Dampf nach oben, kreuzten sich gemeinsam und steckten sich unterm Dach an.

An jenem Abend waren auf unserem Speisetisch rote Süßkartoffeln, Moschuskürbis aufgestellt. Nachdem mein Vater etwas gegessen hatte, legte er die Stäbchen hin, griff zum Küchenbeil und ging nach draußen, um den Hunden das Fell abzuziehen, um das Fleisch in Sojasoße zu schmoren.

Ich schrie laut: „Ich mag kein Hundefleisch!“ Mein Vater schwenkte das Messer. „Hast du denn Angst, das Fleisch in deinen Rachen gesteckt zu bekommen?“ Ich wischte meine Augenwinkel einmal ab. „Alles war deine Schuld! Unsere Hunde wären nicht tot, wenn du sie nicht mit den Matten eingesperrt hättest.“

„Die wollten selber nicht weiterleben. Wie kannst du die Schuld auf mich abwälzen?“

„Doch, das war deine Schuld! Ohne deine Einsperrung hätte Direktor Zhao die Hunde nicht sehen können und sie hätten keinen Schlag gekriegt. Ohne den Schlag wären sie nicht weggelaufen und nicht durch den Wagen überrollt worden“

„Du bist doch selbst schuld. Ich frage dich, wer hat denn Tausendjahr den Stab gegeben?“

Auf einmal guckte ich dumm aus der Wäsche. War ich es denn nicht, der den Stock gegeben hat? Warum gab ich ihm den Stock? Hätte ich den Stock nicht gegeben, so hätten die Hunde überleben können?

„Schiebe nicht immer die Schuld den anderen zu. Du sollst lernen, die Ursachen auf dein eigenes Verhalten zurückzuführen.“

Mit diesen Worten trat mein Vater aus der Tür. Meine Mutter schlug die Stäbchen kräftig auf den Tisch: „Ich finde, du selbst hast auch nicht gelernt, die Ursachen im eigenen Verhalten zu finden! Du sollst dich besser zuerst scheiden lassen, bevor du solche schmutzigen Sachen isst.“ Sie stritten darüber, ob man das Hundefleisch essen sollte. Blümchen Zeng fing vor Schreck an zu weinen... Mein Vater muss zwangsweise das Beil aus der Hand legen. Er konnte nichts anders als den Wunsch zu unterdrücken. Er musste sich mit dem Moschuskürbis abfinden. Während des Essens war er verstummt. Meine Mutter jedoch redete ununterbrochen, plätscherte wie ein aufgedrehter Wasserhahn. „Unser Zoo hat einen Tiger zugeteilt bekommen,“ sagte sie. „Er wurde vor kurzem im Wald gefangen. Er ist böser als alle anderen. Aber der Zoodirektor He hat ihm trotzdem einen weiblichen Namen gegeben, wie etwa Orchidee“

„Solltest du dich nicht waschen, schaust du mich ab heute nicht mehr an, um mich nicht schmutzig zu machen.“ Die Stimmen von Tausendjahr schlugen wie Backsteine plötzlich vom Dach nieder und unterbrachen die Erzählung meiner Mutter. Hunderthaus und ich liefen vor die Tür der Familie Zhao und sahen auf dem Tisch ein Becken mit klarem Wasser. Tausendjahr befahl Bergfluss, ihre Augen zu waschen. Diese aber wehrte sich. „Man hat nur gehört, vor Mahlzeiten die Hände zu waschen, nicht aber die Augen.“ Tausendjahr packte die Haare von Bergfluss und drückte ihr Gesicht ins Becken. Bergfluss wehrte sich vehement dagegen und stieß dabei das Becken um. Wasser wurde dadurch auf die Hosenbeine von Tausendjahr verschüttet.

Bergfluss schwenkte mit einem Ruck ihren Zopf nach hinten. „Musst du denn deine Hände trainieren wollen, um mich wie einen Klassenfeind zu schlagen?“

„Schäme dich! Hast du dich nicht gescheut, der Paarung zuzuschauen?“ Tausendjahr schüttelte dabei seine Hosenbeine aus. „Papa hat zugeschaut, Mama und Tante Fang auch, und sogar die Kids. Warum durfte ich nicht? War das nicht bloß Hintern gegen Hintern?“ Die Stimme von Bergfluss war so schrill, daß es fast die Ziegel vom Dach herab gerissen hätte. Beim Sprechen machte sie verärgert einen Schmollmund.

„Was für ein Benehmen du hast! Die anderen haben zugeschaut, weil sie alle kapitalistisches Restgesindel sind. Aber du? Wer bist du? Du bist ein Angehörige der Arbeiterklasse, von guten Wurzeln und rotem Sämling. Noch wichtiger dazu, du bist ein junges Mädchen!“

„Mädchen? Ist das denn kein Mensch?“

„Schau mal! Du bist ja schon vergiftet! Ein Mädchen soll so sauber wie blankes Papier sein, nicht niederträchtig und verdorben.“

„Ich mag es, verdorben zu sein! Ich hasse es, nicht verdorben sein zu können! Was geht dich das an?“ Ruckartig rannte Bergfluss ins Schlafzimmer und schlug die Tür hinter sich laut zu.

Tausendjahr war so in Rage geraten, daß er einen Schüttelkrampf bekam. Höchstwahrscheinlich begegnete er als Mann der Arbeiterklasse zum ersten Mal solchen Widerworten und war völlig außer sich. Er hob seine Hände, suchte einen Halt und fand schließlich einen Bilderrahmen an der Wand. Der Rahmen fiel zu Boden. Das Glas zersplitterte in unzähligen Linien, ähnlich endlosen Sonnenstrahlen. Unter den Linien zeigte sich das Gesichtsfoto von Bergfluss.

Die Idee von Tausendjahr, seine Schwester zu retten, ist möglicherweise in diesem Moment aufgetaucht. Er suchte für eine Diskussion Onkel Zhao auf und hatte vor, im Lager eine der Zeit entsprechende Verurteilungsversammlung ins Leben zu rufen. Er war nämlich der Ansicht, daß erst durch eine eingehende und offene Kritik über das Geschehen mit den beiden Hunden die Beschmutzung von Bergfluss gründlich zu beseitigen wäre. Onkel Zhao spuckte einmal auf den Boden: „Mein großer Schuldirektor, hast du denn nichts anders zu tun als eine Kritikversammlung zu veranstalten? Du kannst überall wo du willst die Versammlung machen, bloß nicht hier im Lager. Lass das sein! Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß!“ Tausendjahr schimpfte einige Male ununterbrochen „Restgesindel! Restgesindel!“ und wollte ab da nie wieder eine Besprechung mit seinem Vater. Als später seines Vaters Hosenboden platzte, machte er ihm keinen Hinweis. Er machte keinen Vorschlag mehr und wollte zuschauen, wie das Gesicht seines Vaters zu Boden fiel.

3

In dieser Nacht schienen dem Bett meiner Familie Nägel gewachsen zu sein. Mein Vater wälzte sich hin und her, schlief für einen Moment auf dem Rücken und einen Moment auf den Armen. Dann lag er wieder auf dem Bauch, setzte sich daraufhin auf und bereitete mir „der Schlafmütze“ die ganze Zeit spitze Ohren. Wenig später schien er sich mit seinen Hämorrhoiden zu beschäftigen. Er rieb sich leise ein bisschen am Bettbrett, die Hälfte seines Pos schob er über die Kante und schließlich setzte er seinen ganzen Hintern in die Luft. Das Bettbrett erhob sich etwas und trug mich ein paar Zentimeter in die Höhe. Mit sachten Händen und schrittweise tastete er sich in Richtung meiner Mutter. Ehrlich gesagt, ich hörte ungern solche Geräusche mit. Sie ließen mich früh begreifen, was das „bunte Antlitz“ beinhaltete.

Mein Vater sprach wie in einem Ton des Geldleihens: „Genossin Wu, ich bitte dich, nur das eine Mal. Geht das?“

„Nein! Sage du, welchen Unterschied hat das im Vergleich zu Hunden, wenn du das tust „

„Ich habe lange überlegt. Du drückst einfach ein Auge zu, als hättest du gar nichts gesehen. Mach´s mir einmal? Ich verspreche, nur das eine Mal!“

„Du sollst mir lieber mit dem Messer ein Ende setzen. Ich habe zehn Jahre und einen ganzen Korb Chlorkalk gebraucht, um mich so sauber zu waschen wie weiße Sportschuhe. Sollst du noch ein klein wenig revolutionäre Freundschaft zu mir haben, so bleibe mir bitte fern. Verschütte keine Tinte auf meine weißen Schuhe!“

Mein Vater seufzte auf, ging aus dem Haus und saß die ganze Nacht durch vor dem Lagerhaus. Das Morgenlicht fiel auf die Baumkrone, seine Augen waren gerötet wie nach einer Erfrischungssalbe.

Er zerrieb ein paar auf seinen Beinen kriechenden Ameisen, nieste einmal ziemlich laut und vernahm die ersten Töne des „Rot-Laternen-Lautsprechers“, bei denen er feststellen konnte, daß er noch zu etwas taugte, mindestens, daß er noch Ameisen zerreiben und Lautsprecher produzieren konnte.

Ich habe leider versäumt, zu erklären, daß mein Vater ein Arbeiter der Radiofabrik Nr. 3 war. Den im Lager aufgehängten Lautsprecher hatte er mit eigenen Händen hergestellt. Die Geräusche vom Straßenfegen und die Stimmen der Dreiradfahrer kamen herüber. Es tagte immer mehr. Die vorher wie Klötze aussehenden Baumkronen entfalteten und verwandelten sich allmählich in Zweige und Blätter. Letztlich waren sogar die Hundehaare am Baum deutlich zu sehen.

Mein Vater dachte daran, sich einen Tag Urlaub zu nehmen, um zu Hause in Abwesenheit meiner Mutter während ihres Dienstes heimlich das Hundefleisch mit Sojasoße, viel Zuckerrohr und Anis zu kochen. Sie aber schien seine Gedanken lesen zu können, stand früh auf und packte die toten Hunde in einen Jutesack und band die Öffnung fest zu. Er fragte meine Mutter, ob es ihr eine Freude machen würde, gegen ihn zu handeln. Sie erwiderte: „Die Hunde sind für den Tiger bestimmt. Der Zoo kann uns dafür etwas Geld zahlen.“ Mit großen Augen schaute mein Vater zu, wie meine Mutter mit dem Fahrrad die Hunde abtransportierte. Die Räder wackelten hin und her, so wie der Hundesack auf dem Gepäckträger. Sie verschwand allmählich aus der Sicht meines Vaters. Er stand auf, kam zurück ins Haus zum Gesichtswaschen: „Die Hunde sind weg, ist es noch nötig, Urlaub zu nehmen?“

Am selben Tag brachte meine Mutter einen schweren Karton mit nach Hause, als Zierapfel Fang gerade die Wäsche hereinholte. Mit dem Karton in Händen näherte sich ihr meine Mutter und erzählte ihr vom Auffressen der Hunde durch den Tiger. Zierapfel nieste kräftig: „Entschuldige, ich scheine eine Erkältung zu bekommen.“ In diesem Moment kam Onkel Zhao mit Pfeife aus der Tür. Auf ihn ging meine Mutter zu und erzählte noch einmal von dem Hundefleisch. Onkel Zhao stieß etwas Tabakqualm aus dem Mund und lief dann in großer Eile zum Geschäft, um Sojasoße zu besorgen. Die wiederholten Erzählungen meiner Mutter fanden keine Anerkennung und nicht mal eine Antwort. Sie fühlte sich im Grunde ihres Herzens sehr enttäuscht und ärgerte sich, während sie den Karton trug und so lange stehen geblieben war. Schließlich kam Tausendjahr zurück. Meine Mutter wiederholte noch einmal die Erzählung. Tausendjahr klopfte meiner Mutter auf die Schulter: „Ausgezeichnet, Genossin Wu!“ Erst jetzt spürte meine Mutter unerträgliche Schmerzen in den Armen. Wegen des großen Gewichtes erhielten ihre Handflächen rote Spuren. Mit einem von Seifen gefüllten Karton war von Spaß keine Rede.

Glaube nicht, daß meine Mutter nach dreimaligen Erzählungen ihren Mund halten würde. Das war leider nur ein Beispiel für ihr späteres ununterbrochenes Erzählen. Das war wie eine kleine Vorspeise vor einer üppigen Mahlzeit. Wie kann man erklären, daß sie das immer wiederholen musste? Das nervte doch, nicht wahr? Ob irgendjemand Interesse hätte, das zu hören? Wahrscheinlich lachte man schon innerlich, bevor sie anfing zu erzählen. Das konnte meine Mutter überhaupt nicht begreifen. Beim Abendessen begann sie wieder zu erzählen. Sie beschrieb, wie sich der Tiger auf die Hunde stürzte, sie mit dem Maul zerriss, und wie die Hunde in den Himmel flogen, in der Luft hingen und langsam runterfielen. In allen Einzelheiten wie die Zeitlupenaufnahme eines Filmes. Als die verbundenen Hunde auf halber Höhe waren, trennten sie sich. Der eine flog nach Osten, der andere nach Westen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie der Tiger das Hundefleisch tatsächlich gefressen hatte. Aber den Gesichtsausdruck meiner Mutter beim Erzählen kann ich nicht vergessen.

Sie war begeistert, schwang mit Händen andauernd in der Luft und bewegte flink ihre Lippen. Ihr Gesicht war bis zu den Halswurzeln rötlich angefärbt, als hätte sie gerade Schnaps getrunken. Mein Vater fragte: „Wo ist das Geld? Warum hast du kein Fleisch gekauft, um unsere Zahnlücken zu stopfen?“ Ihr war zumute, als hätte sie ihr warmes Gesicht an einen kalten Po gehalten. Ihre Begeisterung war plötzlich verschwunden. Nach langem Schweigen verriet sie, daß das Geld für den Kauf der Seifen ausgegeben worden war. Mein Vater meinte aber: „Du hast so viele Seifen gekauft, kann man sie als Fleisch verspeisen?“

„Guckt euch an, wie dreckig ihr seid! Dein Jackenkragen ist schmutzig, das Moskitonetz ist schmutzig, genauso wie die Bettwäschen, überall sind Schmutzflecken. Ein Karton Seifen kann vielleicht nicht alles sauber waschen. Man lebt, doch nicht nur um Fleisch zu essen. Man soll auf Hygiene achten. Eure Ohren sollen sauber sein, eure Fingernägel und Füße sind sauber zu waschen. Wenn der Körper sauber ist, ist man dann auch sauber im Herzen.“

Täglich nach Schulbesuch seifte ich meinen Kopf kräftig ein. Mein Kopf verwandelte sich in eine Schaummasse. Ich zog ständig an meinen Haaren und versuchte sie glatt zu ziehen. Wenn ich müde wurde, bat ich Blümchen mir zu helfen. Sie biss die Zähne zusammen und stemmte sich mit einem Fuß gegen den Boden wie beim Tauziehen. Meine Kopfhaut wurde um ein Haar herunter gezupft. Mir war damals wichtig, meine Locken gerade zu bekommen. Für Blümchen war aber wichtig, ihre Hände mit Seife zu waschen. Sie seifte brav ihre Handflächen gründlich ein, schuf dabei einen dicken Schaum nach dem anderen und dann steckte beide Hände ins Becken. Das Wasser darin dehnte sich blitzschnell. Die Seifenschäume glichen einer guten Bauwollernte und quollen über den Beckenrand. Ihre Hände waren durch das lange Einseifen blass geworden und bekamen sogar Falten. Blümchen kratzte am schwarzen Muttermal in der Handfläche und sagte: „Großbruder, ich habe so viel Seife genutzt, warum konnte ich das Muttermal immer noch nicht wegwaschen?“

„Blödsinn! Das ist Fleisch. Das kann man nicht wegwaschen.“

Aber sie gab nicht auf. Später fand ich für mich heraus, daß je länger die Haare wuchsen, desto schwieriger waren sie mit Seife zu befestigen. Letztendlich bekam ich im Friseursalon einen Bürstenhaarschnitt. Auf diese Weise waren meine lockigen Haare nicht mehr auffällig und unterschieden sich bei weitem vom Kratzkopf während der Verurteilungsversammlungen.

399
573,60 ₽
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0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
470 стр.
ISBN:
9783954521128
Издатель:
Правообладатель:
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