promo_banner

Реклама

Читать книгу: «Ausbruch», страница 3

Шрифт:

Kapitel 2 März 1987, Paris
5. März

Seit sie aus der Presse von Carlos Tod erfahren hat, kapselt sich Lisa ab in ihrer Einzimmerwohnung im vierten Stock eines alten Hinterhauses mit üppig begrüntem Innenhofgarten in der Rue de Belleville. Sie hat in ihrer Wohnecke einen Sessel vor das große Fenster mit Blick auf die Bäume gezogen und sich wie gelähmt darin verkrochen. Sie brütet über ihrem Schmerz, frisst ihn in sich hinein, trinkt Kaffee, denkt nach, schläft. Sie verlässt den Sessel so selten wie möglich. Alles beginnt im Herbst ’69, sie ist damals Nachwuchsjournalistin bei L’Unità, der Tageszeitung der Kommunistischen Partei Italiens auf dem Gipfel ihrer Macht. Ihre Redaktion schickt sie nach Mailand, damit sie live vom Siemens-Werk berichtet, wo »irgendwas im Gange ist«. Bewegt erinnert sie sich an ihre Verzückung (das Wort ist nicht übertrieben), als sie das Werk in Aufruhr vorfindet. Zu der Zeit sprach man von Revolution, und für sie und ein paar tausend Leute hatte dieses Wort Sinn. Dann der Bruch mit L’Unità, die ihre Artikel aus dem Blatt warfen und ihr den Geldhahn zudrehten, die Begegnung mit einem Arbeiter, hübscher Kerl und guter Redner, Carlo, und ganz natürlich die Liebe zwischen ihnen. Hatte sie sich in ihn verliebt oder in jene Zeit, als die Arbeiter glaubten, Geschichte zu schreiben? Die Frage ist sinnlos, es war einfach ihrer beider Leben. Sie folgte Carlo zu den Roten Brigaden. Jahre später war Lisa in Frankreich, um im Namen der Organisation eine Palästinenserdelegation zu treffen. Das war 1980. Sie erinnert sich, dass die Hoffnung bereits gestorben war und sie nur aus Treue weitermachte (Treue gegenüber wem oder was? Sinnlose Fragen. Treue ihr selbst, ihrer Vergangenheit gegenüber). Sie war also gerade in Frankreich, als die Polizei ihre gemeinsame Mailänder Wohnung umstellte, Carlo und zwei weitere Genossen verhaftete, sämtliche Unterlagen beschlagnahmte. Carlo ließ ihr durch die Anwälte mitteilen, dass nach ihr gefahndet wurde und sie zumindest eine Zeitlang in Frankreich bleiben sollte. Zumindest eine Zeitlang: Sieben Jahre waren es jetzt. Ohne Carlo wiederzusehen und ohne sich einzugestehen, dass die Trennung endgültig war. Jetzt ist sie es wirklich. Er ist ermordet worden.

Wenn ich Journalistin wäre, in Italien, im wahren Leben ... würde ich der Sache nachgehen. Geldtransporte ändern ihre Routen und Zeitpläne täglich. Wer hat Carlo die Informationen gegeben, wer hat Ort und Datum der Ermordung bestimmt? Ich würde mich für die beiden Carabinieri interessieren, die sind vermutlich der einfachste Ausgangspunkt. Mich an die weiblichen Bankangestellten halten, mittags gehen sie in der Nähe ihrer Filiale einen Kaffee trinken und reden gern. Erst recht über dermaßen spektakuläre Ereignisse, in die sie selbst unmittelbar verwickelt waren. Ja, sie könnten sich sehr gut an die beiden Carabinieri an jenem Tag erinnern, nein, die hätten kein Geld eingezahlt, im Übrigen könnten sie sich nicht erinnern, sie vor dem Tag der Schießerei schon mal gesehen zu haben.

Ich würde mich für den Carabiniere Lucio Renzi interessieren. Angeblich ist er aus der Bank gekommen, unversehens in einen Raubüberfall geraten und hat Carlo mit einer einzigen Kugel in die Brust getötet. Ein Schütze mit einem Mordsinstinkt. Wie ist sein beruflicher Werdegang? Zwischen den rachgierigen ehemaligen P2-Logenbrüdern und den Gegnern der ehemaligen P2-Logenbrüder lassen sich bei der italienischen Polizei immer die Informationen beschaffen, die man sucht. Und sollte Renzi eine Zeitlang mit den Geheimdiensten zusammengearbeitet haben, wäre alles klar. Dann war es kein missglückter Banküberfall, dann war es Mord.

Lisa sieht zu, wie der Wind im Hof die Bäume biegt. Es wird langsam kalt. Sie schließt das Fenster. Ich bin aber keine Journalistin, ich befinde mich nicht im wahren Leben, ich bin hier, in Frankreich, im Exil. Mein gesamtes Leben ist in Italien geblieben. Dort weiß ich, wer diese Leute sind, ich kenne sie, ich verstehe sie, ich bin aus demselben Holz geschnitzt, ich kenne die Netzwerke. Von hier sehe ich zu, wie diese Kreise umtriebig agieren, aber ich komme nicht heran. Es ist, als wäre ich in einem gläsernen Käfig, ich strecke die Hand aus, fühle die Scheibe, habe auf nichts Zugriff. Ich bin im Exil.

Leises Klopfen an der Wohnungstür. Lisa zögert, geht dann öffnen. Roberto. Er nimmt sie in die Arme.

»Als ich’s erfahren habe, bin ich gleich los. So schnell ich konnte.«

Sie legt den Kopf auf seine Schulter und weint, lautlos, nicht lange. Worte erübrigen sich. Sie teilen so viele Erinnerungen, wissen beide, was Carlos Tod für sie bedeutet. Dann strafft sie sich.

»Soll ich dir Tee oder Kaffee machen?«

»Einen Kaffee, bitte.«

Sie geht in die Kochecke, wäscht sich das Gesicht, füllt die Espressomaschine.

Er lässt sich in einen der beiden Sessel in der Wohnecke sinken, ohne den Blick von ihr zu wenden. Hochgewachsen, sehr aufrecht, etwas steif, das graue Sweatshirt und die graue Hose picobello, das volle dunkle Haar ordentlich gebürstet, glattes Gesicht, die Augen kaum verquollen, warum muss sie derart den Schein wahren?

»Du hältst dich gut ... besser als ich, würde ich sagen ...«

Sie zuckt die Achseln.

»Kommst du morgen zum Treffen der italienischen Flüchtlinge mit den Anwälten?«

»Nein.« Sie bringt zwei Tassen Kaffee und eine Packung Kekse, stellt alles auf das Tischchen vor ihm und setzt sich in den anderen Sessel. »Ich will nicht mit Leuten, die ich nicht sehr gut kenne, die Carlo nicht kannten oder nicht mochten, über seinen Tod reden. Ich will keine Fragen beantworten müssen. Aber dass du da bist, freut mich, Roberto, denn mit dir will ich darüber reden, und das nimmt eine Last von mir. Mir liegt etwas schwer auf der Seele. Ich habe diesen Tod kommen sehen, habe seit einem halben Jahr damit gelebt, ohne darüber zu sprechen, nicht mal mit dir ...«

Roberto stutzt, beugt sich vor.

» ... Seit er in diese normale Strafanstalt verlegt wurde. Er ist in eine Falle gegangen. Seine Flucht und seine Ermordung waren geplant.«

»Wie kommst du darauf?«

»Erstens seine Verlegung. Grundlos, außer dass man aus Hochsicherheitsgefängnissen nicht fliehen kann. Dann die Zeitungsartikel, alle identisch, als veröffentlichten sie eine amtliche Mitteilung. Und ohne Angabe von Quellen. Weil sie alle dieselbe Quelle haben: die Polizei. Dieses absurde Betonen, dass die beiden Carabinieri kurz zuvor Schecks eingelöst hätten, dass sie dort ein Konto hätten, dass sie Stammkunden seien. Plump, findest du nicht? Und niemand ist hingegangen und hat recherchiert, nachgeprüft, Zeugen befragt. Als hätten sie Angst, daran zu rühren, weil es stinkt.«

Roberto trinkt seinen Kaffee, stellt die Tasse vorsichtig ab, verzieht das Gesicht, nicht überzeugt. »Dürftig. So arbeiten Journalisten praktisch immer, sie kommentieren polizeiliche Quellen, ohne sie zu überprüfen. Was noch?«

»Der Kleinkriminelle, der mit ihm ausbricht. Findest du, es passt zu Carlo, gemeinsam mit einem gewöhnlichen Straftäter zu fliehen?«

»Er hat sieben Jahre gesessen, Lisa, das verändert einen Menschen.«

»Und die beiden Carabinieri, die just in dem Moment aus der Bank kommen, als ... Ich glaube das nicht.«

»Wer soll dieses ganze Chaos denn inszeniert haben? Seine Fluchthelfer? Mit drei Toten, ziemlich drastisch, findest du nicht? Und vor allem, warum?«

»Damit das Grundsatzpapier, das die Gründer der Roten Brigaden gerade veröffentlicht haben, wieder in der Versenkung verschwindet.«

»Das hieße doch wohl mit Kanonen auf Spatzen schießen, oder?«

»Für uns steht viel auf dem Spiel, Roberto. Täusch dich nicht. Dieser Text kann der Beginn eines kollektiven Denkprozesses sein. Wir müssen ihn lesen, darüber diskutieren, untereinander und mit anderen linken Kräften. Wir brauchen also Zeit, müssen Konflikte abbauen. Wenn es uns nicht gelingt, gemeinsam unsere Niederlage zu analysieren, ist künftig jeder seiner Einsamkeit, seiner Verzweiflung preisgegeben, unsere Generation wird zersprengt, unsere Geschichte verblasst, das bedeutet den Sieg der Reumütigen und Korrupten.«

»Niemand will diese Diskussion, die Linke oder was davon übrig ist ebenso wenig wie die Rechte. Und niemand will sie mit uns. Wir sind Terroristen, Pestkranke.«

»Eben. Wenige Tage nach dem Erscheinen des Grundsatzpapiers der Roten Brigaden überfällt einer ihrer dienstältesten Führungsleute eine Bank und tötet Carabinieri. Auf sämtlichen Titelseiten: ›Der rote Terror der radikalen Linken stellt immer noch eine Bedrohung dar und verkommt zu blankem Gangstertum. Warum bitte sollten wir mit diesen Leuten reden?‹ Findest du den Zeitpunkt nicht verdächtig, gar zu passend, um uns jede Chance zu verbauen, diese politische Debatte zu eröffnen?«

»Carlo kann durchaus ganz von selbst den Kopf verloren haben. Und ich denke, es ist manchen unserer Ex-Genossen zuzutrauen, dass sie weiterhin Attentate und Morde begehen und den BR-Text zu Grabe tragen, ohne recht zu wissen, warum, und ohne dass man sie durch große Komplotte dazu treiben müsste.«

»Die Rechte kann nicht einfach darauf vertrauen, dass ein paar Schießwütige schon die Initiative ergreifen werden – was bestimmt passiert, das räume ich ein, aber vielleicht zu spät. Die haben guten Grund zur Eile.«

»Nämlich?«

»Vor zwei Monaten, im Januar dieses Jahres, wurden die militanten Rechtsextremen freigesprochen, die die Bombe auf der Piazza Fontana gelegt haben. Siebzehn Tote. Keine Schuldigen. Mangel an Beweisen.«

»Ich sehe den Zusammenhang nicht.«

»Das Massaker auf der Piazza Fontana war das erste in einer langen Reihe, verübt mit Unterstützung der Geheimdienste, deren Ziel ganz klar die Destabilisierung des Landes war.«

»Ich weiß das, du weißt das, jeder weiß das.«

»Mag sein, aber wenn man die als solche bekannten und identifizierten Mörder eines Massakers, das die Geschichte des Landes so stark geprägt hat, zwanzig Jahre nach der Tat freispricht, muss man Vorsichtsmaßnahmen treffen, das öffentliche Interesse ablenken, damit man die Angelegenheit unter sich regeln kann.«

»Diese Freispruchpraxis ist seit geraumer Zeit etabliert. Nichts Neues.«

»Ja, aber sie ist hochbrisant, denn nach dem Freispruch der Mörder von der Piazza Fontana im Januar wird es den für die Mörder vom Italicus-Express geben, der für September geplant ist, und dann noch vor Jahresende den für die Attentäter von Brescia. Die gleichen Protagonisten – die Faschisten von Ordine Nuovo –, die gleichen Opfer, die gleichen Ziele. Und derselbe Prozessausgang: lauter Freisprüche. Die Farce wiederholt sich zu oft, es besteht Gefahr, dass niemand mehr darüber lacht. Man muss unbedingt für Ablenkung sorgen, und zwar schnell. Die Presse und die öffentliche Meinung zum Wegschauen veranlassen.«

Roberto blickt durchs Fenster in den Himmel, ein großes Viereck blauer Himmel, so blau, so friedvoll. Er spricht, ohne den Kopf zu wenden. »Ich bewundere dich, dass du weiter nachdenkst und deine Schlüsse ziehst. Ich muss sagen, ich schaffe das nicht. Noch nicht. Im Moment bin ich völlig am Boden wegen Carlos Tod, in einem tiefen Loch.«

»Kennst du nicht die Zigeunerweisheit? Wenn du in einem tiefen Loch sitzt, hör auf zu graben.«

10. März

Es ist dunkel, als Lisa nach einem anstrengenden Arbeitstag erschöpft nach Hause kommt. Sie musste ihre vier Fehltage, ihre vier Trauertage nacharbeiten, stapelweise zu tippende Berichte, durcheinandergeratene Termine, ständig das Telefon. Keine Zeit, an Carlo zu denken, nicht mal in der Mittagspause, und jetzt nur ein Gedanke: eine warme Dusche, ein Milchkaffee und ein paar Brote, dann ins Bett. Keuchend steigt sie die vier Stockwerke hoch, wühlt in ihrer Tasche nach den Schlüsseln und stolpert auf dem Treppenabsatz vor ihrer Tür über einen schlafenden jungen Mann, sein Kopf ruht auf den über den angezogenen Knien gekreuzten Armen. Verwundert weckt sie ihn, er blickt auf, Schock, im trüben Treppenhauslicht das Zeitungsfoto, das jungenhafte Gesicht des Kleinkriminellen. Sie fühlt, wie ihre Beine nachgeben, drängt sich an ihm vorbei, schließt hastig auf und sagt auf Italienisch: »Komm rein, ich muss mich setzen.«

Während sie in einen Sessel sinkt, bleibt er mit einem mulmigen Gefühl reglos stehen, macht große Augen angesichts der Unmenge Bücher. Zwei Regalwände voll, und überall stapeln sie sich, auf dem Boden, neben dem Bett, auf den Möbeln.

Mit geschlossenen Augen und den Händen vorm Gesicht nimmt Lisa sich Zeit, sich zu sammeln. Immerhin, der Kleinganove wartet ab, schweigt, zeigt keinerlei Ungeduld. Als sie die Augen wieder öffnet, betrachtet sie ihn, er sieht blutjung aus, zerlumpt, waches, unergründliches Gesicht, schwarzes Strubbelhaar. Sie bedeutet ihm, im Sessel ihr gegenüber Platz zu nehmen. Als er sitzt, steif und mit verschränkten Händen, sagt er zu ihr:

»Ich heiße Filippo Zuliani und ich bin ein Freund von Carlo.«

»Ich weiß, wer du bist. Ich habe Zeitung gelesen. Was machst du hier?«

Er holt einen Umschlag aus einem Seitenfach seines Rucksacks und hält ihn ihr hin. Sie liest ihren Namen, Lisa Biaggi, und ihre Adresse, Rue de Belleville, es versetzt ihr einen Stich, als sie Carlos Schrift erkennt. Sie rührt den Umschlag nicht an.

»Und, was willst du mir mit dem Ding beweisen?«

Der Bengel ihr gegenüber, denn er ist noch ein Bengel, wirkt hilflos. Mit dieser Reaktion hat er nicht gerechnet. Er zögert, legt den Umschlag auf den Tisch.

»Du erzählst besser von Anfang an. Eure Flucht. Warum seid ihr geflohen?«

»Warum?« Seine Verblüffung ist nicht gespielt. »Weil man im Gefängnis immer fliehen will.«

»Einfacher gefragt: wie? Ausführlich, bitte.«

Filippo antwortet nicht sofort. Auf diesen Moment hat er gewartet. Carlo hat gesagt: ›Berichte ihr.‹ Seit er beschlossen hat, sich nach Paris aufzumachen, hat er sich die Szenen seiner Geschichte immer wieder vorgespielt, er hat sich darauf vorbereitet, sie Lisa zu erzählen. Und da ist sie nun, vor ihm. Nicht die freundliche und warmherzige Frau, die er sich vorgestellt hat. Ein fein gezeichnetes – sie ist schön, so viel steht fest – und eiskaltes Gesicht. Aber er kann nicht zurück. Ohne sie anzusehen, legt er los, konzentriert sich auf seinen Bericht.

»Ich habe mit Carlo die Zelle geteilt, seit ich vor sieben Monaten ins Gefängnis kam. Ich mochte ihn vom ersten Tag an. Wie es bei ihm war, weiß ich nicht. Mit der Zeit vermutlich schon. Ich denke, Bewunderer mag man letztlich immer. Wir redeten jede Nacht, er über Mailand, die Siebzigerjahre. Ich über nichts Besonderes, vor dem Knast habe ich nicht groß was an Leben gehabt. Jedenfalls keins, auf das ich stolz wär. Er dagegen war stolz. Er weigerte sich, in den Werkstätten zu arbeiten, und er verließ praktisch nie die Zelle, also berichtete ich ihm von meiner Arbeit, vom Gefängnisalltag, von irgendwelchem Zoff, so hatte ich was zu erzählen, und ihn amüsierte es. Ich war in einer Putzkolonne, und zu meinen Aufgaben gehörte das Reinigen des Müllraums mit den zwei großen Containern, in die durch ein dickes Müllschluckerrohr die Abfälle des gesamten Trakts gekippt wurden. Die vollen Container wurden täglich zu festen Zeiten von der Müllabfuhr geleert. Mein Einsatz begann, eine halbe Stunde nachdem die Müllabfuhr da gewesen war, ich musste die ganzen Abfälle aufsammeln, die beim Leeren runtergefallen waren, und den Raum dann putzen. Ich erzählte Carlo von dem Dreck, der Hitze, dem Gestank. So ein kleiner Raum, dicht verschlossen mit einem eisernen Rollladen, wenn da die Sonne draufknallte, fing es an zu gären, das hat echt gestunken. Aber meine Arbeitsbedingungen waren ihm scheißegal, ihn interessierte sofort, wie breit das Müllschluckerrohr war. Passte da ein Mensch durch? Ich antwortete ihm, ja, meiner Meinung nach passte da locker ein Mensch durch. Damit ging die Sache los, wir fingen beide an zu träumen. Auf Carlos Betreiben machte ich einen Zugang zum Müllschluckerschacht ausfindig, hinter der Kantinenküche im ersten Stock. Daraufhin trug er sich für den Spüldienst in der Kantine ein. Ich hörte mich überall um, um die Müllabfuhrzeiten rauszukriegen. Es passte nicht. Man hätte sie eine halbe Stunde nach hinten verlegen müssen, damit die Laster genau dann kamen, wenn Carlo beim Abwaschen war und ich im Müllraum. Doch er sagte mir, keine Sorge, er würde am Tag X schon eine Lösung finden, ich hab ihm vertraut und keine Fragen gestellt. Ich sollte in Erfahrung bringen, wie die Durchsuchung der Container vor sich ging, die das Gefängnis verließen, das hab ich ganz leicht rausgekriegt. Die Durchsuchung verlief mehr als oberflächlich. Zwei Wärter hoben die Plane an, die den Container bedeckte, und warfen einfach nur einen Blick hinein. Da beschlossen wir, es zu tun. Carlo legte das Datum fest. Und als ich dann an dem Tag in den Müllraum kam und die Container waren noch voll, begriff ich, dass es jetzt wirklich losging, ich hatte Herzklopfen, und dann hörte ich die Müllwagen in den Hof fahren, eine halbe Stunde später als sonst, ich habe überprüft, dass das Müllschluckerrohr richtig hing, und bevor das große Haupttor aufging, habe ich fünfmal gegen das Rohr gehauen, wie abgemacht. Carlo war im ersten Stock, in der Kantine, er sollte sich direkt an der Schachtöffnung aufhalten, auf das Signal hin sprang er in das Rohr und schoss wie eine Kanonenkugel in den Container. Das große Tor ging auf, gleich würden die Müllwagen auftauchen. Ich hab die Containerkante gepackt, hab einen ziemlich akrobatischen Klimmzug gemacht und bin hinter Carlo reingesprungen. Wir sind zwischen den Müllsäcken bis zum Containergrund abgetaucht. Danach haben wir gewartet und gehorcht und so flach wie möglich geatmet, damit wir nicht ersticken. Wie lange, kann ich nicht sagen. Aber nicht so lange. Und dann hat der Laster uns beide auf einer Müllhalde ausgekippt. Das war’s.« Er hält inne, wirkt erschöpft, sieht Lisa endlich an. »So erzählt, klingt es unglaublich leicht.« Er verstummt erneut, dann: »Das ist unsere Geschichte, und ich erzähle sie zum ersten Mal.«

Lisa ist aufgewühlt, gereizt, misstrauisch. Erst mal beruhigen. Sie steht auf, macht sich von Filippo abgewandt in der Kochecke zu schaffen. Sie kocht nie, kein Platz, keine Zeit, keine Lust. Trotzdem hat sie in einem Schrank ein paar Notvorräte. In diesem Moment erlaubt ihr die Betätigung in der Küche, die Fassung zu wahren und einen Moment nachzudenken. Der Bericht ist zu strukturiert. Na gut, er hatte allerdings Zeit, den Film ein paarmal vor sich ablaufen zu lassen, das ist wahr. Sie kehrt mit einem Teller Tortellini in Bouillon zurück, den sie vor ihm auf das Tischchen stellt. Er stürzt sich darauf. Lisa sieht ihm zu und sagt, als er fertig gegessen hat, in aggressivem Ton:

»Diese ganze Geschichte erklärt mir nicht, wie du vor meiner Wohnungstür gelandet bist.«

»Als wir im Freien ausgekippt wurden, mitten im Müll, haben wir uns erst mal hochgerappelt.«

Er schweigt einen Moment, spürt jäh wieder die Verzweiflung darüber, plötzlich auf diesem Müllberg zu stehen. Was hattest du da verloren? Du hättest nicht in den Container springen sollen. Ihm war zum Weinen zumute gewesen. Er räuspert sich.

»An der Mauer lehnte eine Leiter. Und auf der anderen Seite wartete ein Wagen auf uns. Wir haben uns nebeneinander hinten auf den Boden gelegt, der Wagen ist losgerast, über sehr schlechte Straßen, ich habe eine Menge Stöße abgekriegt, Carlo sicher auch, ich glaube, ab und zu habe ich kurz das Bewusstsein verloren, ich erinnere mich nur undeutlich.«

»Wer fuhr den Wagen?«

»Ich weiß nicht. Ich kannte die beiden nicht. Am Steuer ein Typ und neben ihm eine junge Frau, mehr konnte ich nicht sehen.«

»Eine Frau?«

»Ja, eine Frau, da bin ich sicher.«

»Konntest du den Mann und die Frau nicht sehen? Nicht einen Moment? Haben sie nichts gesagt?«

»Nein, nichts. Solange ich da war, haben sie nicht den Mund aufgemacht. Und ich habe nichts gesehen, weil der Fahrer seinen Mantelkragen hochgeschlagen hatte und eine dunkle Brille trug. Die Frau trug den Kragen ebenfalls hochgeklappt und ein Kopftuch. Sie haben sich nie zu uns umgedreht.«

»Weiter?«

»Der Wagen hielt mitten im Gebirge, neben einer Ruine, einer Art Schafstall. Carlo nahm mich beiseite. Er gab mir einen gepackten Rucksack«, Filippo deutet darauf, »mit zwei Sandwichs drin, Kleidung, etwas Geld, er sagte zu mir: ›Hier trennen wir uns. Ich muss was erledigen. Wir treffen uns in einem Monat in Mailand. Bis dahin versteckst du dich, und wenn es dir hier in Italien zu heiß wird, haust du ab nach Paris, zu dieser Adresse, du sagst der Frau, dass ich dich schicke, du erzählst ihr unsere Geschichte, sie wird dir helfen.‹ Genau das hat er gesagt: wenn es dir zu heiß wird. Kapiert hab ich das erst später. Und dann sind alle drei in einen anderen Wagen gestiegen, der hinter dem Stall versteckt war, und weg waren sie.«

»Die beiden anderen hattest du da immer noch nicht gesehen?«

»Undeutlich, aus der Ferne, und nur von hinten.«

»Wusstest du von mir? Hatte Carlo dir schon von mir erzählt?«

»Nein, nie.«

Sie schluckt es stumm. Draußen wartet eine junge Frau auf ihn, und in sechs gemeinsamen Monaten hat er seinem Zellengenossen nie von mir erzählt. Misstrauen. Falle: »Hat er dir Adressen in Mailand gegeben?«

»Nein. Nur den Namen einer Jugendherberge. Nach einem Monat sollte ich mich dort einquartieren und warten, dass er sich bei mir meldet. Den Namen habe ich später vergessen.«

»Was hast du dann gemacht, als Carlo weg war und du mit einem Mal allein dastandst?«

»Na ja, ich bin zu Fuß los, durchs Gebirge, Richtung Mailand. Ich war lange unterwegs, wobei ich darauf geachtet habe, einsame Wege zu nehmen. Und dann kam ich nach Bologna. Das war die erste Stadt, in die ich seit unserer Flucht einen Fuß gesetzt habe.« Pause, es schnürt ihm die Kehle zu. »Ich habe die Zeitung gekauft, und da habe ich erfahren ... Das war ein Schock. Ich kann es nicht anders sagen, ein Schock.« Er fährt sich mit der Hand übers Gesicht. »Danach fühlte ich mich leer. Was sollte ich in Mailand? Eine unbekannte Stadt ... Und dann kriegte ich plötzlich Angst, große Angst. Wir waren zusammen geflohen ... Ich war drei Wochen untergetaucht. Und in dieser Zeit hatte ich niemanden gesehen und niemand hatte mich gesehen. Keine Chance auf ein Alibi. Am Tag nach unserer Flucht war mein Foto in den Zeitungen gewesen, und jetzt sagten die Bullen, sie würden eine Spur verfolgen, das konnte nur ich sein. Ein Bankraub, ein Carabiniere und ein Geldtransportfahrer getötet. Carlo hatte gesagt: ›Falls es dir zu heiß wird, geh zu ihr.‹ Es wurde mir zu heiß, also bin ich gekommen.«

Lisa lässt Stille einkehren. Verunsichert durch diese aus dem Nichts aufgetauchten Lebenszeichen des toten Carlo. Sie sucht Orientierung, Halt. Ist dieser Bericht glaubhaft? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Immerhin enthält er keine Widersprüche zu ihrem letzten Telefonat mit Carlo. Gemeinsame Flucht, bei der der Kleinkriminelle eine untergeordnete, aber effektiv eine Rolle spielt. Weiß er, wer die wahren Komplizen sind, oder nicht? Wüsste er es, würde er es vermutlich nicht sagen, er ist auf der Hut. Anschließend könnte Carlo sich seiner entledigt haben, indem er, ohne irgendwen hineinzuziehen, ohne irgendeine Adresse preiszugeben, ein Treffen in Mailand mit ihm vereinbart hat, zu dem zu erscheinen er nie die Absicht hatte. ›Keine Sorge, wir haben uns schon getrennt.‹ Ein Treffen in einem Monat, das gab ihm Zeit abzutauchen, falls er einen möglichen Verrat fürchtete. Kein sehr redliches Vorgehen, wenn der Kleinkriminelle sauber ist, aber denkbar und sogar wahrscheinlich. Schmerzlich ist etwas anderes, die Entdeckung dieser Monate tiefer Vertrautheit zwischen den beiden Männern, aus der sie definitiv ausgeschlossen ist. Er hat nie von mir erzählt. Im Wagen eine junge Frau. Lisa könnte rasen vor Eifersucht. Sie steht auf, nimmt Filippos schmutzigen Teller, stellt ihn in die Spüle. Lass dich nicht gehen. Sieben Jahre Knast verändern einen Menschen, das hat Roberto zu dir gesagt. Die letzten Monate seines Lebens verbrachte Carlo in engem Kontakt mit diesem Kleinkriminellen, aber sein Tod ist Teil unserer gemeinsamen Geschichte. Und die nimmt mir keiner weg. Sie bringt einen Teller Kekse, stellt ihn auf den Tisch, nimmt einen, isst ihn, um Zeit zu gewinnen. Dann:

»Carlo ist in eine Falle geraten. Er wurde von einem Scharfschützen ermordet, dem Carabiniere Lucio Renzi, der in der Bank versteckt auf ihn gewartet hat. Und du hast bei diesem Mord eine Rolle gespielt.«

Filippos Gesichtszüge entgleisen. »Ich?«

»Ja, du.«

»Ich verstehe nicht.«

Sie betrachtet ihn mit kaum verhohlener Wut. »Du hast ihn auf die Idee zur Flucht gebracht und sie ihm ermöglicht. Wäre er im Knast geblieben, würde er noch leben. Und wäre über kurz oder lang freigelassen worden.«

Dann fängt sie sich langsam wieder. Ein zerlumpter Bengel, der nicht zu Atem kommt, völlig aus dem Gleis. An kaum etwas schuld. Ruhig Blut. Lass dich zu nichts hinreißen, das ist deiner nicht würdig. Sie wendet den Kopf ab.

»Carlos Tod schmerzt mich zutiefst, ich glaube, meine Zunge war schneller als mein Verstand, gib nichts darauf. Ich bin todmüde und muss morgen zeitig raus. Du schläfst hier, morgen früh können wir weiterreden. Geh du als Erster ins Bad, ich richte dir unterdessen ein Bett.«

Бесплатный фрагмент закончился.

930,19 ₽