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Herdfeuer und Geschichten

Möge dein Heim stets

von einem wärmenden Feuer erhellt sein,

an dem man sich Geschichten erzählt,

die Fremde zu Freunden werden lassen.

Die keltisch-heidnischen Kulturen haben uns nichts Schriftliches hinterlassen, keine heiligen Texte, keine Abhandlungen über ihre Weltsicht, ihr Verhältnis zur Natur oder ihre spirituelle Tradition. Daher stammen die wenigen erhaltenen Texte über sie von römischen Invasoren oder christlichen Mönchen und sind somit recht tendenziös, was es nicht unbedingt einfacher macht, etwas über die frühe Zeit der keltischen Spiritualität herauszufinden.

„Das macht gar nichts“, meinte Seán, als ich dieses Dilemma beklagte. „Wenn du lernst, still zu werden, können dir die grünen Hügel, der Wind und die See alles erzählen, was du wissen möchtest.“

Das war wieder einmal die typische Antwort von jemandem, der Stunden damit zubringen konnte, eine Spinne beim Bau ihres Netzes zu beobachten, und der über solche Naturphänomene stundenlang Geschichten erzählen konnte, die nie mit Zwischentönen, Weitschweifigkeit, Unerklärlichem und einem Hauch der Anderswelt geizten.

Ich erinnere mich mit sanftem Schrecken an dreistündige Vorträge, die ich auf Tour mit ihm zu übersetzen hatte –, was wohl nicht nur Landes- sondern auch Familientradition war. Sein Großvater war über die Grenzen seines Dorfes hinaus als Geschichtenerzähler, Mythensammler und beliebter Redner bei Trauerfeiern und Hochzeiten bekannt gewesen. Sein Vater hatte ebenfalls Sprich- und Segensworte gesammelt und dadurch in Seán die für einen katholischen Priester sicher ungewöhnliche Meinung verfestigt, dass die Iren auch ohne das Christentum gut zurechtgekommen wären. Sie hatten ja ihre Sprichwörter und waren Meister in der Kunst des Segnens. Das reichte doch dicke an Spiritualität!

Als ich an einem Abend bei seiner Familie zu Gast war, wurde trotz lauschiger 18 Grad Außentemperatur ein Feuer im Kamin angeheizt, während sich Brüder, Schwestern, Onkel, Tanten, Freunde, Nachbarn und irgendwelche Leute, die wohl aus Versehen hier waren, auf einem Sammelsurium von Küchen- und Schaukelstühlen, Sesseln und Melkschemeln versammelten. Offenbar teilten alle Mitglieder der Familie O’Laoire die Vorliebe ihres weitgereisten Sohnes Seán für afrikanische Temperaturverhältnisse. Während sich mein T-Shirt langsam, aber sicher in eine Salzkraterlandschaft verwandelte, saßen die lustigen Iren in Strickpullis um das munter prasselnde Feuer und fühlten sich pudelwohl.

Vielleicht musste ich mir bewusst machen, dass das Herdfeuer der irische Inbegriff schlechthin für Gastfreundschaft war – schließlich taucht dieser Begriff in jedem dritten irischen Segenswunsch auf – und so wurde das Feuer angefacht, weil ein Gast da war, und nicht etwa, weil es kalt war. Da musste man einfach durch!

Es gab Scones, Tee, Bier und ein freundliches Lachen aus jeder Ecke. Padraig, der steinalte Nachbar, den ich nie in etwas anderem als seinem ölverschmierten Blaumann sah, gab zahnlos eine Geschichte nach der anderen zum Besten, die alle köstlich zu amüsieren schienen. Obwohl er angeblich Englisch sprach, verstand ich allerdings nicht ein einziges Wort.

Aber bald begannen auch andere zu erzählen und es entspann sich ein Hin und Her aus Mythen, Märchen und Geistergeschichten. Die Túatha Dé Danann schwebten durch den Rauch des Feuers, Fionn mac Cumhaills Weissagungskünste wurden gepriesen, Airmeds Umhang hüllte uns ein, und immer wieder wurde Bezug genommen auf Merkmale der Landschaft: „Westlich von Sligo steht ein Stein … Auf dem Hügel hinter dem Haus meines Großvaters … Auf dem Feld von Connor O’Douglan … An der Westküste von Inis Mór …“ So begannen viele Sätze, die irgendwann nach Stunden ineinander verschwammen, fast zu einem Hintergrundgeräusch wurden, das mich in vereinter Kraft mit dem einen oder anderen Stout und der saunaartigen Hitze einlullte. Ich fühlte mich der Zeit entrückt, hörte Seán von Brans nicht enden wollender Reise erzählen, dachte kurz, er spräche über mich, und fühlte mit einem Schlag den Unterschied zwischen den verwurzelten Menschen hier und meiner eigenen Rastlosigkeit und fehlenden Zugehörigkeit.

Ich stand etwas schwindelig auf und ging nach draußen, wo mich ein glitzernder Sternenhimmel erwartete, der mich sonst stets faszinierte und beflügelte, mich heute aber einfach noch verlorener fühlen ließ als sonst schon.

„Wir sind alle hier“, sagte Seán plötzlich neben mir, und ich erschrak, als hätte mir eine Banshee auf die Schulter geklopft. „Wir alle auf diesem kleinen blau-grünen Ball, der mit 107.000 km/h durchs All rast. Verrückt, oder?“

Solche Zahlenbeispiele hat Seán ständig auf Lager, da schlägt der Mathematiker in ihm diabolische Doppel-Salti.

Und nichts macht ihm mehr Freude, als bei seinen Vorträgen die Zuhörer mit entsprechenden Infos zum Staunen und mich als seinen Übersetzer zur Verzweiflung zu bringen. Schon mal die Drake-Gleichung zur Schätzung der Anzahl intelligenter Zivilisationen innerhalb unserer Galaxie aus dem Englischen übersetzt, die ein irischer Schnellsprechkünstler mit hartem Akzent herunterrasselt, während 150 Zuhörer Sie anstarren, als wären Sie völlig verrückt geworden? Ich schon – und ich kann die Formel mittlerweile sicherheitshalber auswendig.

Was Seán jedoch mit all diesen Zahlen und Formeln wirklich sagen will, ist stets, dass wir auf einem absolut erstaunlichen Planeten zu Hause sind. Dass alles ineinandergreift, aufeinander abgestimmt ist, von Wundern durchwirkt und uns jeden Tag als Geschenk dargebracht wird. Wenn ich alles, was er mir beibrachte, auf eine Aussage verkürzen wollen würde, würde sie wohl „Mach die Augen auf!“ lauten.

Wenn wir alle auf diesem kleinen blau-grünen Ball unterwegs waren, dann waren wir alle hier zu Hause. Wir alle konnten den Geschichten des Landes unter unseren Füßen lauschen, auch wenn es die Iren in dieser Disziplin zur Meisterschaft gebracht hatten.

Ich spürte, dass die Geschichten und Mythen, auch wenn ich sie durcheinanderbrachte, sie nicht ordnen konnte, etwas in mir berührten. Etwas sehr Altes, eine Erinnerung, die nicht nur meine eigene war. Es schien mir so, als ob in mir ein Brunnen sei, in den jede Geschichte sich wie ein Eimer hinabsenkte, um das kostbare Wasser nach oben zu transportieren. Ich konnte noch keinen Blick auf dieses Wasser werfen, doch ich vermutete, dass ich in ihm mein eigenes Gesicht gespiegelt sehen würde.

Diese Geschichten, die Seáns Familie erzählte, waren keine Unterhaltung, sie dienten einem ganz anderen Zweck: Sie ließen den Zuhörer das grundlegend Menschliche in sich selbst entdecken. Etwas, das ihn mit all den Helden, Kriegern, Göttern und Göttinnen, Abenteurern und Irrfahrern verband.

Ich sagte nichts, schaute nur nach oben, während der Schwindel und die Hitzewallungen langsam vorübergingen. Die Sterne über mir, die dahinrasende Erde unter mir. Selbst Seán schwieg ganz unirisch. Weitere Familienmitglieder strömten aus dem kleinen Haus, verabschiedeten sich und verschwanden in die Nacht. Seán klopfte mir auf die Schulter und ging zurück ins Haus.

Ich stand noch eine Weile dort, betrachtete den großen Wagen, das einzige Sternbild, das ich zweifelsfrei identifizieren konnte. Dann ging auch ich ins Haus, legte mich in ein viel zu kurzes, knarrendes Bett und träumte von einer schwarzen Amsel, die auf meinem Arm saß und mir dann ihren Schnabel tief in die Brust stieß …

Anfänge

Möge deine Welt grün sein

und vor Lebendigkeit schier bersten.

Mögest du dich fühlen wie ein Baum,

der seit Ewigkeiten seine Wurzeln in die dunkle Erde streckt,

auf die geflüsterten Geschichten des Landes lauscht

und dessen Äste sich darum ohne jede Angst und Scheu

in den Himmel ausbreiten können.

Wenn Seán seine Familie in Irland besucht, steht meist auch etwas Handwerkliches auf dem Programm. Seán nimmt sich irgendeinen Schmierzettel, berechnet flott die Dinge und dann wird munter drauflosgewerkelt, wobei keine Herausforderung zu groß scheint. Und so hörte ich schon oft frühmorgens Seán und seinen Bruder irgendwo hämmern, sägen und vor allem lachen. Ich schaute aus dem Fenster und sah sie entweder mit absurden Gerätschaften, die man auf einer Großbaustelle vermutet hätte, oder aber riesigen Bauteilen durch die Gegend laufen. Wenn ich fragte, ob ich helfen könne, sahen sie mich immer an, als hätte ich den Verstand verloren. Wahrscheinlich hatte sich die Kunde meines handwerklichen Ungeschicks schon weit über meine heimatlichen Gefilde hinaus verbreitet.

An einem fast sonnigen Morgen saß Seán ganz oben auf dem beinahe fertigen Holzgerüst des neuen Hauses, das sich sein Bruder baute, und hämmerte ein paar Balken zusammen, während Seamus herumbalancierte und wohl einfach die Aussicht genoss. Ich zog mich an, schnappte mir eine Tasse Tee und trat nach draußen. Zwei Männer, einer Mitte 60, der andere fast 70, die ohne jede Sicherung auf einem Holzgerüst herumturnten, das jedem deutschen Bauamt das Entsetzen gelehrt hätte.

„Wenn ich euch zwei schwarze Hüte besorge, könntet ihr auf eurer Scheune glatt als Amish durchgehen“, rief ich hinauf. „Interesse?“

„Ach, die würden mich noch schneller rausschmeißen als die Katholiken“, meinte Seán. „Calvin und ich – das wird nichts mehr in diesem Leben!“ Seamus lachte sich kaputt, versenkte aber trotzdem fachmännisch einen Nagel nach dem anderen. Seán packte indes sein Werkzeug ein und kletterte gewandt wie eine Bergziege von den Dachbalken herunter.

„Komm mit, ich will dir etwas zeigen“, sagte er.

Wir packten ein paar Sandwiches und eine Thermoskanne Tee ein, sprangen in seine Ludenkarre und machten uns auf den Weg.

„Wohin fahren wir?“

„Zum Anfang“, raunte er mit verstellter Stimme, die sich gut für einen Trailer zu irgendeinem drittklassigen Mystery-Thriller geeignet hätte.

Nach etwa 40 Kilometern auf lächerlich engen Straßen, die links und rechts von kleinen Steinmäuerchen begrenzt waren, hielt er plötzlich an. Ich war froh, dass wir endlich da waren, denn sein Fahrstil war nicht unbedingt dazu angetan, mich zu entspannen.

„Da sind wir“, sagte er und schwang sich aus seinem Ledersitz. Ich stieg aus und sah … nichts. Wobei „nichts“ nicht ganz richtig ist. Felder waren natürlich vorhanden, ein paar Sträucher und Bäume, die allgegenwärtigen Steinmauern. „Äh …“, machte ich, doch Seán winkte mich schon weiter: „Ein paar Meter zu Fuß.“

Wir latschten eine Weile über feuchte Wiesen, quetschten uns durch einen halb verfallenen Weidezaun und standen plötzlich auf einem Feld, in dessen Mitte ein beeindruckender Steinkreis zu sehen war. Einige Steine standen aufrecht, andere lagen am Boden, umgestürzt durch jahrhundertelange Bodenerosion, Seewind und die Arbeit ganzer Generationen fleißiger Wühlmäuse.

Eines muss man den Iren lassen: Sie machen kein großes Getue um ihre Kulturschätze! In Deutschland wäre dieser Steinkreis bestimmt von einem Sicherheitszaun umgeben gewesen, es hätte Infotafeln und eine kleine Holzhütte für den offiziellen Aufseher gegeben, der einem Eintrittsgeld abknöpfen würde. Hier jedoch lag dieser geschichtsträchtige Ort verlassen auf einem Feld, das irgendeinem Bauern gehörte, der mit seinem Trecker einfach immer einen kleinen Schlenker um die Steine fahren musste und sich nicht viel dabei dachte.

Die großen britischen Steinkreise in Stonehenge und Avebury waren mittlerweile zu Zirkus-Attraktionen verkommen, doch hier in Irland sahen die Leute ihr Erbe eher locker. Die Steinkreise gehörten ebenso dazu wie die Geschichten, die Pubs und die Kirchen.

Wir setzten uns in den Kreis und ließen die Atmosphäre auf uns wirken.

„Weißt du, was ich an diesen Steinkreisen am schönsten finde?“, fragte mich Seán.

Ich hatte keine Ahnung und zuckte nur mit den Schultern.

„Dass niemand so genau weiß, wozu sie wirklich dienten, was die Menschen glaubten, die sie bauten. Es gibt so viele Theorien, aber letztlich sind sie einfach da. Stehen hier herum wie eine Frage, die nur auf jemanden wartet, der sich von ihr davontragen lässt.“

Man muss vielleicht dazusagen, dass die Steinkreise nicht von den Druiden errichtet wurden, wie oft fälschlicherweise angenommen wird. Es gibt Hinweise darauf, dass die Druiden sie genutzt haben – vielleicht als Kultstätte, als Meditationsplatz, vielleicht als eine Art Observatorium. Aber wahrscheinlich haben auch sie sich schon gefragt, wer diese riesigen Steine hierhergeschafft hat und warum.

Ganz sicher war jedoch – und für mich auch spürbar –, dass die Steinkreise ähnlich wie die Geschichten und Mythen wirkten, denen ich so gerne lauschte. Sie sprachen etwas an, berührten eine Erinnerung in mir, die nicht in meinem Kopf, sondern eher in meinem Bauch verortet war.

„Sag mal, Seán, was sind diese Mythen für dich? Glaubst du sie?“

„Du meinst, ob ich sie für wahr halte?“

Ich nickte.

„Faktisch korrekt sind sie sicherlich nicht“, sagte Seán. „Bestimmt keine Texte, die man in den Nachrichten bringen würde. Aber wahr sind sie dennoch! Wie soll ich das erklären?“ Er blickte einen Moment nachdenklich zu Boden. „Für mich ist etwas wahr, was die Kraft hat, mich zu transformieren, mich in Einklang zu bringen mit einem tieferen Strom von Wahrheit, der fast unbemerkt diese Welt durchdringt. Du kannst diese Kraft Tao nennen – ich nenne sie Gott oder auch Göttin oder aber den kosmischen Christus. Aber das sind alles nur Worte.“

„Die heidnischen Mythen erzählen dir also etwas von deinem Gott?“

„Natürlich! Ich mag die Bibel – ist eine Berufskrankheit –, aber ich denke nicht, dass sich nur dort etwas Göttliches finden lässt. Jeder Mythos erzählt von Gott, erzählt vom Menschsein, von unserer Suche nach Menschlichkeit, unseren ganz grundsätzlichen Fragen. Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Dürfte dir doch bekannt vorkommen …“

Er grinste mich an und biss in sein labberiges Sandwich.

„Die Steinkreise, das Herdfeuer, die Küsten und Klippen, der Nebel und die Feenhügel – das sind die Geburtsorte dieser Geschichten. Deshalb habe ich dich nach Irland eingeladen. Weil du schon jede Menge Antworten gehört hast, aber keine Geschichten.“

Und genau das holte Seán nun nach. Wir blieben den ganzen Tag, während Seán erzählte, erzählte und erzählte. Wie er immer sagte: „Ich bin Ire. Gib mir ein Thema und ich höre nicht eher auf zu reden, bis du mich erdrosselst …“

Er war jedoch ein verdammt guter Erzähler, der keine Gefahr lief, körperliche Gewalt zu riskieren, sondern es schaffte, mit jeder Geschichte Bilder heraufzubeschwören, ein echtes Kopfkino. Offenbar bestand dieses Land nicht aus Erde, Felsen und Bächen, sondern aus Geschichten, Heldentaten, Irrfahrten, ritterlichen Questen und schamanischen Reisen. Zwischendurch gingen wir an der Küste spazieren, blickten aufs Meer, aßen die letzten Sandwiches (irgendwann bringe ich den Iren bei, wie man Vollkornbrot backt – versprochen!) und saßen bei Einbruch der Dunkelheit wieder im Kreis, in Stein gewordenen Geschichten, in den Nachthimmel aufragenden Fragen.

Der Blick zu den Sternen, umgrenzt von den tonnenschweren Steinen, ließ mich erahnen, wie die Menschen in alter Zeit versucht hatten, die Ordnung des Himmels auf der Erde abzubilden, sich einzufinden in das große Ganze. Schon immer hatten wir Versuche unternommen, HIER zu sein, unser Herz mit der Erde schlagen zu lassen, während sich unser Geist in den Himmel aufschwang. Von dieser Bewegung kündeten alle keltischen Mythen, die in der Landschaft um mich herum und in dem zaundürren Priester neben mir darauf warteten, lebendig zu werden, mich mitzunehmen auf eine Reise zu mir selbst.

Vielleicht ist Irland deshalb so ein Sehnsuchtsland für viele Deutsche: Weil hier etwas gegenwärtig ist, das unsere Tiefe anspricht. Weil der Wind uns die Flausen aus dem Kopf treibt, weil Volksmusik hier alles andere als peinlich ist und weil das Uralte gleichberechtigt neben dem Neuen existiert. Und weil die Wellen des Atlantiks rau sind, unsere inneren Klippen zernagen und unser Herz freilegen, das sich mit einer seltsamen Mischung aus melancholischer Zärtlichkeit und freudiger Zugewandtheit der schlichten Menschlichkeit widmen kann. Der Journalist und Reiseschriftsteller Alfred E. Johann sagte über diese emotionale Vermengung: „Wo auch immer ich mich aufhielt in Irland – dies war das Geheimnis seines Zaubers, dass das Land lächelte unter Wolken von Schwermut.“6

Seán und ich saßen im Steinkreis auf dem Boden, ließen den Blick und die Seele schweifen, sahen zum Himmel empor, spürten die Dunkelheit und die Weite, in der so vieles verborgen und alles enthalten war. Ich dachte an die Kelten, die von Schottland bis Spanien, von Frankreich über Deutschland und Österreich bis in die Türkei ihre Spuren hinterlassen hatten. Die Spuren ihrer Weltsicht, die ohne analytische Philosophie, aber nicht ohne Geschichten auskam – die immer „sowohl als auch“ statt nur „entweder oder“ enthielt, die nie zwischen dem Göttlichen und Weltlichen unterschied, sondern alles ineinander übergehen ließ. Die den Nebel nicht unbedingt lüften wollte, sondern die Schönheit im Schemenhaften erkannte.

Hier war etwas, das wichtig für mich war. Und Seán half mir stets, in dieses Wichtige einzutauchen, es einzuatmen, es in jedem Knochen, in jeder Zelle zu spüren.

Hatte ich Fragen, konnte ich mich immer auf Seán verlassen, denn er war nie um eine weit ausschweifende Antwort inklusive mythologischer Geschichte plus Bibelbezug verlegen. Am meisten mochte ich es, wenn er auf eine Frage entgegnete: „Dazu habe ich drei Dinge zu sagen …“, denn ich wusste genau, dass er zum Zeitpunkt dieser Antwort, bei der er dann auch immer artig drei Finger in die Luft streckte, noch keinen blassen Schimmer hatte, welche drei Dinge er denn erzählen würde. Nach einem seiner Vorträge, den ich übersetzt hatte, verriet er mir mal sein Geheimnis: „Ganz ehrlich, ich weiß nicht, um welche drei Punkte es geht, aber wenn ich das so sage, dann bin ich immer hundertprozentig sicher, dass sich eine dreiteilige Antwort ergeben wird.“ Und tatsächlich, das schaffte er jedes Mal, ohne auch nur einmal in Verlegenheit zu geraten.

Die Kelten, denen die Welt viele große Geschichtenerzähler zu verdanken hat, waren insgesamt ein seltsames Völkchen und vieles, was sie gedacht und getan haben, bleibt nach wie vor im Dunkeln. Ihr Name stammt vom griechischen Wort keltoi, doch weitergehende etymologische Kenntnisse sind eher schemenhaft. Einige Historiker meinen, dass der Name „die Versteckten“ bedeute, andere gehen wiederum davon aus, dass es „die Emporragenden“ heiße. Weiter könnten die Vermutungen wohl nicht auseinanderliegen. Fest steht zumindest, dass sich offenbar auch manche keltischen Stämme selbst als Kelten bezeichneten, anders als die Germanen, denen der ihnen zugewiesene römische Sammelbegriff eher fremd war.

Als klassische keltische Zeit betrachtet man grob den Zeitraum vom 8. Jahrhundert vor Christus bis etwa ins 5. Jahrhundert nach Christus. (Da ich den Sonderweg des keltischen Christentums als einzigartige Fusion aus heidnischen und christlichen Vorstellungen und damit als originär keltisch werte, betrachte ich diese klassische Zeit als bis ins 7. Jahrhundert reichend – genauer gesagt, bis ins Jahr 644. Dazu aber später mehr.)

Ihre größte Ausbreitung fand die keltische Welt, deren archäologischen Spuren man in Anatolien, Kroatien, Ungarn, Tschechien, Norditalien, Österreich, Schweiz, Süddeutschland, Frankreich, Nordspanien, Südostengland, Irland, Schottland und Wales begegnen kann, im 3. Jahrhundert vor Christus.

Außer der Sprache, die im heutigen Walisisch, Gälisch und Bretonisch überlebt hat – das keltische Manx von der Isle of Man und das Kornische, was in Cornwall gesprochen wurde, sind leider ausgestorben –, verband die Menschen, die als Kelten bezeichnet wurden oder sich selbst bezeichneten, vor allem eine bestimmte Weltsicht, die ihren Ursprung im Animismus hat. Dieser Animismus (von lat. animus = Hauch, bzw. anima = Seele) geht davon aus, dass alles in der Welt beseelt und alles von heiligem Leben durchdrungen ist: der Hirsch, der Fuchs, die Esche und der Ginster, das Gras auf den Hügeln, der Felsen, an dem sich die Meereswelle bricht, das Meer selbst, der Himmel, die Erde, das Feuer, der Fluss, der Mensch und die Amsel, die jeden Morgen ihr Lied anstimmt – sie alle sind Lebewesen voller Seele, aus göttlichem Grund stammend und dazu berufen, miteinander in Einklang zu leben. Die Welt wurde gedacht als Ort, an dem sich Seelen, Geister, Götter und personifizierte Naturkräfte trafen und miteinander wirkten. Schon seit der Jungsteinzeit gibt es Nachweise in Form von Höhlenmalereien, Kunstwerken, Grabbeigaben etc., die ein aus diesen Vorstellungen erwachsenes schamanisches Wirken belegen: Die Schamanin und der Schamane waren die Mittler zwischen den Menschen und anderen Geistern/Seelen, die entweder diese Welt bevölkerten oder aber in einer sogenannten Anderswelt, einer geistigen Parallelwelt, vermutet wurden.

Die schamanisch Tätigen reisten beispielsweise zu den Geistern der Tierherden und fragten um Erlaubnis, ein oder mehrere Mitglieder der tierischen Gemeinschaft zum Wohle des menschlichen Stammes zu töten. Ebenso waren sie für entsprechende Dankesopfer zuständig und holten Wissen über Pflanzen und ihre Kräfte aus der Anderswelt, sodass sie sich auch um Kranke kümmern konnten. Grob vereinfacht könnte man sagen, dass der Animismus und der Schamanismus, aus dem letztlich auch das Druidentum hervorgegangen ist, sich um eine sehr tiefe Form der Kommunikation mit der Welt bemühten und dabei ein Höchstmaß an Respekt und Ehrfurcht aufbrachten. Es war also alles andere als ein totes Uhrmacher-Universum, in dem die Kelten sich verorteten.

Vielmehr lebten sie in einer Welt, in der alles überaus lebendig war und aufgrund dessen als heilig angesehen wurde.

Auch die Kelten selbst waren in jeder Hinsicht lebendig: Sie feierten gern, waren oft großspurig, liebten ihre Heldensagen, vielleicht auch tatsächlich den Kampf und den Wettbewerb, das Trinken, die Dichtkunst, Schmuck, schöne Kleidung und ihre Waffen.

Vielleicht wirkte ihre Wildheit auf die Griechen und Römer ein wenig einschüchternd, zumindest ließen sich viele der antiken Schreiber eher abfällig über sie aus. „Ihr Aussehen ist furchterregend“, beklagte sich Diodor, ein griechischer Historiker, der in der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends v.Chr. gelebt hat. „Ihre Stimmen klingen tief und allgemein rau. (…) Vieles drücken sie in Übertreibungen aus, wobei sie sich selbst erhöhen und andere herabsetzen. Sie drohen gerne, reden hochfahrend und theatralisch. (…) Ihre Haut ist fast krankhaft weiß. Ihre Haare sind nicht nur von Natur blond, sondern diese Besonderheit der Haarfarbe heben sie noch durch die Behandlung [hervor]. Sie bleichen es auch noch auf künstliche Weise, waschen es in Kalklauge und kämmen es von der Stirn nach oben. Daher ähnelt ihr Anblick den Satyrn oder Panen. (…) Manche rasieren sich, andere, vor allem die Vornehmen, lassen sich bei glatt geschabten Wangen einen Schnurrbart lang herabwachsen, sodass ihr Mund verdeckt ist und beim Essen und Trinken als ein Seiher wirkt.“7 Man kann sich gut vorstellen, wie ein paar gut situierte Bürger auf dem Forum Romanum zusammenstanden und einer das Gespräch mit „Ich habe ja nichts gegen Kelten, aber …“ begann.

Aufgrund ihrer Weltsicht der Beseeltheit, der inneren Verbundenheit aller Wesen und der tiefen Überzeugung von einer allem innewohnenden Heiligkeit, kann man die Kelten getrost als eine kulturell verbundene Gemeinschaft verschiedener Stämme bezeichnen, deren ganze Gesellschaft um das Spirituelle kreiste. Der am deutlichsten sichtbare Ausdruck dieser alles durchdringenden Spiritualität war das Druidentum.

Die Druiden und ihre weiblichen Entsprechungen, die Bandrui, waren eine eigene Kaste innerhalb der keltischen Gesellschaft, die ein hohes Ansehen genoss und auch über weitreichende Macht verfügte. Traditionell vereinte diese Personengruppe die Aufgaben von Priestern, Magiern, Astronomen, Philosophen, Beratern von Königen, Heilern, Kräuterkundigen, Dichtern, Geschichtenerzählern und Bewahrern der Tradition und Historie. Damit erfüllten sie eine ähnliche Funktion, wie das die Brahmanen im alten Indien taten und teilweise heute noch tun.

Auch die Etymologie des Begriffs „Druide“ ist nicht gänzlich geklärt, scheint aber auf etwas hinzudeuten, was uns mit nur einem Wort einen Hinweis auf die besondere Qualität dieser oft hochgebildeten Kaste gibt. Zum einen gibt es die Theorie, dass sich das Wort von deru für stark, unerschütterlich und weid für sehen ableitet, wonach der Druide dann derjenige wäre, der weit sehen kann, der über Weitsicht verfügt, somit ein Weiser ist. Zum anderen wird vermutet, dass sich das Wort von dru für Eiche8 und wid für Wissen ableitet9 und damit einen Wissenden der Eichen meint, einen Eichenkundigen, einen Waldkundigen oder auch einen Waldweisen.

Der letzte Begriff gefällt mir besonders: Waldweise zu sein, stelle ich mir in jeder Zeit, vor allem aber in unserer heutigen, als sehr hilfreich und heilsam vor. Im Grün der Welt wirklich zu Hause zu sein, angeschlossen zu sein an die Zyklen der Natur, jedem Wesen mit Respekt zu begegnen, das Heilige in allem zu ehren, dem Göttlichen im Außen und Innen nachzuspüren und als achtsamer Teil einer globalen Lebensgemeinschaft zu wirken – das klingt für mich ziemlich erstrebenswert. Zum Glück hat sich ein Großteil dieser paganen Einstellung auch im keltischen Christentum erhalten und verband dort mit der christlichen Botschaft sozusagen das Beste aus zwei Welten, worauf wir später noch zurückkommen werden.

Grundsätzlich kann man sagen, dass es im Druidentum um eine Öffnung gegenüber der Magie des Lebendigseins ging (und in manchen modernen Formen des wiederbelebten Druidentums auch immer noch geht). Vieles können wir nur mühsam rekonstruieren und manche Lücke wohl auch nur mit Fantasie füllen (womit kein Kelte Probleme hätte), aber die druidische Weltsicht scheint sich wie fast alle mystisch orientierten Zweige der verschiedenen Religionen in einem Dreiklang aus Achtsamkeit, Staunen und Dankbarkeit befunden zu haben: Die Kelten schauten die Welt tatsächlich an, ließen sie auf sich wirken, staunten über das, was sich ihnen darbot – die Fülle, die Vielfalt, die Schönheit und Wildheit –, und waren dankbar, Teil dieses großen Lebenskreises sein zu dürfen.

Diese drei Grundpfeiler der mystisch orientierten Spiritualität, die stets mehr die Immanenz als die Transzendenz des Göttlichen im Fokus hat, öffnet uns auch gegenüber tieferen Ebenen unseres Bewusstseins: Wenn Achtsamkeit, Staunen und Dankbarkeit sich treffen und einander bedingen, sich durchdringen, treten wir in Beziehung: mit der Natur, mit dem Göttlichen, mit uns selbst. Darin ähneln sich Druidentum und Schamanismus – und auch die mystischen Zweige der Weltreligionen, ganz gleich aus welchen Ecken der Welt sie stammen.

Ich glaube, diese wirkliche Beziehung ist es, die mich an mystischen Wegen stets fasziniert hat – ob sie nun im Kontext des Heidentums, des Christentums, des Islams, des Judentums, des Hinduismus, des Buddhismus oder Taoismus geboren waren. Schon bei der Betrachtung all dieser Wege wurde mir bewusst, dass eine solche Spiritualität, die auf der eigenen Erfahrung gründet und sich dabei der Welt vorbehaltlos aussetzt, eben keine Weltflucht ist, sondern im Gegenteil dazu führt, ganz in der Welt präsent und vom Geschenk des Lebens erfüllt zu sein. Wenn ich dann Menschen traf, die sich einem solchen Weg verschrieben hatten, und ich gemeinsam mit christlichen Mönchen und Nonnen, Sufis, modernen Druiden, Yogis und Yoginis, Taoisten oder Buddhisten meditierte, konnte ich in der Stille dieser Momente wahrnehmen, wie die Grenzen zwischen den Wegen verschwammen und nur Menschlichkeit und Hingabe an das Sein des Augenblicks übrig blieben. Ich atmete ganz einfach mit diesen Menschen ein und aus, und mir wurde klar, dass wirkliche Verbindung eine unserer Grundsehnsüchte ist, egal in welcher Kultur wir aufgewachsen sind.

Diese innige Verbindung, dieses Eintauchen in die Welt, wertschätzten wohl auch die alten Kelten. Für sie bedeutete dies vor allem, mit allen Aspekten der Natur in Beziehung zu treten und mit Steinen, Bäumen, Pflanzen, Tieren und Menschen auf tiefer Ebene zu kommunizieren. Ebenso ging es ihnen aber darum, mit dem andersweltlichen Charakter der Welt in Kontakt zu sein, mit Wesen aus der Geistigen Welt, Elfen, Gottheiten und Naturgeistern zu sprechen und von allem und jedem zu lernen.

Eine dieser Gottheiten, die eine ganz besondere Form des In-Beziehung-Tretens symbolisiert, nämlich die Gestaltwandlung, war Ceridwen. Die Vorstellung, dass manche Götter oder Göttinnen die Fähigkeit zur Gestaltwandlung haben, ist in paganen Gesellschaften weit verbreitet und steht immer für die Aufnahme einer tiefen Verbindung. Wenn man sich in etwas verwandeln kann, sich gänzlich in etwas hineinversetzen kann, dann versteht man es auch.

Dazu gibt es eine wunderbare Geschichte, die uns letztlich auch wieder den Bogen zum keltischen Christentum schlagen lässt.

Ceridwen, die hauptsächlich in der Mythologie Wales‘ vorkommt, hatte zwei sehr gegensätzliche Kinder: ihre Tochter Creirwy, die weithin als das schönste Mädchen bekannt war, und einen Sohn, der leider potthässlich war. Zu allem Überfluss nannte sie den Jungen, als hätte er es nicht ohnehin schon schwer genug, auch noch Afaggdu. Wenn der Klang seines Namens und sein Aussehen irgendwie in einem Zusammenhang standen, dann können Sie sich vielleicht ein Bild machen und in spontane Mitleidsbezeugungen ausbrechen. Wie auch immer: Ceridwen fand, dass Afaggdu irgendeinen Ausgleich für sein Schicksal verdient hätte, und da sie nicht nur Göttin, sondern auch Zauberin war, machte sie sich daran, einen Weisheitstrunk zu brauen. Sie dachte: „Wenn der Junge schon so vermaledeit aussieht, dann sollte er wenigstens clever sein!“ Und so rührte sie in einem großen Kessel einen Trank zusammen, der Affagdu alle Weisheit der Welt schenken sollte. Der Trank musste permanent umgerührt werden, doch zu ihrem großen Verdruss musste sie zwischendurch auch mal weg, irgendetwas erledigen, was Götter eben so erledigen müssen. Da kam ihr Gwion Bach, ihr Gehilfe, gerade recht. Sie schärfte ihm ein, immer weiter zu rühren und vor allem unter gar keinen Umständen etwas von dem Trank zu probieren. Dann verschwand sie und Gwion Bach rührte mit einem großen Löffel fleißig im Kessel herum. Wer schon einmal Tomatensoße von der Küchendecke gewischt hat, weiß, dass manche Flüssigkeiten beim Kochen dazu neigen, vulkanartig zu explodieren, und so ging es auch Gwion Bach mit dem Zaubertrank: Es blubberte, es zischte … und Gwion Bach zuckte zusammen, als drei Tropfen des brüllheißen Gebräus auf seinem Daumen landeten. Ohne lange zu überlegen, steckte er den Daumen in den Mund, um den Schmerz zu stillen, und hatte somit also von dem für ihn verbotenen Trank gekostet.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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211 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9783532600528
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