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Genschmar

Mehrere Begebenheiten erinnern mich an das Dorf Genschmar (jetzt Bleyen-Genschmar) im Oderbruch, Nähe Kostrzyn/Küstrin. Dort hatte die Sowjetarmee bereits Ende Januar 1945 einen Brückenkopf über die Oder gebildet, der bis Mitte April heiß umkämpft war, wobei der Ort fast völlig zerstört wurde. Mühsam und notdürftig wieder aufgebaut, riss das Oderhochwasser 1947 erneut das halbe Dorf fort. Die Bevölkerung verlor vieles, auch den Lebensmut. Genschmar wurde deshalb zum Jugendobjekt erklärt. In Jugendobjekten, von denen es in der DDR mehrere gab, sollten unter Organisation der FDJ und mit dem Arbeitselan junger Menschen besondere Kraftanstrengungen helfen, schwierige, auch entbehrungsreiche Aufgaben zu lösen. So lernten auch wir Medizinstudenten ungefähr 1958 diese Ortschaft kennen.

Vielleicht war uns der (falsche) Ruf voraus gegangen, Faulpelze zu sein, oder die dortige FDJ-Leitung war über unsere früheren Studentenunruhen verzerrt unterrichtet. Jedenfalls empfing uns der örtlich verantwortliche Funktionär mit einer drohenden Rede und dem Satz: „Ich diskutiere mit der Faust auf dem Tisch!“ Das war nun genau das falsche Rezept. Geht es ruhig und sachlich um Argumente, kann ein Einzelner seine Meinung behaupten und vielleicht auch eine Masse überzeugen. Aber da es hier mehr um Lautstärke gehen sollte, waren wir 34 jungen Männer und 17 Mädchen, die sich untereinander kannten und verstanden, dem einen Jugendfunktionär stets stimmlich überlegen. Gleich am ersten Abend setzten wir andere Quartiere für unsere Mitstudentinnen durch, da die zugewiesenen bei leichten Oktober-Nachtfrösten nicht heizbar und nur mit zugigen Fenstern ausgestattet waren. Sie zogen in unsere etwas bessere Baracke, in die leer gebliebenen Zimmer ein. Die Furcht der örtlichen FDJ-Leitung, das Jugendleben könnte dann nachts vielleicht zu froh werden, erwies sich als unbegründet, obwohl natürlich auch Medizinstudenten keine Mönche oder Nonnen sind.

Eines Abends – wir bereiteten gerade ein kleines Fest vor – wurden wir Jungen noch einmal herausgetrommelt. Auf der nächsten Bahnstation war außerplanmäßig ein Waggon mit Mauersteinen eingetroffen, die wir noch abends entladen sollten. Ein Zimmerkollege, dem ich meinen Unwillen ausdrückte, schrie mich an, dass solche Unregelmäßigkeiten der Eisenbahn schon vorkommen könnten und durch unsere Arbeit auszugleichen seien. Ich spottete zurück, dass die Demontage des zweiten Eisenbahngleises durch die UdSSR uns solche Transportstörungen beschert hätte. Alles grinste. Er schwieg.

Konkreter verlief die Debatte mit dem örtlichen FDJ-Verantwortlichen, der mit uns in der gleichen Baracke lebte. Er versicherte unter unserem Druck, er würde bei der Waggon-Entladung mithelfen. Wir sollten ihm Bescheid geben, wenn der LKW da wäre, der uns hinbrächte. Dann jedoch schloss er sich in seinem Arbeitszimmer ein und vergaß seine Zusage in den Armen eines lieben Mädchens aus der Nachbarschaft. Doch nicht lange: Der angekündigte LKW traf ein und wir stiegen auf. Und dann begannen die Sprechchöre, straßenweit hörbar, die unseren FDJ-Freund riefen. Keine Reaktion. Der LKW wartete und zwei unserer kräftigsten Leute stiegen ab, um an seiner Tür zu klopfen und zu rufen. Keine Reaktion.

Schließlich traten sie die Tür ein, ließen dem vergesslichen Verantwortlichen nur wenige Augenblicke und verluden ihn dann samt Mädchen, das immer noch an seinem Hals hing, auf das Fahrzeug. Die Schöne wurde unterwegs nahe ihrem Elternhaus abgesetzt und unser Freund beim Abladen und Weiterreichen der Mauersteine so eingereiht, dass es kein Entrinnen, Bummeln oder Kneifen geben konnte. Der Erfolg war überwältigend. Er bedankte sich, von uns gerufen worden zu sein, lobte die Schönheit gemeinsamer Arbeit und über die eingetretene Tür wurde kein Wort verloren. Als wir zurück kamen, hatten unsere Mitstudentinnen schon alles wunderbar vorbereitet und die Fete konnte sofort losgehen. Sie wurde noch schöner, als wir vorher gehofft hatten.

Unsere Gruppe musste einen Straßengraben ausheben. Keine leichte Arbeit. Der Boden war lehmig und musste gründlich mit der Spitzhacke gelockert werden. Nach dem Ausheben klebte er teilweise so fest am Spaten, dass er ebenfalls mit der Hacke von ihm abgeschlagen werden musste. Bei dieser nur langsam voranschreitenden Arbeit bemerkten wir an einer Stelle eine blaue Verfärbung des Erdreiches, das dort noch zäher war. Plötzlich stießen wir auf einen Knochen. Ein Blick genügte uns Medizinern: das Felsenbein eines Menschen, ein Teil der Schädelbasis. Wer es durch Gewalteinwirkung verliert, lebt sicherlich nicht mehr. Beim nächsten Spatenstich kam eine Medaille an Licht, eine sowjetische Kriegsauszeichnung mit einer Nummer auf der Rückseite. Mir fiel das traurige Amt zu, Knochen und Medaille abends auf dem Gemeindebüro abzugeben und den Fundort sowie die Umstände für ein Protokoll genau zu beschreiben. Vielleicht hat dadurch eine Familie im weiten Sowjetland letzte traurige Gewissheit über das Schicksal eines Angehörigen erhalten – ich habe es nie erfahren.

Eine ungewöhnliche Vorlesung

Vorlesungen sind zur Vermittlung des Lehrstoffes und Darstellung der wissenschaftlichen Überzeugung des Dozenten bestimmt. Eine bemerkenswerte Ausnahme machte einmal der Lehrstuhlinhaber für Chirurgie, Professor Felix.(7) Er hatte sich einige Tage von einem Assistenten vertreten lassen und „entschuldigte“ sich für seine Abwesenheit mit den Worten: „Ich war in Mexiko-City zu einem internationalen Fachkongress. Thema: Das Carcinom!“ Dann erläuterte er uns kurz die aktuelle Tendenz, den Krebs nicht nur herauszuschneiden, sondern stärker auch Bestrahlung und Medikamente einzusetzen – ein Trend zur kombinierten Therapie, der bis in die Gegenwart anhält.

Und dann machte er uns eine große Freude: „Sie werden ja zum großen Teil nie nach Mexiko kommen. Ich habe Ihnen einige Dias mitgebracht“. So zeigte er uns die teils von altindianischer, vom spanischen Kolonialbaustil und vom modernen Mexiko geprägten Bauten, wie das Haus der drei Kulturen und die großartigen Bilder von Diego Rivera, David Alfaro Siqueiros und José Clemente Orozco. Mir fiel besonders ein Bild auf. Es verglich Kapitalismus und Kommunismus in allegorischer Darstellung. Beherrschend thronten Marx, Lenin und Trotzki, der in der DDR so sehr Verpönte. Auf der Seite des Kapitalismus erblickte man Armut und irrsinnigen Reichtum, Krieg und die Göttin der Vernunft von antiker Schönheit – und in Ketten. Der Kommunismus war positiv dargestellt: frohe Arbeiter, Harmonie und Freude. Mittendrin ein Wermutstropfen: die Göttin der Vernunft – frei, aber ohne Kopf! Ich kann nicht mehr feststellen, welcher der großen mexikanischen Monumentalmaler dieses Werk geschaffen hat. Im Internet ist das Kunstwerk für mich nicht auffindbar. Aber seit dem Lichtbildvortrag von Felix finde ich die mexikanischen Monumentalmaler noch eindrucksvoller, als vorher schon.

Erster Promotionsversuch

Der Doktortitel war und ist für den Mediziner neben seinem wissenschaftlichen Wert eine Imagefrage. Patienten reden ihren Arzt damit an, egal ob der ihn führt oder nicht. Die dazu nötige Dissertation darf zwar erst nach dem Staatsexamen eingereicht und beurteilt werden, aber nichts sprach damals – die heutige Praxis kenne ich nicht – dagegen, schon vorher an dieser Schrift zu arbeiten. Damit begannen viele nach dem Physikum, das heißt im dritten bis fünften Studienjahr. Voran gingen diejenigen Kommilitonen, deren Eltern Ärzte waren, weil sie wussten „wie der Hase läuft“.

Zum Promovieren brauchte man einen Doktorvater, der ein Thema vergab, also eine kleine Forschungsaufgabe, deren Ergebnis er in sein wissenschaftliches Gesamtkonzept einbauen konnte. Wir waren in Berlin nach dem Physikum noch ungefähr 320 Studenten in unserem Studienjahr, die anderen waren teils dem Studium nicht gewachsen, zum anderen Teil an die Medizinischen Akademien Magdeburg und Dresden abgegangen. Diese Orte verfügten über keine vorklinischen Lehrstätten, konnten jedoch das klinische Studium in guter Qualität durchführen, sodass viele Studenten dorthin gingen, weil sie aus diesen Gegenden waren.

Alle drei Studienjahre hatten zusammen demnach ungefähr 1000 Studenten und fast alle wollten einen Doktorvater haben, den man selbst wählen und ansprechen musste. Kein Wunder, dass viele Lehrstuhlinhaber über solche ehrenvollen Bitten nicht nur froh waren, sondern schon genug Kraft in die wissenschaftliche Anleitung ihrer bereits angenommenen Doktoranden steckten und weitere Anfragen eher als Plage empfanden. Dazu kam noch etwas anderes. Manche Lehrstuhlinhaber gingen in den Westen und fielen damit für die weitere Betreuung ihrer Doktoranden in Ostdeutschland aus. Einige Studenten, die ihre Dissertation schon begonnen hatten, konnten dann mit viel Glück einen anderen Dozenten finden, der die angefangene Arbeit für seine Vorhaben gebrauchen konnte und sie unter seiner Regie fortführen ließ. Aber das war nicht immer möglich. Dann wanderten die bisherigen Arbeitsergebnisse meist in den Papierkorb. Einen Mitstudenten in meiner Seminargruppe traf dieses Missgeschick in knapp drei Jahren drei Mal. Dann war seine Geduld am Ende. Er folgte seinem letzten Doktorvater nach Westdeutschland, studierte dort weiter und setzte dabei auch seine angefangene Dissertation fort.

Auch ich selbst hatte auf diesem Gebiet kein besonderes Glück. Ich arbeitete beim Physiologen Pichotka, einem guten Fachmann aus Süddeutschland, über Wärmeregulation des menschlichen Körpers. Dazu mussten Versuchspersonen eine Hand in eiskaltes Wasser hängen, erst unvorbereitet, dann nach Aufheizung ihres Körpers mit einem warmen Fußbad. Die Kältewirkung auf die gekühlte Hand wurde an ihr selbst und die Fernwirkung dieser kalten Bäder wurde – das war das Wichtigste – vergleichend auch an der anderen Hand gemessen.

Meine Versuchspersonen für diese Experimente sollte ich selbst unter den Kommilitonen und anderen Bekannten werben. Geld oder eine andere materielle Entschädigung gab es dafür nicht und meine schmale Börse schied dafür aus. Natürlich hielt sich der Andrang der Versuchsteilnehmer in äußerst überschaubaren Grenzen; die häufigste Versuchsperson war ich selbst. Da ich auch noch die Versuchsapparaturen aufbauen, sowie das Stangeneis für die Wasserkühlung manuell zerkleinern und herantragen musste, waren die Messergebnisse durch diese zahlreichen Störfaktoren beeinträchtigt und ihnen nur schwer eine klare Aussage zu entnehmen.

Dennoch ermutigte mich Pichotka weiter zu machen und die Resultate schriftlich niederzulegen. Das zog sich, weil sie schwer interpretierbar waren, bis über das Staatsexamen hinaus, über das ich noch berichten werde. So werkelte ich noch während meiner ersten Monate in Demmin neben meiner begonnenen Berufsarbeit daran – bis zum 13. August 1961. An diesem Tag errichtete die DDR die Mauer, mit der sie Westberlin einschloss. Pichotka verbrachte seinen Jahresurlaub gerade in der westdeutschen Heimat. Er bot – so habe ich dann gehört – der DDR seine Rückkehr an, wenn man ihm seinen westdeutschen Pass und damit die Reisefreiheit beließe. Das wurde abgelehnt. So blieb er drüben. Natürlich hatten das seine Assistenten und Doktoranden, die in Berlin arbeiteten und lebten, sofort erfahren und konnten sich unverzüglich entsprechend kümmern. Ich hatte einen Informationsrückstand von etlichen Tagen. Da war jeder telefonische Versuch in Berlin schon sinnlos, von persönlichen Vorsprachen zu schweigen. So blieben mir nur ein voller Papierkorb, Erinnerungen und ein paar Kenntnisse wie der Mensch sich selbst heizt und seine Wärme abgibt.

Ein Investiturball und seine schönen Folgen

Am 10. Juni 1959 erhielt die Humboldt-Universität einen neuen Rektor. Das nennt man traditionell Investitur, im Lateinischen „Einkleidung“, hier Einführung in sein Amt. Der Tag war vorlesungsfrei. Dafür gab es vormittags eine große Festveranstaltung mit Reden, dem Akademischen Senat in vollem Ornat und guten Musik- und Tanzdarbietungen. Wir sollten den Festakt möglichst besuchen, was sich wegen des kulturellen Niveaus auch lohnte. Abends wurde der neue Rektor traditionell mit einem Studenten-Tanzvergnügen, dem Investiturball, gefeiert. Auf Zureden meiner Freunde ging ich hin. Es war ja immerhin eine Gelegenheit, Studenten und besonders Studentinnen anderer Fakultäten kennen zu lernen. Sehr bald gefiel mir eine freundliche junge Dame im grünen Kleid, die von ihrer älteren Schwester begleitet wurde. Wir tanzten viel miteinander und ich begleitete sie bis an ihre Haustür. Wir trafen uns dann fast jede Woche und lernten uns näher kennen. So erfuhr ich auch, warum sie zum Investiturball gekommen war – es war ihr 22. Geburtstag und in ihrem Studentenzimmer langweilte sie sich. Sie war Romanistin, spezialisiert auf Französisch und Latein und wollte Lehrerin für diese Fächer werden. Ich komme noch mehrfach und gern darauf zurück.

Den Arbeitsort wählen

In der DDR galt die Maxime: der Staat bezahlt das Studium, verlangt aber dafür, dass der Absolvent in den ersten drei Berufsjahren dorthin geht, wo ihn der Staat am dringendsten benötigt. Das löste zwar bei manchen Studenten wenig Freude aus, wurde aber durchgesetzt. Nur liefen die Lenkungsmechanismen dafür bei den Medizinern und bei den Lehrern unterschiedlich ab.

Bei den angehenden Ärzten hingen mehrere Monate vor dem Staatsexamen Listen mit den Ortsnamen aus, die dringend Ärzte brauchten. Und die wurden fast überall gebraucht. In der Praxis war daher die Pflicht, an den staatlich vorgegebenen Arbeitsort zu gehen, mit einer breiten Wahlmöglichkeit verbunden. Nur Berlin bildete eine Ausnahme. Weil es relativ gut ärztlich besetzt war, hatten nur wenige Absolventen die Chance, in Berlin zu bleiben. Allerdings nahm man auf jene Rücksicht, die in Berlin ehelich gebunden waren. Bei den Romanisten war das ähnlich, sodass dort gewitzelt wurde: „Berlin ist eine Ehe wert.“ Sonst aber gab es für die angehenden Lehrer nur die allgemeinen Vorgaben, dass sie sich im Oderbruch oder im Bezirk Neubrandenburg (heute Mecklenburg-Vorpommern) bewerben sollten.

Meine Freundin und ich kannten uns indessen zwar gut und wollten uns nicht durch das System der Arbeitsplatzlenkung trennen lassen, eine Ehe zu schließen aber erschien uns doch noch verfrüht. So entschlossen wir uns, beide nach Mecklenburg zu gehen, denn dort wurden Ärzte ebenso wie Lehrer gebraucht. Das erhöhte die Möglichkeit, in den gleichen Ort zu gelangen. Mit dem gemeinsamen Arbeitsort wollten wir aber keine gegenseitige Verpflichtung eingehen. Schließlich konnten wir ihn ja auch nach drei Jahren gemeinsam oder auf getrennten Wegen wieder verlassen oder dort bleiben und andere Partner wählen. So entschieden wir uns für Demmin, das ich später noch genau beschreiben werde.

Staatsexamen

Hier verrichtete die FDJ unseres Studienjahres zwei bemerkenswerte Taten. Erstens organisierte sie, dass der gesamte Lehrstoff auf die Studenten aufgeteilt und von jedem der ihm zugewiesene Lehrabschnitt prägnant zusammengefasst wurde. Daraus entstand ein Skript – eine Übersicht über die gesamten Lehrinhalte von drei Jahren, verfasst von Studenten. Dieses Skript war sicherlich nicht der Stein der Weisen, aber als Leitfaden, der zum ausgewählten Durcharbeiten der Fachbücher hinführte, hat er mindestens mir gute Dienste geleistet. Andere urteilten weit kritischer darüber.

Zweitens brachte es die FDJ fertig, unter uns Studenten Geld einzusammeln und damit für den Lehrkörper ein Abschlussfest – heute würden wir es Dankeschön-Veranstaltung nennen – mit festlicher Musik, einer Dankesrede des FDJ-Studienjahresverantwortlichen und wunderbaren Blumensträußen für unsere akademischen Lehrer zu organisieren. Die Freude war bei ihnen allgemein. So etwas hatte es bis dahin nie gegeben und ist mir auch nachher oder von anderer Seite nie wieder bekannt geworden.

Nun zum Staatsexamen selbst. Die Zulassungsordnung verlangte Teilnahmebestätigungen („Scheine“) von insgesamt 42 Kursen, was kaum Probleme bereitete. Nach erteilter Zulassung hatte man binnen fünf Monaten 15 Prüfungen zu bestehen. Die Reihenfolge der Prüfungen konnten sich die selbst zusammengetretenen Vierergruppen von Prüflingen frei wählen, sie waren allerdings von den Terminvereinbarungen mit und den Terminfestlegungen der Prüfer abhängig. Wir vier unserer Gruppe vereinbarten unsere Prüfungsreihenfolge, lernten dazwischen jeder für sich und prüften uns dann zwei Tage vor dem jeweiligen Examen gegenseitig. Unsere Zeitspanne erstreckte sich von Mitte Juli bis zum 12. Dezember 1960. Nach dem schon früher gegebenen Rat Waldeyers, lernten wir am allerletzten Tag nichts mehr, sondern entspannten uns oder gingen noch besser mit dem anderen Geschlecht spazieren, was sich als ausgezeichneter Rat gegen Prüfungshektik erwies. Ich hatte ja seit dem Investiturball dafür eine liebe Begleiterin. Sie musste allerdings schon im September 1960 ihre Arbeitsstelle in Demmin antreten. So ersetzten Briefe die Begleitung und ich war nie vorher und nie hinterher ein so fleißiger Briefschreiber, sondern war meist und bin bis heute ein ausgemachter Schreibmuffel. Meine Mutter zog verständnisvoll lächelnd richtige Schlüsse aus diesem auffälligen, für mich ganz untypischen Eifer.

Die Prüfer waren oft die Lehrstuhlinhaber, die wir im Hörsaal gesehen hatten, noch öfter ihre mehr oder weniger bekannten Oberärzte oder Assistenten. Ich kann mich an korrekte und gewissenhafte Prüfungen erinnern, teilweise auch an die Prüfungsfragen. Die meisten Prüfungen wurden mit einer Patientenuntersuchung eingeleitet, nach der wir einen Bericht, wenn möglich mit der Diagnose oder den weiteren Untersuchungsschritten geben sollten. Daraus entwickelte sich dann das Prüfungsgespräch, durchmaß theoretische und grundsätzliche Fragen, mögliche andere Diagnosen und vieles mehr.

Bis heute halte ich das für besser, als Tests mit Fragebogen, die zwar bei Streitfällen gerichtsfester sind, als die Mitschrift eines Prüfungsgespräches, aber die nicht – ohne oder mit Hilfen des Prüfenden – die logische Entwicklung eines Gedankenganges durch den Prüfling ermöglichen und zeigen. Eine gute Prüfung ist ja nebenbei auch lehrreich für den Prüfling und ich weiß von einem Altsprachler, der sich explizit vorgenommen hatte, jeden Prüfling noch im Examen zu einer neuen Einsicht zu führen. Meiner Freundin zeigte er zum Beispiel im Examen einen Bronzenagel, ein Stück, das bei Ausgrabungen antiker Kulturgüter gefunden worden war.

Gelegentlich konnten Prüfer hart werden. So redeten kurz vor dem Staatsexamen zwei Studenten im Hörsaal lebhaft miteinander, während der Vortragende, Professor Zwicker, einen Patienten vorstellte. Solche Disziplinlosigkeiten waren hier noch unpassender, als in anderen Studienrichtungen, weil sie dem demonstrierten Patienten nicht entgingen. Entsprechend waren sie mit Recht beim Lehrkörper sehr verpönt. Zwicker bestellte, seinen Vortrag kurz unterbrechend, beide Schwätzer nach der Vorlesung in sein Zimmer und fügte hinzu, falls sie nicht kämen, wären sie im Staatsexamen – jedenfalls bei ihm – chancenlos, was immer sie auch wüssten oder könnten. Sicher sind die unaufmerksamen Studenten hinterher zu ihm geschlichen, denn Chirurg Zwicker ließ seinen Worten Taten folgen.

Wir mussten ungeachtet der Sommerhitze zur Prüfung im schwarzen Anzug erscheinen, die Damen im schwarzen Kostüm. Eine glaubte wohl, Professor Felix durch ihre sehr tief ausgeschnittene Bluse zu beeindrucken. Das war auch der Fall, allerdings auf sehr andere, ihr wohl unangenehme Weise. Felix: „Ach, Sie wollen in die Sommerfrische fahren. Dann fahren Sie doch und kommen erst im Herbst wieder“! Damit war sie bei ihm vorerst entlassen. Was aus einem neuen Prüfungstermin und weiter daraus geworden ist, hat sich nicht herumgesprochen. Heute würden Eltern vielleicht ihren Rechtsanwalt ansetzen, die Rechte des Studenten in der Prüfungsordnung zitieren und andere Anstrengungen unternehmen. Damals kam uns nicht einmal ein derartiger Gedanke. Übrigens waren sowohl Professor Zwicker als auch Felix aus Westberlin.

Wir vier aus unserer Prüfungsgruppe hatten Glück – auch das Glück des Tüchtigen, denn hineingekniet hatten wir uns ganz schön in die Materie. Alles ging gut und auch dieser Erfolg wurde gefeiert. Dieses Mal waren wir aufnahmefähiger und konnten schon den ersten Abend einigermaßen genießen.

1 Gesellschaft für Sport und Technik, die DDR-Organisation zur vormilitärischen Ausbildung

2 Kraatz war Schüler des noch bekannteren Arztes Walter Stoeckel, Universitätsfrauenklinik Berlin.

3 Wikipedia schreibt von mindestens 2 500 umgekommenen Ungarn. Damals wurden auch weit höhere Zahlen genannt.

4 Solche Beschränkungen gab es für Studenten schon vor der Errichtung der Mauer 1961, sie wurden aber von den Studenten nicht allgemein eingehalten.

5 Das ist der zusammenfassende Begriff für all diese Strahlenarten.

6 Der Islam – Ein Lesebuch, Seite 196. Becksche Reihe 479, herausgegeben von Maria Haarmann, Verlag C. H. Beck, München, 1992.

7 Professor Felix war Schüler des weltbekannten Chirurgen Ferdinand Sauerbruch, dessen fachliches Erbe er fortsetzte.

996,16 ₽
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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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472 стр. 5 иллюстраций
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9783938555286
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