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Hoffentlich klappt’s. Wenn nicht, hier ein Trost: Die Autoren beziehen sich auf einen Wechsel von einer Position in eine andere, ähnliche. Doch warum sollte es nicht möglich sein, eine neue berufliche Existenz für sich zu erfinden?

Tom Hillenbrand wollte schreiben. Nicht nur Nachrichten, wie während seiner Festanstellung, sondern Kolumnen, Essays und Bücher. Außerdem mag er gutes Essen, also kündigte er und schrieb einen Krimi, der in der Gastro-Szene spielt. Der Verlag will eine Serie daraus machen, bald gibt Hillenbrand das Manuskript für den zweiten Teil ab. Außerdem verdient er, indem er regelmäßig Vorträge hält – und er ist zufrieden.

Warum haben Ausbruch und Neuanfang bei Hillenbrand funktioniert? Eine wichtige Rolle habe für ihn gespielt, dass er nicht nur wusste, was er nicht mehr wollte, sondern auch, was er stattdessen wollte, sagt er. Außerdem passten bei ihm die Lebensumstände: Seine Frau arbeitet jetzt wieder in Vollzeit, er dafür seit der Kündigung nur in Teilzeit, sodass er den Sohn in die Kita bringen und dort abholen kann.

Der Sprung ins freie Schweben kann also klappen. Um Romantisierungen vorzubeugen, sollte man allerdings nicht gleich springen, sondern davor das kluge Buch Echtleben von Katja Kullmann lesen. Darin beschreibt die Autorin, wie die Leute, die sich einmal in kreativen Berufen selbst verwirklichen wollten, im Prekariat endeten. Die eigene Biografie sei ein hartes Geschäft, schreibt sie, und das einst freiwillige Vergnügen, sich selbst zu erfinden, zu einer Pflicht geworden.

Wer darauf gefasst ist, ist gut vorbereitet.

»Die Ruhe ist manchmal fast gespenstisch«

Tom Hillenbrand hat seinen stressigen Job gekündigt, um Krimis zu schreiben.

»Mehr als zehn Jahre lang habe ich als Nachrichtenjournalist in Festanstellungen gearbeitet, zuletzt war ich Ressortleiter bei Spiegel Online. Eigentlich war der Job toll, trotzdem habe ich Ende vergangenen Jahres gekündigt. Jetzt bin ich Schriftsteller, mein erster Krimi Teufelsfrucht ist im Frühjahr erschienen. Was mich an der Festanstellung gestört hat, waren die festen Strukturen: morgens Mails lesen, sich über die Nachrichtenlage informieren, in Konferenzen sitzen, Mitarbeiter instruieren. So kam ich oft erst nachmittags dazu, an eigenen Artikeln zu arbeiten. Wenn ich morgens auf dem Weg zur Arbeit eine Idee hatte, war die bis dahin wieder weg. Und auch dann klingelte ständig das Telefon – oder eines der anderen im Großraumbüro. Andere schreiben stoisch weiter, wenn um sie herum alles brodelt, aber ich bin nicht der Typ dafür. Ich möchte Kolumnen schreiben und schriftstellerische Texte, und für diese kreative Arbeit brauche ich Freiraum. Den habe ich mir durch die Kündigung verschafft. Jetzt bin ich als Autor komplett freischwebend. Den Tag verbringe ich meistens zu Hause mit Lesen und Schreiben. Dann schalte ich die Klingel der Haustür und das Telefon aus, die Ruhe ist manchmal fast gespenstisch. Und wenn mir mal nichts einfällt, gehe ich ins Schwimmbad. Letztens hatte ich danach alle Ideen für die nächsten zwei Kapitel. Da habe ich mich gefragt: War das jetzt Arbeit?«

Mehr zum Thema:

Katja Kullmann: »Echtleben«

Die Autorin beobachtet das Lebensgefühl der über 30-Jährigen, die Festanstellungen immer vermieden und sich alle Optionen offengehalten haben – und die sich nun oft in prekären Verhältnissen wiederfinden. Eichborn, 256 Seiten, 17,95 Euro

Arbeiten, bis der Arzt kommt
Burn-out wird zur Volkskrankheit, und noch nie gab es so viele Menschen, die sich wegen psychischer Probleme krankmeldeten. Warum bestimmt die Arbeit so sehr unser Leben, dass sie nach und nach die Seele auffrisst?

Von Kolja Rudzio und Wolfgang Uchatius

Das Wichtigste

Weltweit nimmt bei Erwerbstätigen die Zahl der seelischen Krankheiten zu. Das ist oft die Folge eines erhöhten Drucks. So arbeitet in Deutschland jeder zehnte Vollzeitbeschäftigte mehr als 60 Stunden in der Woche; viele leiden zudem unter ihren Chefs, intriganten Kollegen oder dem eigenen Perfektionismus. Wer dann noch seine sozialen Bindungen verliert, etwa den Kontakt zu Freunden, ist hochgradig gefährdet, an einem Burn-out zu erkranken.

Briefe bleiben ungeöffnet, Essensreste vergammeln – wer überlastet ist, erledigt nicht mal die einfachsten Dinge.

Für manche Immer-Erreichbare wird die neue Technik zum Fluch. Das Leben in ständiger Alarmbereitschaft macht sie krank.

Am einfachsten wäre es, sich die Deutschen als ein Volk von Wehleidern vorzustellen. Als Menschen, die gerne jammern und keinen Stress vertragen. Man müsste sich dann nicht groß Gedanken über die Arbeitswelt machen. Die Sache mit Carsten Becker* und dem Mann an der Stereoanlage wäre leicht zu erklären.

Am Anfang hatte Becker nur ein leichtes Rauschen in den Ohren, manchmal klang es fast beruhigend. Doch dann verwandelte es sich in ein Piepen, in einen Ton, der Carsten Becker morgens und abends, Tag und Nacht verfolgte und sich zu einem schrillen Pfeifen steigerte. Es war, sagt Becker, als sei da ein Mann neben ihm gewesen, der eine Stereoanlage aufdrehte, immer weiter und weiter, obwohl Becker längst »Aufhören!« schrie. Doch es gab keinen Mann. Keine Stereoanlage. Und nur Becker konnte den Ton hören.

Der 35-Jährige ging zum Arzt. Tinnitus lautete die Diagnose, Ohrgeräusch, typisches Überlastungssymptom, außerdem ein Hörsturz. Becker konnte einige Frequenzen nicht mehr wahrnehmen. Er bekam Infusionen mit Kortison. Sein Hörvermögen kehrte zurück, das Pfeifen wurde leiser.

Alles gut, dachte Becker und ging wieder in sein Büro in einer bayerischen Bank, in der er seit 19 Jahren arbeitet. Er betreut dort Firmenchefs, genauer: Geschäftsführer von mittelständischen Unternehmen mit mehreren Hundert Mitarbeitern. Mithilfe der Bank wollen sie Maschinen, Lastwagen, Immobilien dauerhaft mieten, statt sie zu kaufen. Leasen heißt das in Beckers Welt. Becker entwirft die Leasingverträge, kalkuliert die Raten, er muss gleichzeitig die Rendite erhöhen, die Konkurrenz ausstechen, die Kunden überzeugen. Halt’ ich schon aus, dachte er. Bis das Pfeifen in den Ohren zurückkehrte. Und Becker wieder Kortison bekam.

Dreimal wiederholte sich das. Dann sagte der Arzt: »Sie müssen jetzt mal an die Ursache ran.«

Der Arzt meinte Beckers Job. Der tägliche Stress mache ihn fertig. So wie Hunderttausende Bundesbürger, die jedes Jahr an ihrer Arbeit erkranken. Deren Körper und Seele sich gegen den Job zur Wehr setzen. Ein paar Wochen Urlaub helfen ihnen nicht mehr. Sie werden depressiv, sind chronisch erschöpft, ausgebrannt.

Eigentlich halten die Deutschen weit mehr aus als früher. In den siebziger und achtziger Jahren ließen sie sich doppelt so oft krankschreiben wie heute. Rückenleiden, Herzbeschwerden, Magenprobleme, das hält sie heute seltener vom Arbeiten ab. Nur die psychischen Erkrankungen haben zugenommen. Allein seit Anfang der Neunziger hat sich die Zahl der Fälle nach Angaben der Krankenkassen fast verdoppelt – von 5000000 im Jahr auf knapp eine Million.

Und das ausgerechnet in Deutschland. In einem Land, in dem der durchschnittliche Angestellte nach Erhebung des Statistischen Bundesamtes nur noch 30 Stunden in der Woche arbeitet. Dazu kommen 31 Tage Urlaub und, je nach Bundesland, 9 bis 13 Feiertage. Klingt ganz gemütlich.

Wie ist es möglich, so wenig zu arbeiten und dennoch so sehr darunter zu leiden? Verspüren die Deutschen einen kollektiven Phantomschmerz, oder gibt es eine andere Erklärung für dieses Missverhältnis?

Gibt es: Die Statistik ist falsch. Oder genauer: Sie führt in die Irre. Zwar arbeiten die Bundesbürger im Durchschnitt tatsächlich ziemlich wenig. Aber es ist eben nur ein Mittelwert. Früher war er ziemlich aussagekräftig. Damals arbeiteten fast alle Deutschen Vollzeit, und Vollzeit hieß 40 Stunden, jedenfalls ungefähr.

Heute ist das anders. Der Arbeitsmarkt hat sich geteilt. Auf der einen Seite gibt es Teilzeitarbeiter, geringfügig Beschäftigte und Minijobber, auf der anderen Viel- und Dauerarbeiter. So entsteht eine niedrige Durchschnittszahl, die nichts aussagt. Laut einer Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin arbeitet heute jeder zehnte Vollzeitbeschäftigte mehr als 60 Stunden in der Woche. Es sind Wochenendarbeiter, Überstundenklopper, Immer-Erreichbare. Es sind Leute, in deren Leben die Arbeit alles bestimmt.

Und manchmal tritt sie ihnen zu nahe.

Auf dem Papier hat der gelernte Bankkaufmann Carsten Becker keine besonders langen Arbeitszeiten. 39 Wochenstunden stehen im Tarifvertrag. Auf der Visitenkarte, die Becker seinen Kunden gibt, aber heißt es: »Beratungszeit: 8–20 Uhr«. Den Kunden ist es egal, wann er die 39 Stunden voll hat. Sie rufen auch am Wochenende auf Beckers Handy an. Geht er nicht ran, werden sie wütend. Manche hinterlassen ihm dann eine Drohung auf der Mailbox: »Wenn ich in den nächsten zehn Minuten keinen Rückruf kriege, können Sie den Vertrag vergessen.«

Becker muss sich dann dafür entschuldigen, dass er nicht erreichbar war. Er darf keinen Kunden verlieren. Jede Woche berichtet er seinem Vorgesetzten, wie sich das Geschäft entwickelt. Stimmen die Zahlen nicht, bekommt er Druck, und sie stimmen nur noch selten. Im Zuge der Wirtschaftskrise war das Leasinggeschäft eingebrochen. Die Bank baute Stellen ab. Ihr Geschäft nahm ab, aber Beckers Belastung zu. Gemeinsam mit einem Kollegen ist er für mehr als tausend Leasingverträge zuständig, jeden Tag schreibt er fünf oder sechs Vertragsangebote. Ein Fehler kann Zehntausende, manchmal sogar Hunderttausende Euro kosten. Carsten Becker macht keine Fehler. Dafür sieht er seine Frau und seine zwei Kinder fast nicht mehr.

Als sein direkter Kollege in der Leasingabteilung für drei Wochen in den Urlaub fährt, muss Becker auch dessen Arbeit übernehmen. Das Pfeifen in seinem Kopf ist wieder da, er kann nicht mehr schlafen. Es gibt Leasingverträge aus dieser Zeit, die seine Unterschrift tragen, obwohl er schwören könnte, sie nie gesehen zu haben: »Ich bin nur noch wie ein Roboter ins Büro gegangen.«

Kurz darauf erleidet der Roboter seinen vierten Hörsturz, ärgert sich über die Unterstellung des Arztes, er sei überlastet, und holt sich schließlich doch eine Überweisung für den Psychotherapeuten.

Carsten Becker geht jetzt nicht mehr ins Büro. Für sechs Wochen ist er in einer Klinik auf dem Land und überlegt, wie er es anstellen soll, künftig gesund zu bleiben.

Man kann sich einen durch Arbeit verursachten psychischen Kollaps wie einen Infarkt vorstellen. Nur dass es nicht das Herz ist, das das geforderte Tempo nicht mehr hält, sondern die Seele. Ebenso wie die Herzleiden haben sich die psychischen Gebrechen zu modernen Volkskrankheiten entwickelt. »In beiden Fällen ist es falsch, nach der einen entscheidenden Ursache zu suchen«, sagt der Psychiater Hans-Peter Unger, Chefarzt der Asklepios Klinik in Hamburg-Harburg. »Es gibt jedoch Risikofaktoren, die eine Erkrankung wahrscheinlicher machen.«

Beim Herzinfarkt sind das: Rauchen, schlechte Ernährung, Bewegungsmangel. Auch beim Burn-out, dieser Erschöpfungsdepression, oder dem Nervenzusammenbruch erhöhen naheliegende Dinge die Gefahr: ein diktatorischer Chef zum Beispiel, intrigante Kollegen oder ein Hang zum Perfektionismus. Phänomene also, die es schon immer gab, die nie verschwinden werden.

Darüber hinaus aber spiegelt die steigende Zahl seelischer Erkrankungen auch Veränderungen in der Arbeitswelt wider, nicht nur in Deutschland, sondern rund um die Welt. »Auch in Frankreich, Amerika und Japan nehmen die psychischen Erkrankungen von Erwerbstätigen zu, genauso wie in den aufstrebenden Wirtschaftsnationen Brasilien und China«, sagt der Düsseldorfer Medizinsoziologe Johannes Siegrist.

So wie die Nadel eines Barometers auf steigenden Luftdruck anspricht, so scheint die Krankenstatistik auf den wachsenden Wettbewerbsdruck zu reagieren.

Kurz vor Weihnachten fährt Michael Kampmann* mit seiner Frau in den Skiurlaub. Ischgl in Tirol, endlich ein paar Tage frei. Kampmann, 60 Jahre alt, studierter Elektroingenieur, ist Vertriebsleiter bei einem norddeutschen Unternehmen für Gebäudetechnik. Ein schlanker, sportlicher Mann, der korrekt und verbindlich auftritt, der sagt, sein Chef soll sich auf ihn verlassen können. Egal, wie er gerade heißt.

Vor zehn Jahren wurde Kampmanns Firma von einem amerikanischen Konzern übernommen und umgebaut. Aus Abteilungen wurden Business Units, aus dem distanzierten Sie ein scheinbar freundschaftliches Du. Neue Manager bezogen ihre Büros, nur um wenig später anderen Führungskräften Platz zu machen, die ihrerseits nicht lange blieben. Der Vertriebsleiter Kampmann war es gewohnt, viel zu arbeiten, aber im Hin und Her der wechselnden Chefs verschwand auch der letzte Unterschied zwischen Werktag und Wochenende.

Eine neue Verkaufsstatistik, ein PowerPoint-Vortrag, ein paar Hundert E-Mails beantworten – früher hatte Kampmann die Arbeit im Büro gelassen, jetzt folgte ihm sein Büro überallhin. »Jeder hier hat eine Vodafone-Karte und einen Laptop, mit dem er auf alle Daten und Programme der Firma zugreifen kann«, sagt Kampmann.

Arbeiten, auch von zu Hause aus: Einst hieß das Telearbeit und galt als besonders menschenfreundlich. Heute zeigt sich, dass Handys und Kleincomputer wie Freizeitzerkleinerer wirken. Sie schaffen noch in den hintersten Ecken des Lebens neuen Platz für die Arbeit. Bis man ihr nicht mehr entkommt. Nicht einmal auf der Skipiste.

Kampmann ist gerade aus dem Lift gestiegen, als sein Handy klingelt. Sein Chef ist dran, es gehe um einen wichtigen Vertrag mit einem Kunden. Der müsse jetzt ausgehandelt werden. Sofort. Damit der Jahresabschluss besser aussieht.

Kampmann entschuldigt sich bei seiner Frau, fährt ins Tal, setzt sich an den Rechner und verbringt dort in den nächsten Tagen Stunde um Stunde. Den Laptop auf dem Schoß, das Handy am Ohr, verhandelt er von seinem Hotelzimmer in Ischgl aus mit einem Geschäftspartner, der, ein paar Hundert Kilometer entfernt, seinerseits im Urlaub in einem Hotelzimmer sitzt. Am 22. Dezember um zehn Uhr abends schließen sie nach weiteren Diskussionen mit Rechtsabteilungen und Vorgesetzten den Vertrag ab. »Das war mein Urlaub«, sagt Kampmann.

Und das ist seine Krankengeschichte: Tinnitus, Hörsturz, Schlafstörungen, Ruhelosigkeit, Burn-out, schließlich Depression. Wann er wieder arbeiten kann, ist unklar.

Auch Michael Kampmann ist jetzt in medizinischer Behandlung. Auch er ist zum Umsatzbringer in einer neuen deutschen Wachstumsbranche geworden: den Burn-out-Kliniken, Seelenhospitälern und Psychosanatorien, den Lazaretten der Arbeitswelt, die seit mehreren Jahren starken Zulauf verzeichnen.

In der Helios-Klinik Bad Grönenbach im Allgäu zum Beispiel gehören leidende Angestellte wie Michael Kampmann inzwischen zur Kernzielgruppe. Inmitten bayerischer Berge, zwischen Kühen und Kirchturm, reden sie hier mit Psychologen, malen Bilder, singen im Chor und versuchen fünf, sechs Wochen lang, die Arbeit aus ihren Köpfen zu vertreiben. »Die meisten, die zu uns kommen, sind hoch qualifiziert, sicher angestellt und materiell gut versorgt«, sagt Jochen von Wahlert, der Ärztliche Direktor. Sie sind Ingenieure, Banker, Ärzte, Manager, Anwälte. Erfolgreiche Leute, die sich auf einmal fragen, warum sie sich das angetan haben: den Druck, den Stress, das entmutigende Gefühl, zu rennen und sich doch keinem Ziel zu nähern. Ja, warum eigentlich? Auf den ersten Blick eine naive Frage. Natürlich kann der Vertriebsleiter Michael Kampmann nicht einfach in Streik treten, wenn sein Chef ihn anruft. Dennoch verbirgt sich hinter dem Einsatz vieler erschöpfter Dauerarbeiter, die irgendwann zusammenbrechen, ein interessantes Phänomen. Sie haben finanziell längst ausgesorgt. Sie besitzen Autos, Häuser, Grundstücke, von denen frühere Generationen nur träumen konnten. Ans Aufhören oder auch nur ans Kürzertreten denken sie trotzdem nicht. Weil es ihnen bei der Arbeit längst nicht mehr ums Geld geht.

Arbeitsgesellschaft. Diesen Begriff verwenden Soziologen, um Länder wie Deutschland in einem Wort zu beschreiben. Es sind Länder, in denen Berufsbezeichnungen auf Grabsteinen und in Todesanzeigen stehen und Menschen, die sich neu kennenlernen, als Erstes nach dem Beruf ihres Gegenübers fragen. Länder also, in denen Arbeit nicht nur Geld bringt, sondern vor allem Status, Ansehen, soziale Anerkennung. In denen Arbeit großes Glück verheißt – bevor sie mitunter ziemlich unglücklich macht.

Noch vor 30, 40 Jahren war das anders. Auch damals war der Beruf ein Ursprung von Erfüllung und Ansehen – aber nicht der einzige. Nach Feierabend saßen Millionen am Stammtisch, trafen ihre Kegelbrüder, Parteifreunde, Sportskameraden oder die Kollegen vom Kirchenvorstand.

Heute aber verlieren Parteien und Gewerkschaften ihre Mitglieder, Kirchen und Sportvereine schrumpfen. Die Quellen, aus denen Menschen Anerkennung schöpfen, trocknen aus. Nur eine wächst und sprudelt: die Arbeit. Nie zuvor gingen in Deutschland so viele Leute einer Erwerbstätigkeit nach wie heute. Wenn aber zum Beispiel eine Abteilungsleiterin nur noch an ihre Arbeit denkt, dann mag das, ökonomisch gesehen, ein karrierefördernder Wettbewerbsvorteil sein. Aus medizinischer Sicht ist es ein Risikofaktor. »Soziale Bindungen wirken wie Protektoren«, sagt der Arzt Jochen von Wahlert. »Die Familie, die Freunde, die Gemeinschaft in einer Kirche, all das erhöht den Schutz vor seelischer Erkrankung.«

Es war dieser Schutz, der Christiane Schöss* am Ende fehlte.

Sie ist Ende 30 und leitet die IT-Abteilung in einem Verlag mit 500 Mitarbeitern. Für sie ein Traumjob. Sie verdient viel Geld, bekommt außerdem Boni, Sonderprämien, Dienstwagen und einen Tiefgaragenstellplatz. Sie darf sich Chief Information Officer, kurz CIO, nennen und findet, dass sich das gut anhört. Sie lebt in der Großstadt, ist alleinstehend, hat keine Kinder, aber das kann ja noch kommen, jetzt will sie erst einmal etwas leisten, und außerdem hat sie ja einen großen Freundeskreis. Der kleiner wird. Und kleiner.

Es fängt damit an, dass sie Verabredungen absagt. Kino? Squash? Ein Ausflug mit ihrem Patenkind? Ein andermal. Zuerst sucht sie nach Entschuldigungen, später wird sie gar nicht mehr gefragt. Irgendwann trifft sie nach dem Büro eine Freundin auf einen schnellen Kaffee, als diese plötzlich schimpft: »Sag mal, du redest ja nur noch über deine Arbeit. Du hast überhaupt nichts anderes mehr im Kopf!«

Da, sagt Christiane Schöss, habe sie erstmals gemerkt, wie sehr sie alles andere im Leben beiseitegeschoben hatte. Einen Moment lang ist sie geschockt. Dann, wie aus Trotz, vertieft sie sich noch mehr in ihren Job. Gibt ja allen Grund dazu – neue Projekte, die Finanzkrise. Außerdem liebt sie ihre Arbeit. Irgendwann aber liebt ihre Arbeit sie nicht mehr. Die Geschäftsführung gibt ihr immer neue Aufträge, macht Druck, mäkelt an ihr herum. Ihr ist, als sei sie verlassen worden. Christiane Schöss ist immer noch CIO, aber sie hat nicht mehr das Gefühl, es geschafft zu haben. Es kommt ihr vor, als sei sie gescheitert.

Wenn sie jetzt abends nach Hause kommt, hat sie nicht einmal mehr die Kraft, die Waschmaschine anzuschalten. Sie fängt an zu weinen – wegen nichts. Kriegt Wutanfälle – wegen Kleinigkeiten. Nach einem Urlaub, der nicht hilft, geht sie zum Arzt. Die Diagnose: Erschöpfungsdepression. Nach Ansicht des Medizinsoziologen Johannes Siegrist ein klassischer Fall: »Erwerbstätige, die für ihren starken Einsatz nicht die nötige Wertschätzung bekommen, sind besonders gefährdet, vor allem wenn ihr Beruf die einzige Quelle persönlicher Anerkennung darstellt.«

Es gibt natürlich in der Arbeitsgesellschaft auch Ursachen seelischer Erkrankungen, die nichts mit dem Beruf zu tun haben, sie mögen in der Familie gründen, der Kindheit, einer missglückten Ehe. Und doch fällt auf, dass die Zunahme der psychischen Zusammenbrüche in eine Zeit fällt, in der den meisten Menschen in den Industrieländern, zumindest theoretisch, eine große Zukunft offensteht.

Egal, ob Männer oder Frauen, ob Arbeiter- oder Akademikerkinder: Sie können ihr eigenes Leben führen. Sie können studieren, Karriere machen, Kinder kriegen oder es bleiben lassen. Es liegt an ihnen, und das ist das Problem. Der französische Soziologe Alain Ehrenberg hat es vor wenigen Jahren in seinem Buch Das erschöpfte Selbst beschrieben: Wo alles erreichbar, alles möglich scheint, steigen die Ansprüche. Dafür sinkt die Zahl akzeptabler Entschuldigungen. Am Ende liegt das Scheitern nur am eigenen Ich. Wenn aber jeder für sich selbst verantwortlich ist, dann muss auch jeder selbst die Last des Erfolgszwangs tragen. Und manche brechen darunter zusammen.

An wenigen Orten zeigt sich das so deutlich wie an den Universitäten. Dort, in Göttingen zum Beispiel, nicht weit von den Uni-Cafés und Studentenkantinen, steht, leicht zurückgesetzt, ein mittelgroßes weißes Gebäude, ein Zweckbau, auffällig nur wegen eines silbernen Schildes an der Wand. »Psychotherapeutische Ambulanz für Studierende« steht darauf.

Hierher kommen Studenten, die mit dem Leben hadern oder den Glauben an sich selbst verlieren. Seit 45 Jahren gibt es die Beratungsstelle, aber erst seit wenigen Jahren beobachten die Therapeuten, dass ihnen vermehrt junge Leute gegenübersitzen, mit denen alles in Ordnung zu sein scheint. Sie sind selbstbewusst, haben Freunde, intakte Familien, ihre Köpfe sollten voll sein mit Plänen und Zukunftsfreude. Stattdessen ist da nur ein einziges Gefühl, erzeugt von neuen Prüfungsordnungen, Masterstudiengängen und vergeblichen Versuchen, den eigenen Lebenslauf zu optimieren. Sie sitzen da, die Studenten, in einem dieser kleinen Beratungszimmer, sind erst Anfang oder Mitte 20 und sagen schon jetzt nur diesen einen Satz: Ich kann nicht mehr.

*Namen von der Redaktion geändert

Tinnitus: Rund drei Millionen Deutsche leiden unter dem chronischen Klingeln im Ohr. Tinnitus kann mit psychischen Begleiterscheinungen wie Schlafstörungen, Angstzuständen oder Depression einhergehen. Eine allgemein anerkannte Therapie gibt es nicht. In Versuchen an Ratten konnten Wissenschaftler der University of Texas die Tiere heilen, indem sie bestimmte Nerven des Gehirns per Elektrostimulation reizten.

Phantomschmerz: Zwischen 50 und 80 Prozent der Patienten mit Amputationen haben diese Empfindungen: Ein fehlendes Körperteil fühlt sich so an, als sei es noch da. In zahlreichen Studien konnte nach dem Verlust eines Körperteils eine Veränderung von jenen Gehirnfunktionen festgestellt werden, die für die Verarbeitung von Schmerzempfindungen verantwortlich sind. Es existieren einige vielversprechende Therapieansätze, die die Gehirnfunktionen normalisieren sollen.

Volkskrankheit: So werden nicht epidemische Krankheiten bezeichnet, die aufgrund ihrer Verbreitung und ihrer wirtschaftlichen Auswirkungen sozial ins Gewicht fallen. Dazu zählen heute etwa die Folgeerkrankungen von Bewegungsmangel und Überernährung. Der Begriff wurde erstmals 1832 von dem Medizinhistoriker Justus Hecker verwandt. Er bezeichnete damit die im Mittelalter grassierende Tanzwut.

Protektoren: Das Wort stammt vom lateinischen »protector«, Angehöriger der Leibgarde. Bestimmte persönliche Umstände wie familiärer Rückhalt oder finanzielle Sicherheit können als Protektoren gegen psychische Erkrankungen wirken.

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9783844257168
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