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DAS EGO – WENN DAS ICH DAS SELBST VERGISST

Ego ist das lateinische Wort für „Ich“, aber wir werden es mit einer negativen Bedeutung verwenden, weil wir ein Wort brauchen für eine Fehlform des Ich. Auch im oft gebrauchten Wort „egoistisch“ ist Ego negativ belastet. Das „Ich“ wird zum Ego durch einen Prozess des Vergessens. Je mehr ich mein Selbst vergesse, das mich mit allen andren verbindet, desto einsamer und ganz auf mich allein gestellt muss ich mich fühlen. Mein „Ich-Selbst“ schrumpft mehr und mehr zum Ego zusammen, bis ich mein Selbst fast völlig vergessen habe. Ganz vergessen können wir es nie, aber darüber später mehr.

Im Europakloster spielen wir Mönche einmal im Monat nach dem Sonntagsgottesdienst für die Kinder Kasperltheater. Da kann es vorkommen, dass einer der Brüder mit einer Hand das Krokodil spielt, mit der andren die vom Krokodil bedrohte Prinzessin. Wenn wir uns in die Prinzessin hineindenken, wird es uns gewiss Zuversicht schenken, das zu wissen. Wir werden zwar Angst haben vor dem Krokodil, werden aber dem Puppenspieler vertrauen, der uns beide spielt. Aber eine Puppe, die den Puppenspieler vergisst, muss sich als eine leere Haut fühlen, umgeben von unzähligen andren, von denen einige alles andre als freundlich zu sein scheinen. Sie wird also Angst bekommen. Wenn wir vergessen, dass das eine Selbst uns innerlich verbindet, ist Angst fast unvermeidlich. Das Ego sträubt sich voller Furcht* gegen diese Angst*. Furcht aber ist die Ursache für alles, was im Welttheater schiefgeht.

Furcht macht das Ego aggressiv. Dann sucht es Sicherheit, indem es Macht über andre zu erlangen sucht; danach strebt, sich über alle andren hochzuarbeiten, andre zu unterdrücken und sie auszunutzen. Auch wird das Ego ein Gefühl des Mangels nicht los. Aus Furcht, dass nicht genug für alle da ist, wird das Ego gierig, geizig und neidisch. Es hat seine Einbettung in ein größeres Ganzes verloren und ist zum Mittelpunkt geworden, um den sich nun all sein Denken und Streben dreht. Es verstrickt sich immer mehr in eine von Furcht getriebene Gesellschaft, in der Ego auf Ego prallt, eine Gesellschaft – leider unsre eigene! – gekennzeichnet durch Machthunger, Gewalttätigkeit, Gier und Ausbeutung, und all das aus Furcht!

Wie kann das Ego aus dieser Verirrung und Verstrickung heimfinden in die rechte Beziehung zum Selbst? Die Antwort liegt auf der Hand: Aus Vergesslichkeit und Furcht hat es sich verirrt, durch das Gegenteil – also durch Achtsamkeit* und Vertrauen* – kann es den Heimweg finden. Auch das zum Ego gewordene Ich kann ja das Selbst nie ganz vergessen. Es kann also umkehren und heimkehren. Im innersten Herzen des Egos schläft sie nur, die Erinnerung an das Selbst.

Wir können zusammenfassen: Das Ego ist nichts andres als das Ich, aber ein krankes Ich, zusammengeschrumpft, weil es sein weites, allumfassendes Selbst aus dem Bewusstsein verloren hat. Daher hat es auch seine Verbundenheit mit allen andren vergessen und alle echten Beziehungen verloren. Nur durch Beziehungen aber finden wir Sinn* und Orientierung im Leben. Und alle Beziehungen beginnen mit der Beziehung zum Du.

IMMER DU – DENN ALLES LEBEN IST BEZIEHUNG

Die Erkenntnis, dass ich von Anfang an in ein Beziehungsnetz eingebettet bin, bereitet mich auf eine wichtige Einsicht vor: Schon das Wort „Ich“ drückt Beziehung* aus. Es wäre sinnlos, „Ich“ zu sagen, wenn ich dadurch nicht von einem Du unterschieden und zugleich auf dieses Du bezogen wäre. In meiner Umwelt begegnen mir andre, jeder das einzige Ich für sich selbst, jeder ein andres Du für mich. Da draußen begegnet mir unzählige Male ein mir noch unbekanntes kleines Du, in meinem Inneren erlebe ich jedoch darüber hinaus ein einziges, mir von Anfang an bekanntes großes Du – nicht zusätzlich zu all den kleinen Formen des Du, sondern irgendwie sie alle umfassend. Leidenschaft für ein menschliches Du erweist ihre Echtheit und Tiefe dadurch, dass sie zugleich – nicht zusätzlich! – auf das große Du gerichtet ist. Das gilt auch vom leidenschaftlichsten Liebesgedicht des Dichters Rainer Maria Rilke (1875–1926):

Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn,

wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören,

und ohne Füße kann ich zu dir gehen,

und ohne Mund noch kann ich dich beschwören.

Brich mir die Arme ab, ich fasse dich

mit meinem Herzen wie mit einer Hand,

halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen,

und wirfst du in mein Hirn den Brand,

so werd ich dich auf meinem Blute tragen.

Dass hier wirklich beide Du-Ebenen gemeint sind, beweist die Tatsache, dass Rilke diese Zeilen für Lou Andreas-Salome, die große Liebe seines Lebens, schrieb, sie aber kurz darauf in sein „Stundenbuch“ aufnahm – als Gebet.

Von Anfang an ist es dieses letztgültige Du, welches es mir möglich macht, im vollen Sinne „Ich“ zu sagen. Jede äußere Begegnung mit einem kleinen Du kann mein Verständnis des großen Du vertiefen und bereichern. Jedoch nur in Bezug auf dieses große Du hat es Vollgewicht, wenn ich sage: „Ich bin durch Dich so ich“ – „i am through you so i“. Das Wort stammt vom Dichter e. e. cummings (1894–1963), der darauf bestand, alles, auch seinen Namen, in Kleinbuchstaben zu schreiben.

Kann ich aber sicher sein, dass mein großes Du mehr ist als ein Sammelbegriff für alle meine kleinen Dus, mehr als nur ein verallgemeinertes Du? Steckt da wirklich mehr dahinter? Eine Beobachtung, die mir geholfen hat, das „Mehr“ meines inneren Du zu entdecken, ist folgende: Unser Lebenslauf wird uns nicht als eine unzusammenhängende Abfolge von Episoden bewusst, sondern als eine sich entfaltende Handlung, eine Geschichte, eben unsre Lebensgeschichte. Jede Geschichte will erzählt werden. Je näher ich einem lieben Menschen komme, desto mehr drängt es mich, ihm meine Lebensgeschichte zu erzählen. Aber hier stoße ich auf eine überraschende Tatsache: Ich kann diese Geschichte auch dem liebsten menschlichen Du nie vollkommen mitteilen. So sehr ich es auch versuche, am Ende fühle ich doch schmerzlich: Das Wichtigste scheint nicht ganz rübergekommen zu sein. Nur bei meinem inneren Ur-Du, das an jedem Schritt der Geschichte teilnimmt, während sie sich ereignet, ist das anders. Nur meinem großen Du kann ich meine Lebensgeschichte erzählen und fühlen, dass ich verstanden werde. Zu diesem Du spricht Rilke, wenn er sagt:

Ich geh doch immer auf dich zu

mit meinem ganzen Gehn;

denn wer bin ich und wer bist du,

wenn wir uns nicht verstehn?

Dieses Hingehen auf mein inneres Du ist meine Urbeziehung, auch wenn sie mir erst durch Nachdenken allmählich klarer bewusstwird. Sie schwingt mit, wann immer ich einem Du begegne. Anfangs mag dies kaum mehr sein als eine Ahnung, aber ich kann mir darüber Gedanken machen und einsehen, warum dies so sein muss: Mein Ur-Du ist das Herz des Geheimnisses*, das, wie Robert Frost sagte, in der Mitte sitzt, während wir rätselnd rundum im Kreis tanzen. Somit ist das große Du für uns alle ein und dasselbe. Diese schwerwiegende Einsicht können wir uns so tief zu eigen machen, dass sie unsre Haltung allen Mitmenschen gegenüber bestimmt, sie schwingt aber unterschwellig schon von Anfang an mit.

Nichts könnte wichtiger sein, als die Beziehung zu unsrem inneren Du zu pflegen. Lass nur ruhig die Zyniker behaupten, dein inneres Du sei nichts andres als eine Neuauflage der imaginären Spielkameraden, von denen Kinder oft fantasieren. Du kannst den Unterschied ganz klar erkennen: Das, was deine Fantasie erfindet, tut, was du willst. Das große Du aber, das dir in jedem kleinen Du begegnet, stellt Anforderungen an dich – wortlose, aber beachtliche Anforderungen. Es verlangt Aufrichtigkeit, Ehrfurcht, Treue …

Auf unser inneres Du zu hören ist von entscheidender Bedeutung – nicht nur für unsre eigene innere Klarheit und Festigung, sondern auch für das Wohlergehen der Gemeinschaften, denen wir angehören. Je hellhöriger wir werden für unser innerstes Du, desto inniger werden wir uns andren verbunden fühlen und bereit sein, mit ihnen zu teilen, weil ja unser persönliches Ur-Du zugleich das uns allen gemeinsame Ur-Du ist.

Je inniger wir gegenseitige Zugehörigkeit zu einem andren Menschen erleben – etwa in tiefer Freundschaft oder in einer ausgereiften Liebe –, umso spürbarer scheint dabei unser Gegenüber über sich selbst hinauszuwachsen. Unser geliebtes menschliches Gegenüber verkörpert für uns das große Du, und das wird für uns im Vollsinn des Wortes maßgebend. Es begeistert uns zu einer inneren Größe, die wir uns nie zugetraut hätten. Beide Partner in einer so tiefgreifenden Beziehung können das gegenseitig so erleben, weil sie den andren anblicken und zugleich das große Du sehen.

Freilich gibt ihnen die Liebe dabei ungewöhnlich klare Sicht. Diese lässt sich aber auch durch Übung erlernen. Je mehr wir lernen, im Jetzt* zu leben, umso leichter fällt es uns, im vorübergehenden Du das bleibende Du zu sehen. Wenn wir diese Haltung erlernen, werden wir nicht nur in den uns Nahestehenden, sondern in allen Mitmenschen bewusst dem uns allen gemeinsamen Du begegnen, und das wird – darin liegt das Entscheidende – unsre Haltung allen andren gegenüber prägen. Es wird uns selbstverständlich werden, einfach durch unsre Lebensweise „Ja“ zu sagen zu diesem Zusammengehören im großen Du. Das aber ist gelebte Liebe.

Das Bewusstsein der Gemeinsamkeit ist bei einer Ich-Du-Begegnung meist viel deutlicher als bei einer Ich-Es-Begegnung. Aber unser Dichter begegnet dem großen Du, auf das er immer zugeht, auch in Dingen – und zweifellos auch in Tieren und Pflanzen. Daher sagt er im selben Gedicht, in welchem er vom Auf-Gott-Zugehen spricht:

Ich finde dich in allen diesen Dingen,

denen ich gut und wie ein Bruder bin;

als Samen sonnst du dich in den geringen,

und in den großen gibst du groß dich hin.

Es ist geradezu ein mystischer Blick, der hier den Dichter in allen Dingen das große Du erkennen lässt. Auch ein Mystiker aus der chassidischen Tradition des Judentums, Rabbi Yitzchak Berditchev, schaut alles mit diesem Blick an:

Wo ich auch gehe – Du!

Was ich auch sehe – Du!

Überall nur Du, immerdar Du. Du, Du, Du.

Wenn mir die Sonne scheint – Du!

Wenn alles in mir weint – Du!

Nur Du! Allezeit Du! Du, Du, Du.

Der Himmel nur Du! Die Erde nur Du!

Du oben! Du unten!

Wohin ich mich wende, so Anfang so Ende,

Nur Du, immerfort Du!

Aber verwischen wir hier nicht die Unterscheidung zwischen Menschen und Dingen? Nein. Diese Art, die Welt zu sehen, heilt den klaffenden Schnitt der Trennung zwischen zwei Welten – zwei Welten, die wir unterscheiden können, nicht aber trennen dürfen: Du-Welt und Es-Welt.

DAS ES – IN ALLEM DEN ZAUBER DES DASEINS ENTDECKEN

Wir können die Welt unter zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachten. In der Grammatik spricht man von der Perspektive der Zweiten Person und der Perspektive der Dritten Person. Ich werde sie mit Ferdinand Ebner (1882–1931) und Martin Buber (1878–1965) die Ich-Du-Perspektive und die Ich-Es-Perspektive nennen. Sie zeigen uns zwei verschiedene Ausblicke auf die eine Welt und entsprechen zwei verschiedenen Arten, mit ihr umzugehen. Wir alle kennen die typische Art und Weise, mit der Welt der Dinge unter der Ich-Es-Perspektive umzugehen. Man geht mit einer unpersönlichen Haltung an sie heran – ähnlich wie die Wissenschaft mit ihren Objekten umgeht und wie die Technologie sie für ihre Zwecke nutzt. In dieser Perspektive verstehen wir uns als Subjekte und die Dinge als Objekte, die wir kennenlernen können, indem wir sie in ihre Bestandteile zerlegen. Wir versuchen, Kontrolle über sie zu erlangen, sie zu manipulieren und für uns zweckdienlich zu machen. Wir sind es gewohnt, uns dem größten Teil unsrer Umwelt mit dieser unpersönlichen Haltung zu nähern.

Aber inmitten dieser Umwelt der Gegenstände gibt es die Mitwelt der Begegnungen. Im Gegensatz zur Ich-Es-Welt verlangt diese Ich-Du-Welt von uns einen andren, einen persönlichen Ansatz, einen Ansatz in der Perspektive der Zweiten Person. Hier geht es nicht um ein Handhaben und Nutzen von Gegenständen, sondern um Begegnung mit einem Gegenüber. Die Mitwelt werden wir nie kennenlernen, indem wir sie objektiv beobachten und analysieren, sondern nur, indem wir uns auf persönlicher Ebene mit ihr einlassen. Dies schließt bei allen Beziehungen zwischen Menschen Manipulation und Kontrolle aus und fordert stattdessen Ehrfurcht“ vor der Würde* des Gegenübers in seiner Einzigartigkeit.

Je mehr wir uns der Würde jedes menschlichen Gegenübers bewusstwerden, desto mehr werden wir auch die Würde von Dingen als Gegenüber entdecken. Aber das wird immer seltener. Wir erleben heute eine zweifache Katastrophe. Einerseits haben wir der Ich-Es-Perspektive erlaubt, alle unsre Ich-Du-Beziehungen zu überwuchern. Wozu das führt, werden wir im Abschnitt über „das System“ näher betrachten. Andrerseits haben wir die Ich-Du-Perspektive und die Ich-Es-Perspektive nicht nur unterschieden, sondern gewaltsam getrennt. Die Ganzheit der Welt zerfällt durch diese extreme Spaltung. Überall um uns herum wird dadurch die Natur zum Objekt und wir erdreisten uns, sie beliebig zu manipulieren.

Wer aber je in den Bergen gewandert ist, das Schweigen des Waldes erfahren hat oder auch nur einen Baum im Park als Freund hat, weiß, dass die Natur mehr ist als nur Objekt. Sie steht uns zugleich auch als Subjekt gegenüber. Martin Buber beschreibt dies am Beispiel eines Baumes, den er nicht als Gegenstand, sondern als Gegenüber zu sehen beginnt.

Ich betrachte einen Baum. Ich kann ihn als Bild aufnehmen … Ich kann ihn als Bewegung verspüren … Ich kann ihn einer Gattung einreihen und als Exemplar beobachten … als Ausdruck der Gesetze, nach denen die Stoffe sich mischen und entmischen. Ich kann ihn … zum reinen Zahlenverhältnis verflüchtigen … In all dem bleibt der Baum mein Gegenstand …

Es kann aber auch geschehen, durch Entscheidung und Geschenk zugleich, dass ich, den Baum betrachtend, in die Beziehung zu ihm eingefasst werde, und nun ist er kein Es mehr … Er hat mit mir zu schaffen, wie ich mit ihm – nur anders … Beziehung ist Gegenseitigkeit. So hätte er denn ein Bewusstsein, der Baum, dem unsern ähnlich? Ich erfahre es nicht … Mir begegnet keine Seele des Baums und keine Dryade (ein Baumgeist), sondern er selber.

Was hat sich hier ereignet? Hat der Philosoph Martin Buber einfach sein eigenes Bewusstsein auf diesen Baum projiziert und ihn so personifiziert? Auf die Frage nach dem Bewusstsein des Baumes antwortet Buber bescheiden: „Ich erfahre es nicht.“ Es geht gar nicht darum, was der Baum erfährt oder nicht erfährt: Es geht darum, was wir erfahren. Uns wird das Einbezogenwerden in eine Beziehung bewusst. Beziehung ist Gegenseitigkeit. Bei dieser Gegenseitigkeit spielt aber mehr mit als dieser einzelne Baum, so wie bei der Begegnung mit einem Menschen mehr mitspielt als dieses einzelne Du. So wie mir in dem Du eines andren das Ur-Du begegnet, so in der Gegenseitigkeit mit dem Es eines Baumes das Ur-Es, dem wir schon in dem Satz „Es gibt mich“ begegnet sind – jenes Es, das alles gibt, „was es gibt“. Diese Erfahrung kommt, wie Buber sagt, „durch Entscheidung und Geschenk zugleich“ zustande. Beides ist nötig: dass wir uns entscheiden, willig unser Herz dieser Erfahrung zu öffnen, und dass wir sie als Geschenk empfangen. „Alles ist Gnade“, sagt Augustinus, alles ist Geschenk des Lebens. Und das Leben ist die abenteuerliche Geschichte unsrer Begegnungen mit dem Geheimnis, von dem wir bisher nur von Robert Frost gehört haben, dass es in der Mitte des kosmischen Reigentanzes „sitzt“ und „weiß“. Unsre Beziehung zum großen Geheimnis können wir nicht nur als Beziehung zum Ur-Du erleben, sondern auch zum Ur-Es.

Begegnungen, wie Buber sie mit dem Baum erlebte, können wir nicht selten mit Tieren erleben. Wer jemals einem Hund oder einer Katze tief in die Augen geschaut hat, weiß dies. Manchmal wird uns sogar eine tiefere Beziehung zu Pflanzen bewusst – wie eben Buber zu seinem Baum. Wenn uns eine solche Begegnung geschenkt wird, heilt dadurch eine abgerissene Verbindung. Die Unterscheidung* zwischen der Ich-Du- und der Ich-Es-Welt wird nicht aufgehoben, aber die gewaltsame Trennung* zwischen den beiden Beziehungswelten beginnt zu heilen. In der ungebrochenen Welt, in der wir von da an leben dürfen, überschneiden sich die beiden Perspektiven und gehen allmählich ineinander über. Freilich dürfen wir nicht erwarten, dass wir ununterbrochen eine wache Ich-Du-Haltung zu Tieren, Pflanzen und Dingen beibehalten können. Das gelingt uns ja auch Mitmenschen gegenüber nicht ununterbrochen. Aber wir können immer wieder zur rechten Beziehung zurückfinden und so zur Heilung der klaffenden Wunde beitragen, die wir unsrer Umwelt zugefügt haben, weil wir sie nicht zugleich auch als Mitwelt behandelt haben.

Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert

Stellen ist es noch Ursprung. Ein Spielen von reinen

Kräften, die keiner berührt, der nicht kniet und bewundert.

Worte gehen noch zart am Unsäglichen aus …

und die Musik, immer neu, aus den bebendsten Steinen,

baut im unbrauchbaren Raum ihr vergöttlichtes Haus.

Um den ursprünglichen Zauber des Daseins, von dem Rilke hier spricht, wieder zu erfahren, müssen wir lernen, in unsren Ich-Es-Beziehungen nicht weniger als in unsren Ich-Du-Beziehungen das große Geheimnis zu erahnen und uns ihm „kniend“ – das heißt in Ehrfurcht und Staunen – zu nahen.

DAS SYSTEM – DIE MACHT, DIE LEBEN ZERSTÖRT

Das Gegenteil von ehrfürchtigem Umgang mit dem Es sehen wir heute, wo wir nur hinschauen. Die Ich-Es-Welt überwuchert in allen Bereichen die Ich-Du-Welt und gewinnt die Übermacht. Menschen werden heute immer weitgehender wie Dinge kontrolliert, manipuliert und ausgebeutet, ja als Ware verkauft.

Aldous Huxley beschwor schon 1932 ein Schreckgespenst dieser Art von Welt herauf. In seinem Zukunftsroman „Brave New World“, der auf Deutsch erstmals unter dem Titel „Welt – Wohin?“ erschien, ist Menschenwürde* genau das Gegenteil von dem, was die herrschende Gesellschaft – Weltstaat nennt Huxley sie – anerkennt. Ihre höchsten Werte sind kaltes Wissen, streng reglementiertes Verhalten und Effizienz der Produktion. Um den Kindern, die in einer Brutstätte durch selektives Klonen hergestellt werden, diese Werte so früh wie möglich einzuprägen, werden sie in einem Konditionierungszentrum aufgezogen, wo Eigenständigkeit, Gefühlsleben und jede herzliche persönliche Beziehung ausgemerzt werden. Die einzige Figur des Romans, die sich darüber empört und sich weigert, ein Zahnrad in diesem Mechanismus zu werden, flieht in die Einsamkeit, wird aber von Horden neugieriger Touristen entdeckt und von Hubschraubern aus beobachtet. Am Ende erhängt sich John aus Verzweiflung über eine Gesellschaft, in der Menschen wie Maschinen funktionieren sollen. Huxley scheint eine Vorahnung gehabt zu haben von jener Zerstörung der Ich-Du-Welt durch die Ich-Es-Welt, welche sich in unsren Tagen in schrecklichen Ausmaßen verwirklicht.

Welche Kraft treibt eigentlich diesen Verfallsprozess der Gesellschaft voran? Die Umgangssprache nennt diese lebenszerstörende Macht das „System“. Unzählige begeisterte junge Lehrer, Medizinstudenten und politische Kandidaten mit hohen Idealen kennen die Erbarmungslosigkeit des „Systems“ nur allzu gut. Täglich müssen sie sich damit herumschlagen, müssen ihre Lebendigkeit und ihren Idealismus gegen den aufreibenden Druck des „Systems“ verteidigen. Dabei ist es gar nicht so eindeutig, was der Begriff „System“ in diesem Zusammenhang bedeutet. Hier heißt es vorsichtig sein. Wir dürfen das „System“ auf keinen Fall mit dem pädagogischen, medizinischen, politischen oder ähnlichen Systemen gleichsetzen. Alle diese Systeme können ja das Leben verbessern, wenn sie gut funktionieren. Sie werden nur dann schädlich, wenn das „System“ sich ihrer bemächtigt und sie vergiftet. Ist es nicht erstaunlich, wie blind wir sind für diese Unterscheidung zwischen den verschiedenen Systemen und dem „System“ im engeren Sinn, das sie befällt? Wir verwechseln hier den Patienten mit der Krankheit – ein erkranktes System mit dem „System“, das es zerstört. Dieses Missverständnis heißt es unbedingt zu vermeiden, da es unsre Handlungen fehlleiten muss. Wir dürfen doch nicht das kranke System beschuldigen und angreifen, sondern müssen versuchen, es von dem „System“ zu befreien, das es krankmacht.

Wir wollen aufmerksam unterscheiden. System im allgemeinen Sinne des Wortes bedeutet einfach „Struktur“ – das ist die wörtliche Übersetzung des griechischen sústēma = strukturierter Aufbau von etwas mit verschiedenen Teilen, Funktionen oder gegenseitigen Beziehungen. In diesem allgemeinen Sinn kann ein System positive oder negative Auswirkungen haben. Mit diesem Begriff ist kein Werturteil verbunden. Aber das „System“ in unsrem besonderen Sinn bedeutet immer eine Struktur mit negativen Auswirkungen. „Man kann dem System nicht trauen“, das ist ein Grundsatz, den wir wohl alle schon oft gehört haben. Er warnt vor der Gefahr, sich mit dem „System“ anzufreunden. Weil wir aber meist nicht zwischen den beiden Bedeutungen des Wortes System unterscheiden, laufen wir immer wieder Gefahr, beispielsweise dem politischen System automatisch zu misstrauen, anstatt uns unsrer Verantwortung zu stellen, es zu verbessern und vor der Bedrohung durch das „System“ zu schützen. Aber was ist das „System“ eigentlich und was macht es so mächtig?

Der Definition des Begriffes „System“ gemäß muss es sich auch beim „System“ in der engeren Bedeutung um ein Organisationsprinzip handeln, das wollen wir zunächst einmal festhalten. Da es viele andre Systeme beeinflussen kann, ist es offensichtlich ein übergeordnetes Prinzip, das Struktur und Dynamik der untergeordneten Prinzipien verändert. Worin besteht nun diese Veränderung? Wo immer das „System“ Einfluss gewinnt, verwandelt es persönliche Beziehungen systematisch in unpersönliche. Aus Ich-Du-Beziehungen werden Ich-Es-Beziehungen – Menschen werden wie Dinge behandelt.

Wir dürfen uns also das „System“ als eine Art Regelsystem vorstellen, das sich in andre Systeme einschleichen und in ihnen positive Beziehungen ausschalten kann. Dies bewirkt wie der Weltstaat in Huxleys Roman, dass alle Ausdrucksformen persönlicher Zugehörigkeit und Wertschätzung sowohl in der Öffentlichkeit als auch im Privatleben von der Gesellschaft geächtet werden. Wie aber kann es zu einem Gebilde mit solchen Auswirkungen kommen? Huxley erzählt uns nicht, wie sein Weltstaat entstanden ist. Wir wollen aber wissen: Wie kann die Monstrosität, die wir das „System“ nennen, überhaupt entstehen und sich entwickeln?

Stellen wir uns vor, du lächelst dem Portier am Morgen aufmunternd zu, anstatt vorbeizurennen, ohne ihn zu beachten. Lächeln ist ansteckend. Er lächelt zurück und lächelt vielleicht auch andre an, die heute vorbeikommen. Am Abend könnte ein kleiner Widerschein deines Lächelns nicht nur alle erreicht haben, die an ihm vorbeigingen, sondern auch alle, die ihnen wiederum begegneten, und so weiter und so fort, vielleicht sogar in einem großen Bogen bis zurück zu dir. Das Freundlichkeitsniveau der ganzen Umgebung könnte sich um ein Weniges gehoben haben. Es wäre aber auch denkbar, dass du am Morgen dem Blick des Portiers ausweichst. Es geht dir zwar flüchtig durch den Kopf, dass er ein Lächeln erhoffen könnte, aber heute ist dir das egal. Der gute Mann ist wirklich etwas enttäuscht und bevor der Tag zu Ende geht, hat dein kleines Versäumnis durch seine schlechte Laune unzählige andre ähnliche Versäumnisse bei ihm ausgelöst und Kälte verbreitet. Nicht nur das, sondern diese Kaltfront breitet sich immer weiter aus, obwohl es ja eigentlich nichts ist, was sich da ausbreitet, als ein Fehlen von etwas. Das aber kann Kreisprozesse katastrophaler Fehlleistungen nach sich ziehen. Wo etwas sein sollte – die Wärme menschlicher Beziehungen –, da klafft nun ein Loch. Das „System“ besteht aus nichts als solchen Löchern, die sich zu einer riesigen Beschädigung verbunden haben: Löcher und tief eingefahrene Verkehrsspuren im Straßennetz menschlicher Beziehungen.

Was aber gibt dem „System“ seine ungeheure Stoßkraft, wenn es letztlich „nichts“ ist, was sich da verbreitet? Weshalb hat es sich nicht längst erschöpft? Was hält es am Laufen? Es ist doch ein völlig unpersönliches Gebilde, wie kann es dann mit solcher Wucht Macht auf Personen und persönliche Beziehungen ausüben? Kann das bloße Fehlen von etwas sich als Wirkkraft erweisen? Beim Suchen nach einer Antwort auf diese Fragen kann es uns vielleicht helfen, an eine winzige, aber wichtige Schraube zu denken, die aus Versehen in einem Flugzeugmotor fehlt, was hunderten Menschen zum tödlichen Verhängnis werden kann. Ebenso kann das Fehlen von gegenseitiger Aufrichtigkeit und Vertrauen einer ganzen Gesellschaft zum Verhängnis werden.

Wie leicht können wir durch fehlende Aufmerksamkeit Gelegenheiten versäumen, die oben erwähnte Wärme menschlicher Beziehungen auszudrücken und weiterzuverbreiten. In diesem Nichts, wo etwas sein sollte, besteht unser persönlicher Beitrag zur unpersönlichen Gewalt* des „Systems“. Bei jeder Begegnung geht es ja um die Entscheidung, „ja“ oder „nein“ zu antworten auf die Einladung des Lebens, unser Gegenüber Zugehörigkeit und Wertschätzung fühlen zu lassen.

Leider ist es auch leicht, in die ausgefahrenen Verkehrsspuren des „Systems“ hineinzurutschen. Redewendungen drücken manchmal solche Furchen aus, die unvorsichtige Fahrer ins Schleudern bringen können. Korruptes Verhalten wird zur Erwartung und wir wiederholen vielleicht gedankenlos und mit zynischem Grinsen den Leitsatz „Vertrauen ist schon gut, aber Kontrolle ist besser“ und bemerken gar nicht, welche verheerende Wirkung ein solches Verfahren im Verkehr zwischen Menschen haben muss.

Solche Versäumnisse sind aber nicht die einzige Art und Weise, wie wir das unpersönliche „System“ mit persönlicher Energie versorgen. Es gibt immer einige, die – aus Egoismus und Kurzsichtigkeit – einen Vorteil darin sehen, Menschen wie Objekte für ihren eigenen Vorteil auszunutzen und dadurch aktiv dem „System“ einen Stützpunkt geben, von dem aus es sich ausbreiten kann. Was hier fehlt, ist jene Sicht auf das Ganze, die uns ein gesunder Sinn für gesellschaftlichen Zusammenhalt gibt. Dessen Fehlen ist äußerst gefährlich, denn auf lange Sicht zerstört eine Welt ohne gegenseitiges Vertrauen, Fürsorge und Liebe sich selbst.

Trotzdem gibt es neben diesen Wenigen, die vom „System“ profitieren, unzählige andre, die ganz offensichtlich unter dem „System“ leiden und es dennoch unterstützen, nämlich um sich dahinter zu verstecken. Sie machen das „System“ zum Sündenbock, anstatt sich dagegen aufzulehnen. Sind wir nicht alle ab und zu aus Faulheit versucht, es uns auf diese Weise bequem zu machen?

Was heißt das aber, sich gegen das „System“ aufzulehnen? Es verlangt zunächst von uns, wachsam Ausschau zu halten, die Auswirkungen des „Systems“ im öffentlichen Leben genau zu erkennen und etwas dagegen zu unternehmen – Petitionen, Proteste, Demonstrationen, Streiks, Boykotte. Dabei wollen wir immer bedenken, dass wir nicht dieses oder jenes System als solches anklagen, sondern seine Korruption durch das „System“. Wir greifen auch nicht die Reichen oder Mächtigen an, sondern verlangen ein Ende korrupten Handelns. Auch alle, die im „System“ Macht ausüben, sind ja letztlich seine Opfer. Obwohl sie davon profitieren, sehnen sie sich – bewusst oder unbewusst – danach, von ihrer Liebe zur Macht* befreit zu werden durch die Macht der Liebe.

Dies weist auf eine zweite Art und Weise hin, sich gegen das „System“ aufzulehnen. Sie ist nicht so weithin sichtbar wie die eben erwähnte, aber mindestens ebenso wichtig und besteht darin, für das gelebte „Ja“ zur Zugehörigkeit – also für die Liebe – Zeugnis abzulegen. Das „System“ enthält ja nichts als Lücken, in denen persönliche Beziehungen fehlen. Aber in der Welt fehlt es nicht an Zeugen der Liebe, die in ihrem Alltag ganz unauffällig diese Lücken immer wieder füllen. Unzählige Männer, Frauen und Kinder tun in aller Verborgenheit täglich das Wichtigste im Leben: Sie erweisen allen, denen sie begegnen, Freundlichkeit. Sie machen verzagten Menschen ihre Menschenwürde bewusst, einfach dadurch, dass diese fühlen dürfen: Jemand kümmert sich um mich!

Freundliches Lächeln allein kann es allerdings nicht schaffen. Widerstand gegen das „System“ verlangt taktisch gezielte Strategie und mutigen Einsatz. Und Freundlichkeit darf nie zur Strategie werden. Aber auch Strategie muss freundlich lächeln können, um ihr Ziel zu erreichen.

Das „System“ kann nicht lächeln. Es kümmert sich um keinen Menschen. Ihm ist alles egal. Wir haben es ja mit einer völlig unpersönlichen Machtstruktur zu tun, obwohl sie wie von einem irrsinnigen Machthaber gesteuert erscheinen mag. In seinem Wesen ist das „System“ uneingeschränkte Unpersönlichkeit – Inbegriff eines leeren Nichts mit mörderischer Macht. Wo es eindringt, zerstört es das Bewusstsein gegenseitiger Zugehörigkeit und die Anerkennung persönlicher Einzigartigkeit – die beiden Voraussetzungen von Menschenwürde. Sich gegen das „System“ aufzulehnen, heißt also – kurz und positiv auf eine Formel gebracht – für Menschenwürde einzutreten. Menschenwürde entspringt letztlich der Ehrfurcht vor dem Geheimnis.

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