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TIMM

Mit Ehrgeiz und Willenskraft schaffte Timm den ständigen Spagat zwischen Schule und Musik, zwischen Pflicht und Leidenschaft.

„Bist du sicher, dass du dir nicht zu viel zumutest?“, fragte sein Vater eines Abends beim gemeinsamen Essen, weniger besorgt, als fürsorglich.

„Ach, Papa. Es ist schon manchmal viel, aber es geht schon. Ich will das schaffen, und ich kann das schaffen.“

„Es wäre auch okay, wenn du noch ein Jahr länger zur Schule gingst.“

„Waas?“ Timm war empört. „Auf gar keinen Fall! Ich will so schnell da raus wie möglich. Ich habe schon so viele Jahre das Gefühl, dass ich da eigentlich nicht hingehöre.“

„Wie meinst du das?“, horchte seine Mutter auf.

„Ach weißt du, die meisten Leute in der Schule kennen nichts als Lernen, Sport, Freunde und Ausgehen. Das hat mich alles nie interessiert. Ich fühle mich manchmal wie ein Alien.“

„Aber du hast doch auch Freunde und deine Petra!“, warf seine Mutter erschüttert ein.

„Ja, und das ist gut so. Ich sag ja nur, dass ich mit den anderen und deren Interessen wenig anfangen kann. Mit Mattes und DJ Frank hab ich mehr zu reden, als mit Jörg, den ich schon seit dem Kindergarten kenne.“

Timms Mutter wirkte traurig nach seinen ehrlichen Worten. Er fühlte sich mit einem Mal schlecht, weil er sie unnötig in Sorge versetzt hatte. Er hatte nicht darüber nachgedacht, dass sich seine Aussage für eine Mutter fürchterlich anhören musste. Für ihn war es völlig normal, sich anders zu fühlen. Es machte ihm nichts mehr aus, denn er wusste ja, wohin er gehörte.

„Ach, Mama. Du musst dir keine Sorgen machen. Ich bin okay. Ich mache das, was ich liebe und kriege so viel Liebe zurück. Du kannst dir das nicht vorstellen, wie das ist, wenn die ganze Halle zu deiner Musik tanzt… Ich wollte, jeder könnte das erleben, das fühlen.“

„Wir sind wahrscheinlich zu alt für diese Art von Musik“, versuchte sein Vater sich zu erklären.

„Für mich wäre das nichts. Das ist mir alles viel zu laut und viel zu monoton“, legte auch seine Mutter nach.

Timm lachte laut und die bedrückte Stimmung löste sich augenblicklich auf.

„Willst du denn nach dem Abi nur noch Musik machen?“, fragte sein Vater vorsichtig. Timm spürte, dass er auf jeden Fall vermeiden wollte, Druck auf ihn auszuüben.

„Nein! Auf gar keinen Fall. Ich habe an Soziologie oder Psychologie gedacht.“

Natürlich entging Timm die Erleichterung seiner Eltern nicht.

„Wie kommst du gerade auf diese Fächer?“

„Nun. Irgendetwas fasziniert mich total an dem, was ich gerade erlebe und auf jedem Rave, auf jeder-Party sehe. Dieses Gruppengefühl, dieses Gefühl, eine große Familie zu sein. Ich würde gerne wissen, woher das kommt und warum man das nicht überall empfindet. Ich meine, ich glaube, eigentlich suchen alle danach, aber es lässt sich nicht überall finden. Warum nicht? Und wieso ist es dann plötzlich einfach da!“

Timms Eltern blickten sich staunend an. Es dauerte eine Weile, bis sein Vater die Sprache wiederfand. „Du weißt, dass wir dich immer unterstützen, Timmy.“

Jörg hatte Timm eingeladen, mal wieder bei ihm zu kickern, und obwohl Timm keine rechte Lust gehabt hatte, hatte er zugesagt – um der alten Zeiten willen. Jörg wirkte total aufgedreht und benahm sich irgendwie eigenartig. Er redete viel zu viel und haute Luftlöcher, statt den Ball zu treffen. Irgendwann hatte Timm genug von Jörgs eigenartigem Verhalten, und er sprach ihn direkt darauf an. „Sag mal, Jörg, was ist eigentlich mit dir los? Erst lädst du mich seit ewigen Zeiten mal wieder ein, dann rennst du herum wie ein aufgescheuchtes Huhn und triffst keinen Ball. Das macht echt keinen Spaß!“

„Sorry, Timmy. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Ich…, ich...“

„Raus mit der Sprache, sonst geh ich auf der Stelle.“

„Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht zwei Freikarten für deinen Samstags-Rave besorgen könntest?“

„Du lädst mich ein, weil du Karten von mir willst? Wir sind Freunde, Mann!“

Jörgs Blick wurde ernst und traurig. „Sind wir das noch, Timmy? Wir waren Freunde und haben echt viel geteilt. Aber jetzt? Jetzt gibt es für dich nur noch Musik und diese ganzen DJs, den Technostore, die Raves und Festivals… Alle kennen dich. Ich verstehe ja, dass ich für dich nicht mehr interessant bin.“

Timm setzte sich auf das durchgewetzte Sofa, das in Jörgs Kickergarage stand. Die Worte seines alten Freundes taten weh. Nicht, weil sie ungerecht waren, sondern, weil sie wahr waren. Das musste er erst einmal verdauen. Dass Jörg sich so fühlte, tat ihm unsagbar leid. „Mensch, Jörg, warum sagst du denn nichts?“

„Wann denn? Und warum denn? Wir können doch nichts daran ändern, dass wir nicht mehr dieselben sind. In deiner Liga kann ich einfach nicht mitspielen.“

„Das ist doch kompletter Schwachsinn! Petzi ist doch auch immer dabei. Du könntest jedes Wochenende mitfeiern.“

„Wie dein Groupie? Nein danke. Du stehst doch nur hinter diesem verdammten DJ-Pult und legst auf. Ich weiß gar nicht, wann ich dich das letzte Mal hab´ tanzen sehen.“

Timm schwieg traurig. Jörg hatte recht. Sie hatten sich auseinandergelebt. Konnte er diese Freundschaft noch reparieren? „Pass auf! Ich hab´ eine Idee. Wir gehen Freitag zusammen tanzen. Du und ich und sonst keiner. Ich zeig dir den neuesten Club in der Stadt, und wenn es dir gefällt, dann machen wir das öfter.“

So richtige Erleichterung wollte jedoch bei beiden alten Freunden nicht aufkommen. Irgendwie ahnten sie, dass Timms Welt nicht Jörgs Welt war, und dass es keinen Sinn hatte, zusammenbringen zu wollen, was nicht zusammen gehörte.

Vor dem Eingang des Tower Clubs im Bankenviertel traute Timm am Freitagabend seinen Augen kaum. Jörg trug einen viel zu engen Papieroverall und orangefarbene Gummistiefel. Dazu eine rosafarbene Sonnenbrille.

„Was ist das denn für ein schräges Outfit?“, fragte Timm gerade heraus.

„Hab ich mir extra gekauft. So was trägt man doch bei euch, oder?“

„Äh, ja, nein. Ach, ist doch egal. Jeder kann tragen, was er will.“

„Hör mal, wenn ich dir peinlich bin, dann lassen wir das.“

„Spinnst du, Jörg. Du bist mir doch nicht peinlich. Jetzt hör´ mit dieser blöden „ich spiele nicht in deiner Liga“-Nummer auf. Wir sind als Freunde hier, um Spaß zu haben. Verstanden?“

Jörg wirkte erleichtert, als er spürte, dass Timm meinte, was er sagte. „Also los, rein ins Getümmel.“

„Rein ins Getümmel.“

Der Türsteher in der 25. Etage des Bürogebäudes kannte Timm und winkte beide durch; nicht ohne Jörg einen geringschätzigen Blick zuzuwerfen. Timm entging der Blick nicht, und er spürte den dringenden Impuls, seinen Freund zu beschützen. „Komm, lass uns direkt tanzen.“ Timm zog Jörg am Papierärmel hinter sich her auf die Tanzfläche, hinaus aus der Schusslinie.

Die durchdringenden Technobeats trafen sie im ersten Moment wie elektrische Schläge, unsichtbaren Peitschen gleich, die körperlich weh taten, solange man sich nicht auf sie einstimmte, die aber die Kraft hatten, einen zu bewegen, wenn man begann, sie zu fühlen und gleichzeitig loszulassen.

Jörg stapfte steif wie ein Tanzbär von einem Fuß auf den anderen. „So wird das nie was“, dachte Timm. Also drängte er seinen Freund wieder durch die tanzende Menge in eine Ecke, die sie vor den Blicken anderer schützte. „Hier! Wir nehmen jetzt jeder eine.“

Die gelben Pillen sahen aus wie Brausebonbons. „Sind das Drogen, Timm?“

„Ja, das sind Drogen. Die nimmt hier jeder.“

„Du etwa auch?“

„Nur, wenn ich nicht auflege.“

„Ich weiß nicht...“

„Komm schon, die sind harmlos. Morgen hast du nicht einmal Kopfschmerzen. Du trinkst doch auch Alkohol.“

„Das ist doch was anderes.“

„Ist es nicht. Komm. Auf drei. Eins, zwei, drei...“

Sie schluckten beide die Pille und kämpften sich zurück auf die Tanzfläche. Es dauerte eine Weile, bis die Musik sie einfing und die Ecstasy zu wirken begann. Timm beobachtete sehr genau, wie Jörg von Minute zu Minute lockerer und freier wurde. Endlich fühlte auch Timm sich besser.

Binnen weniger Minuten begann er, die Musik auf ganz andere Weise wahrzunehmen. Er sah sie mit einem Mal mehr, als dass er sie fühlte. Sie erschien ihm wie Fäden aus Energie, die ein eigenartiges, vielfarbiges Netz auf die Tanzfläche warfen. Die Töne wirkten Laserpointern gleich, deren verschiedene Farben verschiedene Bewegungen erzeugten. Manche Töne kitzelten, manche schmerzten ein wenig. Doch vor allem fühlte Timm, dass sie ihn mit Energie aufluden; mit Energie, die ihn veränderte, die ihn dehnbarer und beweglicher machte und ihn aus der Enge seines kleinen Ichs befreite. Sein Körper bewegte sich schneller als eigentlich möglich. Die Wellen der Elektroklänge erfassten langsam auch Jörg. Er wirbelte gelenkig herum, statt wie zuvor tapsig von einem Bein auf das andere zu stapfen.

Sie tanzten die halbe Nacht, berauscht von den Klängen, der Wirkung der Pille und der tanzenden Menge, die sie umgab. „Wie ein Wesen“, dachte Timm immer wieder, und zum ersten Mal erinnerte er sich wieder an den Traum vom Fischschwarm, den er nach seiner ersten Ecstasy geträumt hatte. Für einen Moment wusste er heute nicht, ob er ein einzelner Fisch oder der ganze Schwarm war, oder etwas anderes, viel Größeres, Unsichtbares, das den Schwarm zusammenhielt und seinen wunderschönen Tanz dirigierte. Timm fühlte sich nicht nur anders, er nahm auch ganz anders wahr. Diese andere Wahrnehmung schien viel besser, viel richtiger, viel wahrer, als die gewohnte Art, die Dinge zu sehen.

Schon am nächsten Nachmittag legte Timm selber wieder in der Ravehalle im Casellahafen auf. Um vierzehn Uhr war die Halle nur halb voll, aber sie würde sich innerhalb der nächsten Stunde bis zum Bersten füllen. Timm spürte keine Müdigkeit, obwohl er erst um vier Uhr ins Bett gefallen war. Sein rechter Fuß schmerzte ein bisschen. Er musste beim Hüpfen umgeknickt sein. Und er hatte furchtbaren Durst und trank alle paar Minuten ein großes Glas Wasser. Sonst war er hellwach, sehr aufmerksam und vollkommen eins mit der Musik. Er wusste genau, welche Tracks er spielen würde, wie er die Übergänge gestalten und der Sound am Ende klingen würde.

Heute blickte er aus einer anderen Perspektive auf die tanzende Menge als gestern; nicht als ein integraler Teil, sondern als deren externer Beweger. Ja, so eigenartig dieses Wort wirkte, genauso fühlte es sich für ihn an. Er bewegte die Masse, den Fischschwarm, wie eine Marionette, die an elektronischen Klangfäden hing. Fast hatte Timm den Eindruck, als wüsste er genau, mit welchem Sound er welche Bewegung der Menge erzeugen konnte. Und mit einem Mal überkam ihn ein Gefühl der Macht. Er war mit der Musik, die er spielte, in der Lage, das Verhalten der ganzen Masse zu beeinflussen. Auch dieses Machtgefühl löste einen seltsamen Rausch in ihm aus. Anders als dem Rausch durch Ecstasy, Musik und Tanz, haftete diesem Machtrausch aber eine kaum wahrnehmbare, intuitive Warnung vor Gefahr an. Timms Brust schnürte sich für einen Nano-Augenblick zusammen. Doch das Machtgefühl war zu stark und zu gut, als dass ein vages Ziehen in der Brust ihn davon hätte abhalten können, es voll und ganz zuzulassen und zu genießen. Dies war sein Moment, dachte er, sein Lohn.

Vier Stunden später, Timm packte gerade seine Platten ein, tauchte Mattes neben ihm auf. „Hey, Mann. Das war großartig. So gut warst du noch nie.“

„Irgendwas war anders heute, ja.“

„Du hast den Leuten wirklich etwas gegeben.“

„Meinst du?“

„Mensch, Timm. Du weißt gar nicht, wie gut du bist. Die Leute haben alles vergessen, haben alles hinter sich gelassen, was vor der Tür auf sie wartet. Sie waren total im Jetzt, in der Musik. Das ist echte Magie. Das macht dir so schnell keiner nach.“

Jetzt, im Gespräch mit Mattes, erschien Timm das Gefühl der Macht, das er eben noch genossen hatte, wie eine Art Größenwahn. „Ich hab doch gar nichts gemacht.“

„Nichts gemacht? Du hast den Leuten Freiheit geschenkt, Glück, Lebensfreude. Das ist doch nicht nichts.“

5

MEERA

Zurück im Hotel verbrachte Meera den Rest des Nachmittags auf ihrer Zeltterrasse. Es wehte eine angenehme Brise vom Ozean herüber. Die Temperatur war einfach perfekt, gerade so, dass Meera im leichten Pareo weder fror noch schwitzte. Sie döste ein bisschen und schrieb dann einige Nachrichten mit Fotos, die sie unterwegs gemacht hatte, an ihre Mutter und zwei Freundinnen.

Abends im Restaurant setzte sie sich auf Einladung sogar zu dem australischen Pärchen, mit dem sie auf der Gewürzfarm beim Mittagessen ins Gespräch gekommen war, an den Tisch. Einerseits tat es ihr gut, weniger allein zu sein, andererseits brachte es sie schnell wieder aus dem gerade erst stabiler werdenden inneren Gleichgewicht. Meera beobachtete sich dabei, wie sie den angenehmen Smalltalk als oberflächlich bewertete und sich wünschte, Menschen zu begegnen, mit denen sie tiefgründige, wichtige Gespräche führen konnte, die sie und die anderen bewegten und weiterbrachten. Natürlich wusste Meera, dass diese Bewertung ungerecht und überheblich war, weil eine Urlaubsbekanntschaft eben eine Urlaubsbekanntschaft war. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Warum konnte sie nicht einfach zufrieden damit sein, dass ihr Menschen offen begegneten und sie herzlich zu sich an den Tisch einluden? Lag es nicht an ihr, was sie daraus machte? War nicht gerade diese Geste wertvoller als jedes tiefsinnige Gespräch? Wie viele dieser Gespräche hatte sie im Ashram mit Janaka, aber auch mit Freunden und Fremden geführt. Doch was hatten ihr diese Gespräche gebracht? Wie ehrlich waren sie gewesen? Waren nicht alle viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, Tiefgründigkeit zu suchen und auszudrücken, statt genau hinzuschauen, was hinter der spirituellen Fassade von Pavitra Nagar und Janaka geschah? Hatte nicht gerade die vermeintliche Tiefgründigkeit sie und alle anderen getäuscht und von den dunklen Schatten abgelenkt, die von Anfang an über Janakas Arbeit und seinem Verhalten gelegen hatten?

Meera wendete sich bewusst den beiden Australiern zu, die einige Jahre jünger sein mussten als sie. Sie war Grundschullehrerin. Er arbeitete an einer Universität. Die beiden waren intelligent und eloquent. Sie hatten viel zu erzählen. Meera bemerkte gar nicht, wie schnell die Zeit verging. Um zehn sah sie das erste Mal auf die Uhr, weil sie plötzlich wieder sehr, sehr müde wurde. „Was, schon zehn? Habt ihr gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist?“

Die beiden lachten. „Wir haben so viel gequatscht.“

„Ich muss ins Bett. Ich bin auf einmal total müde.“ Meeras Augenlider waren plötzlich bleischwer und ihr Rücken schmerzte.

„Du musst noch den Nachtisch probieren, Meera“, sagte Vicky, die Australierin. „Nilesh ist ein echter Patissier. Ich glaube, er hat sogar in Paris gearbeitet. Obwohl er sagt, dass er lieber kocht, als Süßspeisen zuzubereiten.“

„Wer ist Nilesh?“

„Nilesh ist der Chefkoch hier im Hotel. Er ist ein Genie!“

„Ja, das Essen ist wirklich hervorragend. Sehr fein und doch traditionell“, musste Meera zugeben.

Vicky sprang auf, zog Meera vom Stuhl und hinüber zum Ende des Buffets, wo die Desserts standen. „Du musst unbedingt das Khir probieren und das Kulfi-Eis.“

Meera liebte Khir und Kulfi. Zu besonderen Festtagen hatten sie beides im Ashram zubereitet. Und auch, wenn sie im Frühjahr in Indien waren, hatte es zu besonderen Anlässen den Milchreispudding mit Kardamon und Zimt und das typische indische Milcheis gegeben. Meera nahm je eine Portion und kehrte mit der begeisterten Vicky zurück an den Tisch zu Gregory.

Zuerst tauchte Meera ihren Löffel vorsichtig in das Khir und nahm nur eine Spitze voll, um zu probieren. Sofort breitete sich der süße Geschmack in ihrem Mund aus und löste tausend Erinnerungen aus. Vicky beobachtete sie neugierig und wartete auf ihre Reaktion. Meera kämpfte mit den Erinnerungen. Es waren einige der schönsten, die sie hatte. Sie waren wie Schätze, die man nur ganz selten aus der Schatztruhe holte, um sie andächtig zu betrachten.

„Und? Was sagst du?“ Vicky konnte Meeras Reaktion gar nicht abwarten.

„Wunderbar! Perfekt. Genau die richtige Cremigkeit, optimale Süße, nicht zu viel Kardamon, ein Hauch von Zimt und Safran und als i-Tüpfelchen eine winzige Prise Salz.“

Vicky freute sich über Meeras Expertise, als hätte sie das Dessert selbst gemacht. „Du kennst dich ja gut aus, Meera.“

Meera versuchte, von sich abzulenken. „Wusstet ihr, dass Khir schon seit über zweitausend Jahren zubereitet wird. Ursprünglich wurde es als Opfergabe für die Götter gekocht. Heute muss Khir bei jeder Hochzeit dabei sein, um das Brautpaar und die Ehe zu segnen. Es ist also sozusagen die indische Götterspeise.“

Die drei lachten.

„Jetzt das Kulfi-Eis.“ Vicky hatte noch nicht genug von der Dessert-Probe. Sie hing förmlich an Meeras Lippen und schien ein echter Fan von Nilesh zu sein. Meera probierte also das Kulfi-Eis am Stiel. Geschmacklich glich es dem Khir, und doch hatte das Eis noch andere Aromen: Rosenwasser und Pistazie. Die Konsistenz war wunderbar fest und kompakt, genau wie Kulfi sein musste. Die Zucker-Milch-Mischung wurde lange in einer Pfanne gekocht und gerührt, bis der Zucker in der Milch karamellisierte und zu einer puddingartigen Masse stockte. Erst dann wurde es in die typischen, konischen Metallförmchen gefüllt und eingefroren.

„Wunderbar. Keine Eiskristalle, feine Rosennote, die nicht seifig schmeckt. Besser kann man Kulfi nicht machen.“

„Wieso kennst du dich so gut aus, Meera?“

„Ich habe eine Zeit lang viel indisch gekocht. Auch in Indien. Damals habe ich all diese Dinge zubereitet. Es war eine sehr glückliche Zeit für mich. Ich liebe die indischen Gewürze und Speisen.“

„Warum hast du damit aufgehört, wenn du es so liebst?“, wollte Gregory wissen.

„Ich hätte sehr gerne weitergemacht, aber die Umstände haben es nicht erlaubt.“ Meera spürte selbst, dass man ihr die Enttäuschung noch immer deutlich anmerkte.

„Kochst du denn zu Hause indisch?“

„Nein. Das habe ich ganz aufgegeben.“

„Wie schade.“ Vicky wirkte traurig. Erst jetzt bemerkte Meera wie emotional und mitfühlend sie war, und ein Gefühl der Dankbarkeit erfasste sie.

„Vielleicht fange ich ja irgendwann wieder damit an...“, sagte sie wie zu sich selbst.

Viele Jahre hatte Meera ihre Liebe zum Kochen völlig verdrängt. Hier in Indien aber erinnerte sie täglich alles daran. Und mit der Erinnerung erwachte die Liebe wieder, wurde sogar stärker als jemals zuvor, weil sie nicht mehr verboten war und als unspirituell abgetan wurde. Vor allem aber, weil niemand versuchte, ihr ganzes Leben zu kontrollieren, und sie selbst nach und nach die Kontrolle zurückgewann. Endlich durften eigene Impulse wieder leben. Endlich gewann ihr Leben wieder an Bandbreite, an Möglichkeiten. Endlich durfte sie wieder neugierig sein und offen für neue Erfahrungen. Im Ashram war jeder Tag von morgens bis abends durchgetaktet gewesen und derselben Routine gefolgt. Sogar sonntags hatten alle von acht bis elf gearbeitet. Danach hatten sie sich in der großen Halle zum Satsang eingefunden. Das Wort Satsang stammte aus dem Sanskrit, wie die gesamte Terminologie, die Janaka benutzt hatte. Es bedeutete: Zusammensein mit der Wahrheit. Janaka hatte Meera einmal erklärt, dass ihn die Begegnung mit der indischen Spiritualität vollkommen durchdrungen habe und dass alle Worte, die er vorher für den spirituellen Weg, das spirituelle Leben und Bewusstsein gebraucht hatte, von da an keine Bedeutung mehr für ihn gehabt hätten. Er hätte damals, in seiner Zeit in Indien, erkannt, dass seine Seele indisch war, und dass er in Europa wiedergeboren worden wäre, um die tiefe, wahre indische Spiritualität dorthin zu tragen und jungen Menschen zugänglich zu machen.

Meera sah Janaka vor ihrem geistigen Auge auf seinem Podest in der Satsang-Halle sitzen und auf sie herabblicken. Entweder hatte er bei diesen Gelegenheiten zu einem Thema, das er für wichtig und aktuell hielt, referiert, oder er hatte Fragen zu spirituellen Themen seiner Anhänger beantwortet. So hatte er seine Ideologie verbreitet und den allgemeinen Ashram-Jargon geprägt. Jeder, der länger als zwei Wochen dort gewesen war, hatte Janakas Worte benutzt, um sich selbst und bestimmte innere oder äußere Phänomene und Prozesse zu beschreiben. Es hatte Meera oft erstaunt, wie schnell die neuen Besucher lernten und sich anpassten. Manchmal war es ihr so vorgekommen, als saugten sie alles im Schlaf in sich auf. Niemand hatte geahnt, in welch gefährliches Terrain er sich gewagt hatte. Keiner hatte gewusst, wie groß die Gefahr war, sich selbst zu verlieren, wenn ein anderer und seine Gruppe täglich daran arbeiteten, einen zu indoktrinieren. Die Menschen waren aus Zuneigung, aus Interesse und manchmal auch aus Leiden, einer inneren Suche, Sehnsucht oder Leere zu Janaka gekommen. Alle hatten ihm vertraut. Alle hatten seiner Gruppe vertraut und geglaubt, dass sie ausschließlich gute Absichten hatte, die sie in ein besseres, ein weiseres, ein freieres, ein erfüllteres Leben führen würden. Wie sehr hatten sie sich getäuscht. Wie sehr hatten sie sich täuschen lassen.

Die Küche lag einige Meter abseits vom Restaurant in einer Art Steinhütte mit großen Fenstern, die weit offen standen. Auf ihrem Weg zum Kochkurs hörte Meera am Samstagnachmittag leise Stimmen im Inneren und klopfte zaghaft an die Tür. Ein junger Inder, der vielleicht zwanzig war, öffnete ihr. Er trug ein blaues Kopftuch und eine passende Schürze über einem blütenweißen T-Shirt und einem Dhoti, einem leichten Baumwolltuch, das wie eine Hose gewickelt wurde. Der Junge lächelte, als er sie begrüßte und seine grün-braunen Augen funkelten und strahlten.

„Hello, Misses. Schön dass Sie da sind. Mein Name ist Bikram. Ich bin heute der Assistent von Chef Nilesh.“

Meera staunte. „Der Chefkoch selbst gibt den Kurs?“

Bikram wirkte amüsiert. „Chef Nilesh ist nicht wie ein Chef. Er zeigt den Gästen gerne, wie er kocht. Ein paar Geheimzutaten hier, ein paar Tricks dort.“

Meera konnte ihr Glück kaum fassen. „Wow, das ist ja toll.“

Sie sah sich im Inneren der Hütte um, die wie ein Hightech-Küche ausgestattet schien. Edelstahlarbeitsplatten, zwei Gasherde mit je sechs Brennern. Zwei Backöfen, mehrere Kühlschränke. Alles blitzte und blinkte, als wäre es gerade erst gewienert und poliert worden.

Ein Paar war bereist da und wartete darauf, dass es losging. Es klopfte wieder, und Bikram öffnete den beiden letzten Teilnehmern. Fast gleichzeitig betrat der Chefkoch die Küche durch die Hintertür. Er schleppte eine Holzkiste mit Gemüse, Obst und anderen Zutaten und rief fröhlich in die kleine Gruppe: „Hallo. Schön, dass ihr da seid.“ Dann stellte er die Kiste auf eine Arbeitsplatte, klopfte die Hände gegeneinander und sah jeden der Teilnehmer nacheinander an. „Ich bin Nilesh. Und bitte nennt mich auf keinen Fall Mister Mukherji, auf den Namen höre ich leider nicht.“

Alle lachten.

„Wir haben heute einiges vor. Ich hoffe, ihr habt Freude am Kochen mitgebracht!?“

Alle nickten begeistert.

„Also. Hier ist der Plan. Wir haben vier Stunden Zeit für zwei Vorspeisen, zwei Hauptspeisen mit Brot, Reis und zwei Desserts. Wenn unser Essen fertig ist, essen wir gemeinsam. Einverstanden?“

„Ist das nicht ein bisschen viel?“, fragte eine Mittfünfzigerin mit französischem Akzent, die sehr zaghaft wirkte.

Nilesh lachte. „Nein. Auf keinen Fall. Könnt ihr alle kochen, oder sind blutige Anfänger dabei?“

Die Französin oder Kanadierin meldete sich erneut. „Ich bin keine Anfängerin, aber ich koche sehr wenig.“

„Was isst du denn zu Hause?“, wollte Nilesh wissen.

„Naja. Ich arbeite viel. Ich esse in der Kantine, im Restaurant, hole mir etwas auf die Hand.“

„Haha. Dann bist du hier genau richtig. In Indien isst man am liebsten, was im eigenen Haushalt zubereitet wurde. Wer von euch hat schon einmal von den Dabbawalas in Mumbai gehört?“

Der Mann, der mit seiner Frau oder Freundin vor Meera gekommen war, kannte sich offenbar aus. „Sind das nicht die Lieferanten, die Blechdosen mit Essen bei den Leuten zu Hause abholen und durch die ganze Stadt tragen, um sie mittags zu den Arbeitnehmern in den Bürogebäuden oder Werkstätten zu bringen?“

„Genau. Die Dabbawalas liefern täglich ungefähr 200.000 Tiffins, die Henkelmänner, nach einem ausgeklügelten System in der ganzen Stadt aus. Niemand versteht so richtig wie das geht. Das ist ihr Geheimnis. Aber das Wichtigste ist, dass jeder, der möchte, sein Essen von zu Hause zur Arbeit geliefert bekommt. Täglich, pünktlich, absolut zuverlässig und warm. Ich glaube, wir Inder sind da nur mit den Italienern zu vergleichen. Es schmeckt einfach nur von unserer Mutter oder Frau.“

Meera staunte wie leicht Nilesh das Gefühl transportiert hatte, das beim Essen am wichtigsten war: Geborgenheit und Verbundenheit.

„Seid ihr bereit, so ein Essen zu kochen? Ein Essen, das sich nach Zuhause anfühlt? Ein Essen, das euch glücklich macht?“

Meera spürte die Neugier und Begeisterung, die Nilesh in ihnen allen geweckt hatte.

In der nächsten halben Stunde erklärte Chef Nilesh die vegetarischen Gerichte, die sie kochen würden: Pakoras, frittiertes Gemüse in Kichererbsenteig; Papaya Salat mit Chili; Paneer Korma, indischer Käse in einer Mandel-Kokoscreme; Dal Makhani, cremige, schwarze Linsen und rote Bohnen; Mangocreme und Gajar Halwa, Möhrenhalwa.

„Alle Rezepte, die ich heute mit euch teile, sind Familienrezepte. Meine Oma hat sie schon gekocht und meine Mutter. Jede Familie hat solche Rezepte, und ich kann euch versichern, dass sie in jeder Familie anders schmecken. Es sind Feinheiten, Nuancen, die einen himmelweiten Unterschied machen.“

Zuerst musste gehackt, gemahlen und geschnitten werden: Zwiebeln, Knoblauch, Tomaten, Okra, Auberginen, Blumenkohl, Koriander.

Während die meisten schnibbelten und frisch angebratene Gewürze mörserten, Reis wuschen und Mehl für das Naan, das indische Fladenbrot abwogen, kochte Nilesh einen Topf Milch auf, goss Zitrone hinein und rührte das dampfende Gebräu so lange, bis die Milch ausflockte und sich von der Molke trennte. Dann schüttete er alles durch ein Tuch und drückte die wässrige Molke so lange heraus, bis er einen festen Käse hatte, den Paneer. Jeder durfte den ziemlich neutral schmeckenden Käse probieren.

„Paneer ist unser vegetarischer Fleischersatz. Er wird meist gegrillt oder in Saucen als Curry gekocht. Der Käse selbst hat kaum Geschmack. Er gewinnt erst durch seine Zubereitung.“

Endlich stand das Mise en Place, und Nilesh teilte ohne zu fragen jedem Teilnehmer ein Gericht zu. Weil nur fünf Gäste hier waren, übernahm er selbst das einfachste, den Papaya Salat. Meera freute sich darüber, dass sie das Dal Makhani kochen durfte, ihr absolutes Lieblingsgericht.

Konzentriert gingen alle ans Werk. Nilesh erklärte jedem sehr genau, was er machen musste. Bikram kam immer wieder zur Hilfe, wenn Fragen oder Probleme auftauchten. Die Frau mit dem französischen Akzent, Colette, schien am unsichersten und brauchte die meiste Hilfe bei den Pakoras, dem geraspelten Gemüse, das sie zuerst in Kichererbsenmehlteig wälzen und dann in heißem Erdnussöl ausbacken musste. Nilesh und Bikram blieben geduldig und unterstützten sie.

Meera dagegen war vollkommen in ihrem Element. Sie las das Rezept einmal durch und begann dann mit dem Kochen. Gleichzeitig bereitete sie das Naan vor, das aus einem Hefeteig mit Joghurt und Olivenöl gemacht wurde, der mindestens eine Stunde gehen musste, bevor er in der Pfanne oder im Ofen ausgebacken wurde. Sie vergaß alles um sich herum, tauchte völlig ein in die Welt der Gewürze und wunderbaren Produkte, die Nilesh eingekauft hatte. Es war fast so wie früher, nur freier und leichter. Hier musste sie nicht perfekt funktionieren, wie in Janakas Ashram, wo von allen Mitgliedern stets Höchstleistungen erwartet wurden und perfekt nie gut genug gewesen war.

Nilesh kam ab und zu an ihren Kochplatz und sah, dass sie mehr als gut klar kam. „Wow, Meera. Man könnte meinen, du bist Köchin.“

Sie lachte fröhlich. „Ich habe mal in einer Küche geholfen, ja.“

„Geholfen?“ Nilesh lachte. „Du kochst wie ein Profi.“

„Ich liebe es einfach.“

Er sah sie neugierig an. In diesem Moment nahm sie Nilesh zum ersten Mal wirklich wahr. Seine feine Erscheinung, seinen Blick für das Wesentliche, seine Freundlichkeit und seine Attraktivität. Er trug das gleiche Outfit wie Bikram, war aber größer, schlanker und männlicher. Meera schätzte ihn auf Mitte dreißig. Doch irgendetwas an ihm wirkte älter, reifer, gelassener, als bei anderen Männern dieses Alters.

„Ich liebe es auch...“, sagte er nachdenklich und von ihren Worten offenbar tief berührt. Sie ahnte, dass hinter diesen vier Worten eine Geschichte mit Höhen und Tiefen, Freude und Leid stand. Ganz automatisch berührte sie ihn am Arm, um ihr Mitgefühl auszudrücken und ihm zu zeigen, dass sie wusste, dass das Leben auch leidvoll sein konnte. Sie standen einige Sekunden so da, bis Meera plötzlich das Gefühl hatte, dass das alles viel zu intim, viel zu vertraut war. Sie zog ihre Hand von seinem Arm und rührte in ihrem Kochtopf, um nicht stante pede davonzulaufen und sich lächerlich zu machen. Wenn Nilesh ihre Furcht spürte, ließ er es sich nicht anmerken. Er ging hinüber zum nächsten Kochschüler, widmete sich allen Fragen, assistierte und gab wie versprochen den ein oder anderen Geheimtipp preis.

Die Zeit raste, und drei Stunden später stand tatsächlich das gesamte Essen auf einem großen Tisch hinter der Küche. Sie deckten gemeinsam und unterhielten sich angeregt. Aus Fremden waren in der kurzen Zeit Bekannte geworden. Die gemeinsame Arbeit hatte sie verbunden.

Bikram brachte Getränke, Wasser, Softdrinks und Chai, den man zu den Nachspeisen trank und schon saßen alle an der großen Tafel und blickten erwartungsvoll auf ihren hervorragenden Lehrer, Chef Nilesh.

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