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3.

Die ältesten Lebewesen der Welt

EMELIE. WENN MICH jemand bei meinem Namen nennt, sollte ich eigentlich reagieren. Das Gegenteil ist der Fall. Vielleicht habe ich durch ein Nicken des Kopfes angezeigt, dass ich verstanden habe.

Vielleicht habe ich ein Ja gemurmelt. Vielleicht schaue ich mein Gegenüber so an, dass er oder sie denken muss, ich höre zu. Vielleicht laufen wir schon längst durch das Treppenhaus. Oder sitzen in Solveigs Wagen, auf dem Weg zum Busterminal. Das Wort Emelie hallt in meinem Kopf. Es übertönt alles.

So wie das Rauschen in meinen Ohren. Vielleicht kommt das vom Blutdruck. Oder den Medikamenten. Oder weil ich viel zu lange versucht hatte, wie eine Muschel zu leben.

Das Rauschen, das beständig in meinen Ohren tönt, erinnert mich an eine Geschichte, die mir meine Mutter einmal erzählt hat. Ich hatte ein Bild in der Zeitung gesehen. Es faszinierte mich gleich, und ich hatte mit den Händen darauf gezeigt. »Was ist das?«, fragte ich sie.

Die Fotografie zeigte eine Muschel. Ihre Haut war weißlich bis bräunlich mit dunkler, schwärzlicher Außenhaut und konzentrisch feinen Riefen. Die Schale war dick und rund. Vor der Mitte trug sie nach vorne weisende Wirbel.

»Das ist das älteste Lebewesen der Welt, Emelie. Eine Islandmuschel.«

Meine Mutter wollte früher einmal Meeresbiologin werden.

»Islandmuscheln leben dicht unter dem Meeresboden eingegraben. Du findest sie in etwa zwanzig bis vierhundert Metern Wassertiefe.«

»Wie alt werden sie?«

»Na, die hier ist fünfhundertsieben Jahre alt.«

Ungläubig sah ich sie an.

»Man kann das so genau feststellen«, beeilte sie sich zu erklären«, weil die Muschelschalen solche Jahreslinien oder Tageslinien bilden. Du kannst dir das als eine Art Kalender vorstellen. Diese Muschel hat eine biologische Uhr wie wir auch. Warum wachen wir morgens auf und warum werden wir abends müde? Bei der Islandmuschel ist der Auslöser für das jährliche Unterbrechen des Wachsens der Schale die Temperatur im Meer. Wenn sie am höchsten ist, hört die Muschel auf zu wachsen. Sie zählt die Tage nach dem Temperaturmaximum und gibt dann Eier und Spermien ins Wasser ab. Die Schalen der Muscheln verraten den Forschern alles.«

»Werden alle Muscheln so alt?«

»Nein. Nur ganz wenige. Die Fischer zerstören die meisten mit ihren Schleppnetzen. Aber ihre Schale kann Millionen Jahre alt werden.«

»Können wir nicht von der Muschel lernen und auch viele Jahrhunderte alt werden?«

Meine Mutter lachte. »Bloß nicht. Nein, so einfach ist das nicht. Die Islandmuschel«, erklärte sie mir, »nutzt das Atmen gleich zum Fressen. Sie hat Kiemen. Und aus dem Wasser, das da durchströmt, filtert sie ihre Nahrung. Manchmal graben sie sich tagelang in den Schlamm auf dem Meeresgrund ein. Dabei sinkt die Frequenz ihres Herzschlags auf ein Zehntel. Die Islandmuschel hat sogar einen Fuß, mit dem sie sich gern im Meeresboden verankert. Dann wartet sie. Oft Jahrzehnte oder Jahrhunderte. Das können wir nun mal nicht, Emelie.«

Später musste ich noch oft an dieses Gespräch denken. Ich stellte mir vor, dass diese Muschel, deren Bild in der Zeitung abgedruckt war, schon lebte, als Vasco da Gama 1499 den Seeweg nach Indien fand. Die Muschel hatte den Dreißigjährigen Krieg überlebt. Sie war ein Zeitgenosse Goethes. Sie blieb von den Wirren der Französischen Revolution verschont. Sie hatte zwei Weltkriege überstanden. Vielleicht war ihr Erfolgsrezept, dass sie einfach abtauchte, wenn man sich ihr näherte. In unregelmäßigen Abständen schloss sie ihre Schale und grub sich in den Untergrund. Irgendwann tauchte sie wieder auf. Und sah immer noch genauso aus wie vorher.

Das ließ mir keine Ruhe. Ich las alles über arctica islandica, was ich irgendwo finden konnte. Ich sehnte mich danach, ihre porzellanartige Schale zu berühren. Ich wollte sie unbedingt nur einmal sehen, das älteste höher entwickelte Lebewesen der Welt.

Ich erzählte der Biologielehrerin von meiner Entdeckung. Sie freute sich, dass ich mich für ihr Fachgebiet interessierte. Sie setzte sich nach dem Unterricht mit mir vor das Aquarium. Erst jetzt bemerkte ich, dass hinter den hohen Glaswänden nicht nur Fische schwammen. Im Sand waren auch Muscheln vergraben.

»Muscheln sind einfach überall«, erklärte sie mir. Je nach Standort liefern sie uns wichtige Informationen darüber, wie sich das Klima entwickelt. Sie zeichnen Vulkanausbrüche auf Island oder einen Hurrikan in Amerika auf. Stell dir vor, sie können uns sogar verraten, ob die frühen Indianervölker an der kanadischen Westküste Muscheln bei Vollmond oder Neumond gesammelt haben! Und bei Umweltverschmutzung wachsen ihre Schalen langsamer, denn Muscheln sind äußerst empfindlich.«

»Aber ist das nicht ziemlich langweilig? Das ganze Leben im Schlick zu verbringen, Wasser zu filtern und zu hoffen, dass einen kein Fischer fängt?«

»Tja, Emelie. Das ist genauso wie bei uns Menschen. Der erste Eindruck täuscht. Während die Muschel im Schlamm ist, vollbringt sie Unglaubliches.«

Meine Lehrerin fügte an dieser Stelle eine effektvolle Pause ein.

»Sie hat ihre Alterung aufgehalten. Wenn die Muschel ihre Schale schließt, bekommt sie keinen Sauerstoff mehr. Du kannst dir vorstellen, dass das für die meisten Tiere ein Todesurteil wäre. Für diese Muschel ist es eine Verjüngungskur. Denn die Islandmuschel kann ihren kompletten Stoffwechsel – du erinnerst dich an den Unterricht vor den Ferien? – umstellen. Und zwar so, dass sie ohne Sauerstoff auskommt.« Sie sah mich einen Augenblick nachdenklich an. »Was vielleicht noch ganz interessant ist, in dieser Phase kann auch nichts ihr Erbgut schädigen.«

»Da kann man ja neidisch werden.«

»Könnte man. Aber auch für Islandmuscheln ist das Leben nicht immer gerecht. Denn vor der Küste von Island können die Tiere durchaus mal zweihundert Jahre und älter werden. In der Ostsee dagegen wird kein Tier älter als vierzig. Daran siehst du, dass die Herkunft über das Schicksal der Muscheln entscheidet.«

»Das heißt, wenn man ganz alte Muscheln finden möchte, muss man nach Island.«

Meine Lehrerin lachte. »Vermutlich. Die Ostsee ist einfach ein noch junges Meer, in dem Salzgehalt und Temperatur schwanken. Für die Islandmuscheln bedeutet das Stress. Sie lieben aber die Geruhsamkeit.«

»Lebt die Muschel allein?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, sie lebt in Kolonien mit vielen tausend anderen Muscheln. Allerdings bleibt jede Muschel in der Masse für sich allein, zwischen ihre beiden Schalen geklemmt. Und sie pflanzt sich ungeschlechtlich fort.«

»Isst sie auch jeden Tag dasselbe?«

»Tagein, tagaus Zooplankton.«

Die Schulglocke klingelte. Ich war schon an der Tür, als ich mich noch einmal umdrehte. »Ist nicht unbedingt toll, so lange zu leben, oder?«

»Für uns Biologen schon, Emelie. In der Schale der Muschel lesen wir wie in einem Buch aus alten Zeiten.«

Ich las alles über arctica islandia. Ich versuchte, möglichst lange und überall zu schlafen, tief eingegraben in Kopfkissen und Bettdecken. Als könnte ich den Verlauf meiner Krankheit aufhalten. Viele Wochen lang versuchte ich, wie die Muschel zu leben. Zumindest das Rauschen in meinen Ohren konnte ich hören. Offenbar enthielt ihre Art zu existieren doch das Geheimnis ewiger Jugend. So erschien es mir jedenfalls.

»Emelie«, sagte meine Mutter eines Tages zu mir, »du solltest das lassen. Du bist nun mal keine Muschel.«

»Warum werden wir überhaupt älter?«, fragte ich sie.

»Es ist nun mal eine Tatsache, dass jedem physischen Organismus ein Ende gesetzt ist. Auch deine Muschel hat kein ewiges Leben. Es ist eine Tatsache, dass wir alt und krank werden und sterben. Und wenn man älter wird, bemerkt man, welche Probleme das mit sich bringt. All das Hässliche. Und wie man mit zunehmendem Alter immer teilnahmsloser und unsensibler wird. Vielleicht merkst du«, fügte meine Mutter an und lachte, »dass ich über Großmutter spreche. Das Alter wird zum Problem, wenn man nicht zu leben versteht. Vielleicht hat man auch nie richtig gelebt. Das drückt sich dann in unserem Gesicht, unserem Körper, in unserem Verhalten aus. Dazu kommt noch die Traurigkeit des Altwerdens, in der Erinnerung an all das Vergangene.« Sie hielt inne. »Vielleicht, Emelie, entdecken die Wissenschaftler ja eine Pille, die unser Leben noch um viele Jahrzehnte verlängert. Doch am Ende steht immer der Tod. Weißt du, wenn man das Leben nur als eine Flucht vor dem Tod versteht, ist es sinnlos. Es mag sich ja merkwürdig anhören, aber leben bedeutet eigentlich zu sterben. Jeden Tag in einem Zustand zu sein, in dem man bereit ist, alles hinter sich zu lassen.« Sie nahm mich in ihre Arme.

»Fürchtest du dich denn gar nicht vor dem Tod, Mama?«

Sie seufzte. »Das ist es ja gerade. Ich fürchte mich vor dem Unbekannten, das eintreten könnte. Ich fürchte mich davor, dass du mich verlassen könntest. So, wie dein Vater uns verlassen hat. Ich fürchte mich davor, die Dinge, die ich kenne, loszulassen, obwohl sie es doch gerade sind, mit denen Leid, Schmerz, Verzweiflung, Kampf und manchmal ein Moment der Freude verbunden sind. Das ist es, was wir Leben nennen. Und von dem zu lassen, fürchten wir uns so.« Ihre Hände streichelten über meinen Kopf. »Ach, Emelie. Das Einzige, worauf es ankommt, ist das, was du heute bist. Wie du dich verhältst. Nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Was sind wir schon? Ein Haufen Wörter, Erinnerungen, Erfahrungen. Und du bringst mir gerade bei, das alles loszulassen.«

Ich kann nicht gerade behaupten, dass ich alles verstanden hatte, was meine Mutter mir sagen wollte. Immerhin durfte ich all unsere Gespräche mit einem Tonband aufzeichnen, damit ich sie später in mein Tagebuch übertragen konnte. Jedenfalls versuchte ich nun nicht mehr, dem Leben von arctica islandia nachzueifern. Ich wollte nur verstehen, warum sie so anders ist als ich. Und was ich tun musste, um vielleicht so zu werden wie sie.

Die Fotografie von der Muschel erinnert mich an etwas. Etwas, das ich unbedingt noch tun möchte, bevor alles vorbei ist.

Der letzte Mensch, dem ich diese Fotografie gezeigt hatte, ist nun tot.

Niemand weiß von Pali. Pali war ein Obdachloser. Ich hatte ihn nur einen Winter gekannt.

Es ist nämlich so, dass ich immer wieder von zu Hause fortlaufe. Manchmal sind es die Schmerzen. Wenn ich laufe, vergesse ich sie. Manchmal sind es die ständigen Auseinandersetzungen mit meiner Mutter oder den Ärzten. Ich darf so vieles nicht. Ich sollte besser auf mich aufpassen. Wenn es mir zu viel wird, laufe ich fort.

Letzten November stand ich auf einmal auf einem verlassenen Fabrikgelände. Manchmal denke ich, ich träume diese Orte nur. Später finde ich sie auf keiner Karte verzeichnet. Ich kann ihnen kein Viertel und keine Straße zuordnen. Ich mag die ruinöse Schönheit zerfallender Gebäude. Sie bietet Raum für Träume. Es ist, als würde die Vielfalt der Formen und Proportionen im Zerfall wiedergeboren. So kühne Asymmetrien, reizvolle Disproportionen, unerwartete Durchblicke gibt es in keinem Stadtbild. Die zertrümmerten Fassaden sind für mich wie große Rätselbilder. Die Spuren des Verbleichens und Bröckelns, Verrinnens und Zerbrechens ziehen mich magisch an. Diese Sätze habe ich in einem Buch von meinem Vater gefunden.

Dort begegnete ich Pali. Er lebte mit anderen Obdachlosen zusammen in einer der alten Fabrikhallen. Er stand plötzlich hinter mir und legte mir die Hand auf die Schulter.

Erschrocken drehte ich mich um. Sein Hund, eine undefinierbare schokoladenbraune pudelgroße Promenadenmischung, sprang mich an und versuchte, mir das Gesicht zu lecken.

Ängstlich wich ich zurück. Ich hatte Angst vor Hunden.

Aufmerksam blickten mich Palis Augen an. In dieser Welt wurde nicht gesprochen. Das Nötigste sagten die Blicke.

Sein Ausdruck war ernst und prüfend, fast misstrauisch, aber nicht abweisend. Seine Augen waren schneller gealtert als Haut und Haar. Pali hatte den Blick eines Menschen, der weiß, dass er beobachtet wird.

Ich hatte einmal gehört, dass sich die heftigste Liebes- und Lebenssehnsucht dunkel maskiert, um vor Verletzung sicher zu sein. Das war mir nur zu vertraut. Wir verstanden uns auf den ersten Blick.

Pali lachte, nachdem er mich eine Weile betrachtet hatte. Er zeigte mir den Ort, wo er Zuflucht gefunden hatte. Ich war erstaunt, als ich erfuhr, wie viele Menschen in dieser Stadt und in ganz Deutschland auf der Straße lebten.

Es war seltsam. Die anderen Menschen, die hier mit ihm lebten, schienen den Raum, in dem sie sich aufhielten, gar nicht zu beanspruchen. Es war, als wären sie gar nicht da. Sie schienen fast sinnlos und dunkel in diese verfallenden Gebäude hineingestellt.

Ich irrte voller Begeisterung über das verlassene Areal. Es war merkwürdig, was ich dabei empfand. Was außen war, stellte offenbar keine Ansprüche. Alles war verfallen. Zerstört. Reduziert. Und fremd. Ich fand es geheimnisvoll und beunruhigend zugleich, wie sehr mein Blick beim Anblick all der zerstörten Dinge zu erstarken schien.

Pali und ich freundeten uns an. Das Fabrikgelände verließen wir nie. Ich versuchte, zwei oder drei Nachmittage in der Woche bei ihm zu verbringen. Ich brachte ihm Tüten voller Lebensmittel und warme Kleidung. Die stahl ich aus den Sammelcontainern. Wir sprachen wenig. Nur einmal erzählte ich ihm von dem ältesten Lebewesen der Welt.

Er sah mich ungläubig an. Ich spielte mit Filou, seinem Hund. Wir saßen schweigend am Feuer.

Die anderen waren meist betrunken. Pali war anders. Ich hätte nicht einmal sagen können, wie alt er war. Mir erschien er alterslos. Ich erinnere mich an seinen von den Händen aufgestützten Kopf. An seinen verhalten leeren Blick. An eine Trauer ohne umständliche Erläuterungen.

In seiner Nähe hatte ich das Gefühl, dass das Glück nicht mehr ist. Oder noch nicht ist.

Einmal zeigte er mir ein Bild, das er bei seinen wenigen Habseligkeiten aufbewahrte. Es schien ihm viel zu bedeuten. Die Kopie war schon ganz zerknittert. In der Bildmitte befanden sich ein Junge und ein Mädchen mit einem alten Fischkarren. Der Junge drehte sich zu dem Mädchen um. Er lächelte im gleichen Atemzug wie sie. Das Bild zeigte eine nordische Landschaft. Feucht glänzende Moossteine vor dem Tiefseeblau des Nordmeers. Ein heller Lichtspalt fiel vom Himmel auf die Erde. Es gab keine Laute. Keine Stimmen. Der Himmel war ein Flügelfenster vor dem Morgen oder vor dem Abend. Alles schien möglich.

Pali zeigte auf das Mädchen auf dem Bild. »Das bist du«, sagte er.

Im Januar wurde es plötzlich sehr kalt. Nachts wurde es minus zwanzig Grad. Meine Mutter ließ mich auch tagsüber nicht mehr ins Freie. Nach einer besonders eisigen Nacht hielt ich es nicht mehr aus. Ich stahl mich davon, während meine Mutter beim Einkaufen war. Unruhig lief ich über das verschneite Fabrikgelände. Ich hatte Angst. Wie angewurzelt blieb ich stehen.

An der rostzerfressenen Metalltür, die in die vorderste Fabrikhalle führte, lehnte ein Körper. Eigentlich waren es zwei, sah ich, als ich näherkam. Der Oberkörper von Pali und der Körper seines Hundes schienen aus der gleichen Hüfte zu wachsen. Was ich zuerst sah, war, den einen auf dem Schoß des anderen. Bei flüchtigem Blick schienen Hände und Pfote ein Händepaar. Fast konnte man erwarten, dass Pali, wenn er die Augen schließen würde und sich zur anderen Seite wendete, Filou wäre, als der er dort schon saß. Das Bild glich einer Trickaufnahme wie die Erscheinung aus der Geisterwelt, die das andere Ich unvermutet aus dem Kasten springen ließ.

Ich konnte meinen Blick lange nicht lösen. Ich stand nur da. Und irgendwann dann wurde mir klar, dass Pali lächelte. Seine Gesichtszüge waren heiter. Ich hatte Pali noch nie so glücklich gesehen. Es sah aus, als würden die beiden einfach nur sehr lange schlafen. Oder als würden sie einem sagen, der Tod ist nur dann schlimm, wenn man sein Lebtag auf das Glück gewartet hat, und es ist nicht gekommen.

4.

Verschwinden

SOLVEIG SPRICHT MEINEN Namen aus, als würde sie ihn flüstern. Doch ich kann ihn hören. »Emelie«, sagt sie. »Es ist Zeit. Wir müssen gehen.«

Solveig wird mich zum Bus bringen. Es wird das erste Mal sein, sagt sie, dass ich allein auf ein Progerie-Treffen reise. Kein anderes Kind ist je allein zu einem solchen Treffen gefahren. Der Gedanke, dass ich dort niemals ankommen werde, verursacht mir Herzklopfen.

Auf der Fahrt zum Bahnhof stellt mir Solveig Fragen. Sie listet alles auf, was ich im Koffer haben sollte. Sie schärft mir ein, woran ich alles zu denken habe. Sie fragt und fragt.

Ich bin erleichtert, dass der Fernbus pünktlich ist. Das Warten ist das Schlimmste. Dann starren sie dich an. Die Schüler zeigen mit dem Finger auf dich. Die Erwachsenen glotzen. Die religiös Getrösteten schenken dir mitleidige Blicke. Und die, die so tun, als wärst du normal für sie, bleiben mit ihren Blicken auf deiner Haut kleben, obwohl sie vorgeben, durch dich hindurchzusehen.

Du selbst kannst nur so tun, als würde dich das alles überhaupt nichts angehen. Als wärst du beschäftigt. Ich sehe dann immer auf meine Armbanduhr. Oder auf die Tafeln mit den Busfahrplänen. Oder ich suche mir einen Punkt auf den Hausfassaden. Auf dem Asphalt der Straße. Irgendwie ist der Himmel immer zu hoch.

Wenn ich abends in meinem Bett lag und daran zurückdachte, weinte ich. Meine Mutter bot mir immer wieder an, mich zur Schule zu bringen.

»Du musst nicht mit dem Bus fahren, Emelie«, sagte sie. Aber eigentlich wollte sie sagen, dass ich mir das nicht antun müsse. Sie, die mich jahrelang versteckt gehalten hatte, glaubte zu wissen, was ich an den hundertfünfundneunzig Schultagen im Jahr auszuhalten hatte. Aber sie war ahnungslos.

Der Fahrer starrt mich einen Augenblick fassungslos an. Er will etwas sagen, aber dann gibt er mir nur einfach schweigend das Ticket zurück.

Ebenso wortlos schiebt er meinen Koffer in den Laderaum. Die beiden Studentinnen, die vor der Fahrertür warten, begrüßt er mit einem Spruch, von dem er glaubt, dass er besonders cool sei: »Also bei mir kann jeder sagen, was ich will.«

Die Studentinnen lächeln gequält. Manche Leute, denke ich, muss man nur anschauen, um zu verstehen, warum es Klettverschlüsse für Erwachsenenschuhe gibt.

Solveig besteht darauf, mich zu meinem Platz zu bringen. Wir steigen hinten ein. So brauche ich nicht durch alle Sitzreihen zu gehen. Die hinteren Plätze sind fast alle noch leer. Ich wähle einen Fensterplatz. Da der Sitz neben mir sowieso meist unbesetzt bleibt, kann der kleine Rucksack, den Solveig auf den Nachbarsitz stellt, dort bleiben. Darin sind meine Bücher. Mein iPad. Meine Medikamente. Und ein Vorratspack Granatapfelriegel.

Solveig sieht mich zögernd an. Sie nimmt mich in den Arm. Sie flüstert mehr, als dass sie es sagt: »Pass gut auf dich auf, meine Kleine.« Dann verschwindet sie. Sie dreht sich nicht noch einmal um.

Ich frage mich, ob sie etwas ahnt.

Der Bus setzt sich in Bewegung. Es ist, als ob die Häuser, Parkplätze, Einkaufsmärkte und graufleckigen Parkanlagen wie auf einem Laufband an mir vorbeigezogen werden, während der Bus sich nicht von der Stelle zu bewegen scheint. Erst auf der Autobahn verschwindet diese Empfindung.

Ich genieße das Gefühl, unbeobachtet zu sein. Die hohen Sessellehnen schützen mich vor den Blicken der anderen. Das ist der Vorteil, wenn man nur einhundertfünfzehn Zentimeter groß ist.

Über die Bildschirme flackert eine amerikanische Teenagerkomödie. Es ist stockfinster. Offenbar liegen zwei Teenager zusammen im Bett.

»Ich liebe dich«, sagt der eine.

»Ich dich auch.«

»Ich begehre dich.«

»Ich dich auch.«

»Übrigens, ich heiße Ed.«

»Ich auch.«

Niemand lacht.

Zweifel steigen in mir auf. Werde ich den Bus so einfach verlassen können? Wird der Junge, mit dem ich verabredet bin, auch wirklich da sein? Und was dann?

Ich weiß, dass mein eigenes Leben langsam vor meinen Augen verschwindet. Ich muss an Jasper denken und daran, wie plötzlich er nicht mehr da war. Und nach einem Jahr ist es schon ein bisschen so, als wäre er niemals hier gewesen.

Ich kann es sehen, wie auch mein Leben verschwindet. Aber noch bin ich da. Ich bin nicht nur da. Ich falle auf. Doch was unterscheidet mich von den Menschen, die den Anschluss an ihr eigenes Leben längst verloren haben? Die nichts mehr erkennen können? Am allerwenigsten sich selbst oder die anderen? Sind sie nicht auch längst verschwunden?

Zumindest werden sie von niemandem mehr bemerkt. Vielleicht sind es einfach zu viele. Ein riesiges Heer Unsichtbarer.

Man denkt, es sind immer nur die anderen. Man denkt nicht, dass einem das auch passiert. Plötzlich die Arbeit zu verlieren. Den Freund oder die Freundin. So krank zu werden, dass einen nichts auf der Welt mehr gesund machen kann. Über Nacht alt zu werden. Von einer Minute auf die andere allein zu sein.

Und wie macht man dann aus Unsichtbaren wieder Menschen, die einander plötzlich sehen, fühlen und vielleicht sogar verstehen können?

Ich weiß es nicht.

Ich schalte das Hörgerät aus. Eine Wolke aus halbem Schlaf umfängt mich, bis ich nichts mehr fühlen kann. Gar nichts mehr. Das FTI macht mich so müde. Doch wenn ich es nicht nehmen würde, wäre ich vielleicht schon tot.

Im Halbschlaf erinnere ich mich am besten. Während der Bus in die grauen Schlieren des immer wieder aufsteigenden Nebels fährt, setze ich in meiner Erinnerung eine Sequenz an die andere. Schreibe sie auf. Bestimmte Ereignisse nehme ich mir immer wieder vor. Ich füge sie neu zusammen. Vertausche deren Chronologie. Werde jünger. Werde älter. Und manchmal sterbe ich.

Das ist doch keine Erinnerung, sage ich mir, das ist Erfindung. Was spielt das schon für eine Rolle, wenn ich am Ende weiß: So war es. Es ist, als bräuchte ich meine ganze Fantasie, um das Narbengewebe zu durchstechen, was mich von mir und dem, was ich einmal erlebt, gefühlt und gedacht habe, trennt. Das ist Lichtjahre entfernt. Viel weiter als bei anderen Menschen, weil ich nicht daran erinnert werden möchte.

Die Erfindung macht mir klar, wie es wirklich gewesen ist. Ich sehe dann alles vor mir wie auf einer Fotografie. Und dann weiß ich, dass es sich so zugetragen haben muss.

Die geträumten Bilder verschwinden. Und ich erlebe alles noch einmal wie in Echtzeit. Es gibt keinen Punkt, an dem ich Stopp sagen könnte. Selbst im Augenblick der Erfindung kann man die Wahrheit sagen.

Ich erinnere mich an einen Nachmittag, als ich zum wiederholten Male einfach fortgelaufen war.

In den Wochen vorher war ich krank gewesen. Es kam oft vor, dass meine Kraft nicht reichte, um in die Schule zu gehen. Nachdem ich gerade erst eine Bronchitis überstanden hatte, fesselten mich rheumatische Anfälle an mein Zuhause. Das kalte Februarwetter ließ mich die Arthrose in meinen Knien spüren. Das Rheuma zog in meinen Schultern. Es war schlimmer als sonst.

Ich war zwölf Jahre alt und besuchte die siebte Klasse. Doch in diesem Schuljahr war ich nur wenige Wochen in der Schule gewesen. Vor allem die Gelenkveränderungen machten mir zu schaffen. Knochen und Blutgefäße schienen mit einem Mal noch rascher zu altern.

In der Schule hatte das keine Folgen. Alles war mit den Ärzten, den Lehrern und meinen Eltern besprochen. Ich, das Greisenkind, hatte hier eine Gnadenzeit. Ich würde niemals einen Abschluss erreichen. Wozu auch?

Also brauchte sich auch niemand über Fehlzeiten und nicht erbrachte Leistungsnachweise Gedanken machen.

Erst im April, nach den Osterferien, konnte ich wieder in die Klasse zurückkehren. Jedes Mal war es dann wieder da. Das staunende Entsetzen beim Anblick von dem, was in der Natur nicht vorgesehen war. Das unter dem Mantel der erlernten Umgangsformen nur mühsam verborgene Erschrecken. Wer mir ins Gesicht blickt, schaut in seine eigene Zukunft.

Wenn ich nach längerer Abwesenheit ins Klassenzimmer trat, war dieses Erschrecken da. Nach einem, manchmal zwei Tagen verschwand es wieder.

Aber diesmal war es anders. Das lag daran, weil in meiner Zeit des Fernbleibens ein neuer Schüler in die Klasse gekommen war. Er war aus Hessen zu uns gewechselt. Groß und schlaksig saß er mit angegelten Haaren und spöttischem Gesichtsausdruck in der letzten Reihe am Fenster. Er hörte nicht auf, mich anzustarren. Er tat dies ohne Ausdruck, als betrachtete er ein interessantes Insekt oder einen Vogelkadaver.

Nach zwei Tagen war die Atmosphäre in der Klasse wieder so, als wäre ich niemals fortgewesen. Nur Gerrit, der Neue, ließ mich nicht aus den Augen. Er folgte mir überallhin. Akribisch studierte er meinen Gang, meine Bewegungen, jede meiner Gesten.

Pantomimisch begann er, meine Bewegungen zu parodieren. Er achtete penibel darauf, dass uns andere dabei nicht sahen.

Wenn wir unbeobachtet waren, schlich er sich von hinten an mich heran. Er sagte dann Dinge wie: »Magst du die Natur noch? Nach allem, was sie dir angetan hat.«

Er lachte niemals über seine eigenen Bemerkungen. Er sah mich nur an.

Eines Tages folgte er mir aus dem Werkunterricht auf die Mädchentoilette. Er schob mich in eine der Kabinen. Plötzlich drängte er mich auf die Toilettenschüssel. »Wenn du schreist, sorg ich dafür, dass du ’nen Herzinfarkt bekommst. Wird keiner was merken, denn den kriegst du sowieso bald, hässliche Kröte!«

Gerrit stand vor mir. Er öffnete seinen Hosengürtel und schob Jeans und Unterhose mit einem Ruck zu den Knien. Er wies auf sein Ding, das ihm wie ein Spargel aus dem dünnen Flaum zwischen seinen Beinen ragte. »Du darfst ihn mir lutschen«, forderte er mich mit rauer Stimme auf.

Ich versuchte, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen. »Aus welchem schlechten Film hast du denn das?«, fragte ich ihn. »Und im Übrigen«, sagte ich langsam, während ich meine Lesebrille aus der Jackentasche nahm, mir vor die Augen hielt und damit sein Ding fixierte, »hast du vielleicht nicht noch was Größeres mitgebracht?« Den Satz hatte ich aus einem Film. Einem wirklich schlechten Film.

Gerrit wurde tatsächlich rot. Aber er wurde auch schrecklich wütend. Er packte mich am Hals und begann, mich zu würgen.

Auf dem Flur entstand mit einem Mal ein großer Lärm. Eine ganze Horde Achtklässlerinnen stürmte in den Toilettenvorraum. Die Mädchen füllten sich Wasser in die mitgebrachten Flaschen.

Gerrit hielt mitten in der Bewegung inne.

Ich wollte schreien, doch er presste mir seine schweißige Hand auf den Mund. Mit der anderen Hand versuchte er vergeblich, seine Hose hochzuziehen.

Das Stimmengewirr hielt an. Türen schlugen. Toilettendeckel klappten hoch und wieder runter. Die Wasserleitungen rauschten.

Mein Körper begann zu zittern. Ich hatte das Gefühl, jeden Moment tatsächlich einen Herzinfarkt zu bekommen. Es war die gleiche, unkontrollierbare Panik, die mich immer dann befiel, wenn mein Herz plötzlich anfing, schneller zu schlagen. Das geschah in letzter Zeit immer häufiger. In dieser Situation war es meine Rettung.

Während der Lärm um uns herum langsam aufhörte, ließ Gerrit von mir ab. Ich steigerte mich in meinen Anfall hinein. Als der Junge seinen Griff lockerte, ließ ich mich vom Toilettensitz auf den Boden rutschen. Ich streckte die Arme in die Luft. Mein Atem ging stoßweise. Ich konnte das gut.

Gerrit wich zurück. Er starrte mich an. Seine dunklen Augen hatten den gleichen Blick wie im Klassenzimmer oder auf dem Pausenhof. In ihnen war keine Regung.

Ohne jede Emotion sagte er: »Stirb doch. Stirb doch endlich, Monster!« Dann verschwand er.

Und genau das war es, was ich mir in diesem Augenblick wünschte: zu sterben.

Ich spürte, wie meine Hose nass wurde. Meine Arme und meine Beine fingen unkontrolliert an zu zucken. Panisch tastete ich nach meinen Medikamenten in dem kleinen Beutel, den ich immer um die Hüfte trug. Ich konnte nichts mehr sehen, doch meine Hände ertasteten die richtige Tablettenform. So, wie ich es in der Arztpraxis gelernt hatte.

In meinen Ohren rauschte es. Nur um mich herum war eine gespenstische Stille. War es die dritte Schulstunde? Oder schon die vierte? Wann würde es zur Pause klingeln? Dann würden sie mich finden. Aber ich wollte nicht so gefunden werden.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Vorsichtig setzte ich mich auf. Dunkelfeuchte Flecke zeichneten sich auf meiner Hose ab. Die Kabinentür stand offen. In der langen Spiegelreihe über den Waschbecken sah ich einen vergreisten Gnom auf der Toilettenschüssel sitzen.

Das Bild verschwamm mir vor den Augen. Mühsam stand ich auf. Und wenn Gerrit hinter der Tür wartete? Ich starrte auf die hellbraune Maserung der Toilettentür. Alles, was dahinter lag, machte mir Angst.

Ich konnte nicht zurück in das Klassenzimmer. Niemandem konnte ich sagen, was passiert war. Sie würden mir nicht glauben. Jemand anderem schon. Jemandem, der normal entwickelt war und der aussah wie ein zwölfjähriges Mädchen. Mir würde niemand glauben.

Ich wollte nur weg. Und ich konnte mir nicht vorstellen, jemals wiederzukommen.

Vorsichtig öffnete ich die Tür. Der Flur lag verlassen. Hinter den Klassenzimmertüren raunten Stimmen. Über mir stampften Füße rhythmisch auf den Boden. Aus einem anderen Gebäudeteil kam Musik und Gesang über die Flure. Ich drückte mich an der Wand entlang in Richtung des Ausgangs.

Als ich draußen war, versuchte ich, so normal wie möglich zu laufen. Aus den Augenwinkeln sah ich die Schüler einzeln oder in kleinen Gruppen an ihren Tischen sitzen.

Es war einer der ersten warmen Frühlingstage. Das dünne weiße Licht des Frühlings befiederte Wege und Straßen.

Ich war mir sicher, niemand würde mich finden. Hinter meinem Rücken würde es keine Spur mehr von mir geben. Ich staunte, wie still und leer es geworden war seit dem Morgen. Die wenigen Menschen, denen ich begegnete, erschienen mir wie gestrandete Reisende. Sie sahen mich kaum an.

Immer wieder musste ich erschöpft anhalten. Mein Brustkorb schmerzte. Die Häuser und Straßen stahlen sich unmerklich aus dem Licht. Ich war noch nie zuvor in dieser Gegend gewesen. Ich wurde ja immer direkt von der Schule abgeholt. Oder der Bus brachte mich nach Hause.

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