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Kapitel 6

23. Dezember 2020, 20.17 Uhr

Severin

Ich öffne meine Augen und starre auf eine kahle Wand. Was? Benommen versuche ich mich zu erinnern, was passiert ist. Und dann wird es mir klar. Mein Herz brennt wie Feuer, als ich das lodernde Auto vor mir sehe. Langsam verstehe, was geschehen ist. Begreife, dass Tim …

Ich will mich aufrappeln und die Männer finden, die dafür verantwortlich sind, aber meine Hände und Beine sind gefesselt. Ich starre fassungslos auf die Kabelbinder und realisiere endlich vollends, was passiert ist. Ich bin ihnen hinterhergefahren und schließlich haben sie mich bewusstlos geschlagen und mitgenommen.

Ein Stöhnen reißt mich aus meinen Gedanken. Ich sehe mich um, doch alles liegt in einem trüben Dunkel. Es dauert einen Moment, bis ich hinter ein paar Transportkisten einen Mann sitzen sehe.

»Geht es dir gut?«, frage ich und versuche in seine Richtung zu robben.

Wieder stöhnt er auf und sieht dann verwundert auf seine eigenen Fesseln.

»Was ist passiert?«, fragt er mit einem Akzent und blinzelt.

»Irgendwelche Bastarde haben uns entführt«, knurre ich und dann sieht er auf. Mich direkt an. Seine dunklen Augen wecken ein vertrautes Gefühl in mir. Ich kenne ihn. Aber woher?

»Habe ich dich schon mal gesehen?«, frage ich, als ich bei der Kiste angekommen bin und kurz die Augen schließe. Mein Kopf dröhnt. Der Typ legt den Kopf schief und mustert mich. »Severin, oder?«

Ich schärfe meinen Blick, um mir das Gesicht noch einmal genau anzusehen. Er ist Ausländer. Araber … Syrer vielleicht. Aber ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern. »Arbeitest du für die Eintracht?«, will ich wissen und sehe mich im Raum um. Statt hier ein Pläuschchen zu halten, sollten wir vielleicht besser einen Ausweg finden.

»Ich habe für die Eintracht gespielt. Sie wollten wohl einen Ausländer bei ihrer kleinen Feier dabeihaben.«

Ich hebe meine Brauen. Wann soll der bei der Eintracht gekickt haben? Mein Gedächtnis lässt mich offensichtlich im Stich.

»Hast du eine Idee, wie wir hier rauskommen?«, fragt er und reckt seinen Nacken.

»Ich wüsste zunächst erst mal ganz gerne, wo wir hier eigentlich sind«, brumme ich und wieder taucht Tims Gesicht vor mir auf. Ich verscheuche es, so schnell es geht, und sehe dann zur Tür.

»Kannst du aufstehen?«, frage ich mit einem Blick hinter die Kisten. Er verzieht sein Gesicht und schüttelt den Kopf. »Ich glaube, sie haben mir das Bein gebrochen.«

Na super. Also versuche ich mich hochzuhieven und zur Tür zu hüpfen. Mein Kopf explodiert beinahe. Und wie erwartet, ist die Tür verschlossen. Was jetzt? Und wo sind die anderen? Da stand doch nur einer der Vans, oder nicht?

Ich lasse mich wieder auf den Boden sinken und lehne meinen Kopf gegen die Tür.

»Du hast dir echt den falschen Zeitpunkt ausgesucht, um bei der Weihnachtsfeier den Quoten-Kicker zu geben und in alten Geschichten zu schwelgen«, sage ich resigniert und sehe auf. Sein Blick trifft mich. Etwas wie Trauer schwappt zu mir herüber.

»Alte Geschichten?«, murmelt er in gebrochenem Deutsch. »Einen wie mich vergisst man schnell. Keiner will alte Geschichten hören.«

»Na, immerhin haben sie dich eingeladen«, sage ich, vor allem, um mich abzulenken.

»Und das macht alles andere wieder gut?«, kontert er traurig und zuckt mit den Schultern. »Ich hätte nicht hingehen sollen. Das sind Menschen, die sich für Einzelne nicht interessieren.«

Ich verziehe den Mund. So gerne ich hier eine kleine Lästerrunde über die obere Etage der Eintracht und ihre Arroganz und Ignoranz abhalten würde, kann ich einfach nicht tatenlos herumsitzen.

»Es sollte dir egal sein. Was hast du mit diesen Leuten zu tun? Nichts.«

Ich blicke mich weiter um. Hier ist nichts außer diesen Blechkisten auf Rädern. Aber irgendwann wird jemand kommen. Sie werden uns ja nicht einfach verrotten lassen. Und für genau diesen Moment wäre es gut, vorbereitet zu sein.

»Wir sind hier offenbar eingesperrt, weil diese Eintracht-Männer noch mehr Menschen verärgert haben. Also ist es mir nicht egal«, raunt er.

»Vielleicht wollen sie Geld«, sage ich und krieche wieder zu den Kisten, um darin nach einer Waffe oder etwas Brauchbarem zu suchen.

»Geld …«, wiederholt er mit einem fiesen Lachen. »Und was machen wir beide, was machen du und ich dann hier? Denkst du wirklich, dass einer dieser Bosse Geld für uns zahlt?«

Ich kneife die Augen zusammen und denke nach, während ich den Deckel der Kiste öffne. Ja, was mache ich hier? Warum hat der Anführer nicht zugelassen, dass sie mich einfach erschießen? Hat er mich erkannt? Gewusst, dass ich der Sohn des Oberstaatsanwalts bin? Das ist das Einzige, was mein Leben wertvoll macht. Aber das wäre ein Riesenzufall.

»Mir ist scheißegal, was sie von mir wollen«, bricht sich der Zorn in mir plötzlich seine Bahn. »Diese Bastarde haben meinen besten Freund getötet.«

Wieder legt er den Kopf schief. Schweigt aber.

»Wie heißt du eigentlich?«, frage ich, um mich selbst ein bisschen runterzubringen. Dabei starre ich in die Kiste vor mir, zerre einen Beutel heraus und schrecke perplex zurück. Drogen.

»Ich heiße Assad.« Ich nehme die Stimme meines Mitgefangenen nur nebenbei wahr.

»Warum haben die hier Drogen?«, frage ich und spüre Hitze in meinem Nacken. Sie kriecht an meiner Wirbelsäule entlang und lässt mich schaudern. Der Beutel in meiner Hand ist voller Tabletten und einem weißen Pulver. Wahrscheinlich Koks. Mein Kreislauf lässt mich im Stich und plötzlich fühlt es sich so an, als wäre ich ein echter Junkie.

Nachdem ich endlich von dem Ritalin runtergekommen bin, das sie mir schon als Kind eingeflößt haben, habe ich es tunlichst vermieden, mit anderen Drogen in Kontakt zu kommen. Auch wenn ich solche eigentlich nie hätte nehmen wollen, man weiß ja nie. Nicht das Koks und auch die meisten Tabletten nicht. Würde ich da nicht unter ihnen die Schachtel Ritalin erkennen. Es könnte mir helfen, klarer zu werden. Mich zu konzentrieren. Gerade jetzt, da ich …

»Was ist los?«, fragt Assad und reckt den Kopf ein wenig.

»Nichts«, lüge ich, werfe den Beutel zurück und knalle den Deckel zu.

Mein Herz pumpt schnell und unregelmäßig. Kalter Schweiß läuft mir über den Rücken. Ich schaue zu ihm. Er beobachtet jede meiner Bewegungen mit Argusaugen.

Ich lehne mich erschöpft gegen eine der Wände und wir schweigen eine ganze Weile, bis Assad erneut das Wort ergreift.

»Als ich neu in Deutschland war, das war am Anfang eurer Flüchtlingskrise, da haben mich ein paar Typen in Niederrad auf dem Nachhauseweg abgefangen«, sagt er mit ruhiger, tiefer Stimme. Fast so, als würde er damit keine Emotionen verbinden.

»Sie wollten mich verprügeln. Weil ich anders aussah als sie. Das hat ihnen als Grund gereicht.«

Ich fahre mit meiner Zunge die Zähne entlang. Mich interessiert diese Geschichte nicht. Mich interessiert gar nichts mehr, außer der Möglichkeit, all das hier zu vergessen und nach dem zu greifen, was genau vor mir in der Kiste in einem Plastikbeutel liegt. Ich will mich und den Schmerz in meiner Brust betäuben. Will …

»Aber da war ein junger Mann, der mir geholfen hat. An der Straßenbahnhaltestelle vor der alten Rennbahn. Von dort wollte ich zum Stadion.«

Ich öffne meine Augen und sehe ihn an. Ich erinnere mich. Er war dieser Typ, den sie erst beschimpft und dann bespuckt haben. Und ich war es, der ihm geholfen hat.

Eigentlich wollte ich zum Greifvogel und mit Gustav, Hel und Kat reden, aber ich war zu früh. Der Greifvogel war noch zu und bei Claudia zu klingeln, habe ich mich nicht getraut.

Ich bin zur Straßenbahnhaltestelle und da sind mir plötzlich diese Arschlöcher aufgefallen, die einen Ausländer in die Ecke drängten.

»Das warst du?«

Seine Lider zucken kurz. »Ich sage ja, man erinnert sich nicht an mich.«

Ich atme schwer. »Das war ein anderes Leben. Es ist sicher fünf Jahre her. Diese Zeit habe ich hinter mir gelassen.«

Er lacht freudlos auf. »Wenn es nur immer so leicht wäre, ein Leben zu verlassen und ein neues zu betreten.«

Hinter mir ertönt ein Geräusch an der Tür.

»Achtung!«, sage ich und Assad nickt, während ich mir den Eisendeckel der Kiste schnappe und aufstehe, um mich neben die Tür zu stellen. Wenn ich schon keine Waffe habe, kann ich mich mit dem Ding wenigstens verteidigen.

Die Tür wird geöffnet und vor mir taucht einer der Vermummten auf, doch als ich gerade zuschlagen will, spüre ich etwas Hartes, Kaltes an meinem schmerzenden Hinterkopf. Ich drehe mich langsam um und erstarre. Hinter mir steht Assad. Nicht mehr gefesselt. Kein gebrochenes Bein. Stattdessen hält er mir eine Waffe an den Kopf. Mein Verstand braucht eine ganze Weile, um das hier zu sortieren und zu verstehen.

»Du hättest mich nicht auch vergessen sollen, Severin Klemm«, sagt er mit einem merkwürdig traurigen Blick. Als wäre das hier eine Prüfung gewesen, die ich nicht bestanden habe. Als wäre er darüber wirklich betrübt.

»Ich …«, will ich etwas erwidern. Aber was soll ich sagen? Was würde das hier ändern?

»Es ist nicht immer so leicht, ein neues Leben zu beginnen. Ich wünschte, es hätte auch nur eine Menschenseele interessiert, was aus mir geworden ist.«

Ich schlucke schwer. »Was ist passiert?«

Er hebt seinen Mundwinkel. »Das werde ich dir zu gegebener Zeit erzählen, Severin. Und jetzt los!«

Er deutet mit seiner Waffe Richtung Tür, bevor er sich hinabbeugt und meine Fußfessel durchschneidet.

Als ich hinaustrete und das Glas vor mir erkenne, klettert bittere Säure meine Kehle hinauf. Entsetzt öffne ich den Mund und starre auf Frankfurt. Frankfurt von oben. Und ich weiß sofort, wo wir sind.

Meine über alles geliebte Frau,

ich schäme mich so sehr, denn ich habe versagt. Ich konnte meinen kleinen Bruder und deine Schwester nicht beschützen. Vor diesen Gottlosen, die nichts als sinnlose Gewalt und Tod über die Unseren gebracht haben. Die diese schändliche Bluttat auf unschuldige Kinder auf dem Weg zur Schule ausgeführt haben und sich noch mit Gewehrsalven in den Himmel dafür brüsten, Elend und Tod in unser Leben zu tragen. Seit so langer Zeit.

Ich hätte auf dich hören und rechtzeitig meiner Heimat, unserer Heimat, den Rücken kehren sollen. Irgendwo ins gelobte Land gehen. Nach Deutschland zu meiner Schwägerin. Zu meinem Zwillingsbruder, denn ich bin sicher: ich hätte all diese bösen Gedanken, die ihm falsche Menschen in den Kopf gepflanzt haben, mit meiner Hilfe vertrieben, und wir hätten ein gutes Leben führen können.

Ja. Weit weg von der geliebten Heimat. Weit weg von den Verwandten, von den Freunden. Aber in Frieden.

Meine über alles geliebte Frau: Verzeih mir. Das, was unverzeihlich ist. Was niemand verzeihen kann. Was ich mir selbst niemals werde verzeihen können.

Mit welcher Überheblichkeit habe ich die Welt betrachtet? Mit welchem Gleichmut hingenommen, dass die Fratze des Feindes immer längere Schatten auf uns geworfen hat. Wie oft habe ich nachts auf dem Dach unseres Hauses gehockt und am dunklen Horizont die Blitze der Raketen und die Feuer gesehen. Mit angstvoll zusammengekniffenen Augen. Wie oft bin ich dann hinunter gegangen, habe meiner Tochter und meinem Sohn mit dem Zeigefinger sanft über die Nase gestrichen und geflüstert: Keine Angst. Ich beschütze euch!

Wie oft? Zu oft.

Und dann bin ich zu dir ins Bett geschlichen, meine über alles geliebte Frau, und habe sehr wohl gespürt, wie sehr dein Körper gezittert hat. Vor Angst. Habe dich dann wortlos umschlungen und schweißgebadet die weiße Decke unseres Zimmers angestarrt. So lange, bis ich überall rote Flecken gesehen habe. Blutflecken. Und mir vornahm, dieses Leben zu ändern.

Aber ich habe nicht gehandelt, wie ein Mann handeln muss. Habe mich doch wieder ängstlich verkrochen und dafür einen unsagbar hohen Preis bezahlt. Wie viel würde ich dafür geben, wenn ich noch einmal die Chance bekäme, alles richtig zu machen. Nicht den Worten der Ältesten blind zu vertrauen und für den Frieden zu beten, statt aufzustehen und den Kriegern auf beiden Seiten Einhalt zu gebieten.

Mein Leben würde ich dafür geben. Glaub mir. Ohne eine Sekunde zu zögern. Aber ich fürchte, dies ist jetzt wieder nur eine Träumerei. Wer könnte den blutrünstigen Kriegern Einhalt gebieten, wenn die ganze Welt genüsslich zuschaut, wie unser Volk sich abschlachtet? Ich? Wohl kaum.

Ja. Hätte mein Talent gereicht, um meine alte graue Welt gegen eine neue schillernde einzutauschen, dann würde mein Wort jetzt vielleicht in der Welt gehört werden. Vielleicht.

Vielleicht auch nicht. Aber ihr wäret in Sicherheit. Müsstet nicht tagein, tagaus um euer Leben bangen. Könntet mit euren Freunden zusammenkommen und sagen, was euch bewegt. Ohne Angst, verraten zu werden. Könntet wählen, ohne ein Gewehr im Rücken zu spüren. Könntet lernen, was immer ihr erlernen wollt. Könntet euren Glauben leben, ohne befürchten zu müssen, es ist nicht genug, was ihr tut. Könntet Fremde freundlich willkommen heißen. Ohne Angst, dass sie unter eurem Dach nach eurem Leben trachten. Könntet wann immer ihr wollt den Himmel betrachten, ohne Angst, dass eine Rakete vor euren Augen explodiert und die Metallsplitter eure Körper in tausend Fetzen reißen. Könntet in Frieden leben, ohne Angst vor jedem neuen Tag.

Mein Gott, was habe ich getan! Was habe ich euch genommen? Was gibt mir das Recht, von meiner Liebe zu euch zu sprechen. Nichts mehr!

Kapitel 7

23. Dezember 2020, 00.20 Uhr

Lydia

Ein rascher Blick auf die Uhr zeigt mir, dass meine Einschätzung richtig war. 20 Minuten von Zeilsheim zum Stadion – um diese Uhrzeit und zu Corona-Zeiten kein Problem. Eigentlich ärgere ich mich sogar, dass ich nicht schneller war. Severin hätte die Strecke in 15 Minuten geschafft. Jedenfalls hätte er das gesagt und dabei die Motorhaube seines Mustangs getätschelt. Oder er hätte eine Abkürzung genutzt. Was weiß ich. Auf jeden Fall ist dieses Getätschel lächerlich. Er mochte dieses Auto eigentlich gar nicht. Schlimmer noch: Er hat es gehasst, weil sein Dad es ihm vor die Tür gestellt hat. Aber inzwischen steht er drauf, damit anzugeben. Dieser Idiot.

Ich bin mit dieser Fahrzeit äußerst zufrieden. Das abschätzige ›Sind Sie sich sicher?‹ dieses Hauptkommissars, nachdem ich seine Frage, wie lange ich wohl von Zeilsheim zum Stadion brauche, forsch mit ›20 Minuten‹ beantwortet habe, klingt mir noch im Ohr. Wie auch immer: Ich bin ja froh, dass er mir nicht geraten hat, gemütlich mit Papa ein bisschen Fernsehen zu schauen und ihn seine Arbeit machen zu lassen. Stattdessen hat er mich gebeten, zum Stadion zu kommen, weil es dort wohl tatsächlich einen Vorfall gegeben hat. Ob er endlich begriffen hat, dass Severins Anruf garantiert kein Fake war?

Ich biege von der Mörfelder in den dunklen Weg zum Stadion ab. Langsam, vorsichtig. So als könnte es sein, dass hier noch bösartige Heckenschützen auf mich lauern. »Quatsch, Heller! Mach hier nicht das Mädchen«, brülle ich mich im Spiegel an. Hier ist niemand. Die Parkplätze rechts und links sind leer. Gespenstig leer. »Lydia Heller, du bist hier schon Hunderte Male nachts rein- und rausgefahren. Kein Grund, panisch zu werden«, versuche ich mein Spiegelbild zu beruhigen. Dann packe ich das Teil und drücke die Abblendfunktion. Mag ja sein, dass ich die seltsame Angewohnheit habe, Selbstgespräche in Form von Interviews zu führen. Aber nicht jetzt!

Im Lichtkegel vor mir taucht die Schranke auf. Jedenfalls das, was von ihr übrig geblieben ist. Der größte Teil liegt ein paar Meter weiter am Rand des Weges. Mein Gott. Was war hier los? Ich versuche, konzentriert zu bleiben und die nächste Panik­attacke gar nicht erst aufkommen zu lassen. Vergeblich. Der Gedanke an Severin, der wahrscheinlich vor einer knappen Stunde hier durchgefahren ist, weil er unbedingt irgendwelche Attentäter verfolgen musste, statt seinen verdammten Hintern in den Greifvogel zu schieben, sich grenzenlos abzufüllen und drei Tage ins Koma zu fallen, lässt meinen Magen erneut rebellieren. Warum muss dieser blöde Kerl eigentlich immer mit dem Kopf durch die Wand?

Das gleißende Blaulicht vor mir reißt mich aus meinen Gedanken: Polizei. Und schon dehnt sich das merkwürdige, beklemmende Gefühl in meiner Magengegend aus. Ich muss schlucken. Wie damals, als plötzlich im Stadion alle Lichter ausgingen und das Gesicht von Vera auf der Anzeigentafel erschien. Es ist jetzt fast genau ein Jahr her, dass diese tödlichen Rätsel Sev und mich durch die Stadt gehetzt haben. Damals war hier auch alles in dieses furchtbare zuckende Blaulicht gehüllt.

Ein Beamter hält mir seine Kelle vor die Motorhaube. Zwingt mich stehenzubleiben. Ich kurbele das Fenster herunter, um ihm zu erklären, dass ich erwartet werde. Von Hauptkommissar … ich habe den Namen vergessen. So ein Mist.

»Hier können Sie nicht weiter«, rasselt der Uniformierte mit grimmigem Blick herunter. »Die Spusi muss ihre Arbeit machen.«

»Die Spurensicherung!«, entgegne ich mit Tatort-Kennerwissen. »Müssten die nicht eher in der Geschäftsstelle ihre Spuren suchen?« Eigentlich weiß ich gar nicht, warum ich nicht einfach meine Karre abstelle und die paar Meter zu Fuß laufe, statt mich auf Diskussionen einzulassen.

»Na ja. Junge Frau. Ich fürchte, da sind die Kollegen natürlich auch und das mit ganz großem Besteck. Große Sache hier … Oder haben die Eintracht-Bonzen einfach nur alle Corona-Regeln außer Kraft gesetzt und sind sich im Suff ein bisschen in die Haare geraten? Würde mich jetzt nicht wirklich wundern«, grinst er blöde und beugt sich dabei zu mir runter wie der Glöckner von Notre-Dame. »Und wer sind Sie noch mal schnell?«

Der Bulle wird mir von Sekunde zu Sekunde unsympathischer und die Geschichte immer mysteriöser. In was ist die Eintracht, in was ist Sev da bloß hineingeraten?

»Am besten, Sie stellen Ihr Auto hier ab und melden sich da oben bei dem Kollegen.« Er deutet ein paar Meter die Rampe hinauf auf einen jungen Mann, der direkt unter einem der offenbar eilends herbeigekarrten Scheinwerfer steht. Davon gibt es eine ganze Menge, und wieder schießt mir der schale Gedanke durch den Kopf: Was um Himmels willen ist hier passiert?

Der Polizist weist mir mit seiner Kelle einen Parkplatz zu und ich bin absolut sicher, wie wichtig er sich in diesem Moment fühlt. Ich kenne diese Typen, die es im Leben nicht wirklich weit gebracht haben, und dann mit Vorliebe Frauen ihre Macht demonstrieren müssen. Seitdem ich im Präsidium den Aufgabenbereich ›Gleichstellung und sexualisierte Gewalt‹ verantworte, habe ich offenbar nur noch mit genau diesen miesen Typen zu tun. Ein merkwürdiger Magnetismus.

»Wunderbar. Danke. Der Kollege dort?« Ich deute auf den jungen Mann unter dem Flutlicht. »Genau – Merbolt. Der hat ein paar Streifen mehr«, grinst er und haut sich mit der Hand auf die Schulter. »Kommissar-Anwärter Hans Merbolt. Wenn der Ihnen nicht helfen kann, weiß ich auch nicht weiter.«

Ich drehe mich angewidert weg und gehe auf den Mann unter dem Lichtkegel zu, nestele meinen Ausweis heraus und stelle mich vor: »Lydia Heller. Ich sollte herkommen. Hat Kriminalhauptkommissar … sorry, ich habe mir seinen Namen nicht gemerkt … irgendeine Stadt im Taunus …!«

»Homburg. KHK Homburg, oder?« Dabei zückt er sein Notizbuch und geht mit dem Finger offenbar eine Liste durch. »Ah. Hier. Heller. Sind Sie die Pressesprecherin?« Seine Stimme klingt verdammt jung, aber hinter der Maske kann ich das nicht so genau einordnen. ›Ein paar mehr Streifen‹, hat der andere gesagt. Also kann er keine zwanzig mehr sein. Wahrscheinlich eher so mein Alter.

»Stellvertretende Pressesprecherin und Vizepräsidentin des Vereins, bitte.« Ich beiße mir mit Schmackes auf die Lippe. Lydia Heller. Das hättest du dir sparen können.

»Ja«, sagt die sympathische Stimme hinter der Maske, schaut von seinem Büchlein auf und kann sein Grinsen nicht verbergen: »Ich weiß! Tschuldigung! Frau Vizepräsidentin.« Das V … i … z … e lässt er dabei auf der Zunge zergehen und ich bin mir nicht sicher: Hat er Spaß daran, mich aufzuziehen oder ist er einfach nur genervt, weil ich ihn so überheblich verbessert habe?

»Alles gut«, antworte ich verwirrt. Dass sich bei mir jemand entschuldigt, gehört eher zu den seltenen Ereignissen meines Eintracht-Daseins. Und sein Grinsen hat mich verlegen gemacht.

Er macht mit einer fast schon galanten Bewegung den Weg frei und deutet auf die Eingangstür der Geschäftsstelle. Besser – was von ihr übrig ist. »Herr Homburg erwartet Sie.«

Ich komme mir vor wie in einem falschen Film. Sissi, die junge Kaiserin oder so. Den habe ich ein paar Mal mit Papa gesehen und fand den Großvater, der immer so getan hat, als sei er schwerhörig, echt cool. Und der Polizist vor mir kommt mir gerade vor wie der Oberst Böckl, der Adjutant der Kaiserin, der auch immer so herrlich unterwürfig war. Und eigentlich nur furchtbar verliebt. Wobei ich nicht davon ausgehe, dass dieser Herr Merbolt sich in mich verliebt hat. Herrgott, was denke ich da eigentlich wieder für einen Unsinn zusammen? Vielleicht spielt mir mein Unterbewusstsein diesen Streich, um zu verhindern, dass ich ständig darüber nachdenke, wie ich Severin erreichen kann. Um zu hören, dass es ihm gut geht.

Der Anblick des Eingangsbereichs bringt mich schlagartig zurück ins Leben. Die Scheibe der Tür ist zersplittert. Auf dem Flur liegen überall Scherben herum. Die Vase, die Max von den Chinesen geschenkt bekommen hat, ist in tausend Teile zersprungen. Hier muss ein Kampf stattgefunden haben, schießt es mir durch den Kopf. Hier hat sich eindeutig jemand mit Leibeskräften gewehrt. Gegen was oder wen auch immer. Überall stehen Polizeibeamte herum. Die Mitarbeiter der Spurensicherung in ihren weißen Overalls haben Nummern aufgestellt. Vor dem Empfangstresen untersuchen sie einen dunklen Fleck auf dem Boden. Ist das Blut? Einer der Beamten macht Fotos, ein anderer sprüht irgendeine chemische Substanz auf den Fleck. Sie wollen bestimmt sehen, ob es wirklich Blut ist, schießt es mir durch den Kopf.

Ich gehe an der Kaffeeküche vorbei. Am Boden liegt etwas. Abgedeckt. Wie damals in der Tiefgarage. Aber das ist kein Mensch. Viel zu klein für einen erwachsenen Menschen. Eine Blutlache. Wer um Gottes willen bringt denn sein Kind mit zu einer Weihnachtsfeier? Eine Frau im weißen Overall tritt auf mich zu. »Sind Sie von der Eintracht?« Ich nicke apathisch. »Vielleicht können Sie?«, will sie wissen und zieht das weiße Tuch zur Seite.

»Country! Nein. Nicht Country!«, schreie ich entsetzt auf. Erics Hund. Die Schweine haben ihn mit einem Messer getötet. Es liegt direkt neben ihm. Die Beamtin deutet mit einem fragenden Blick darauf. Ich verstehe. »Ja. Gehört zur Küche«, mache ich einen Schritt auf die Arbeitsplatte zu, öffne die Schublade und zeige ihr den Platz, wo die Messer aufbewahrt werden. Sie nickt. »Welches Schwein würde, statt zu schießen, nach einem Messer suchen, um einen Hund zu töten?«, frage ich entsetzt. »Vielleicht sollte es lautlos geschehen. Aber wir wissen es noch nicht.« Ich höre das, was sie sagt, wie aus weiter Ferne. Wie in Trance und gleichzeitig distanziert. So als würde mein Kopf sich langsam selbst ausschalten.

Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Zieht mich weg.

»Da links, bitte!« Ich habe gar nicht bemerkt, dass mich Merbolt begleitet hat und jetzt direkt hinter mir steht. Er schiebt mich aus der Küche hinaus und dann durch eine halb offene Tür in Max’ Büro.

»Ah. Fräulein Heller. Schön, dass Sie sich die Zeit genommen haben!«

Ich schaue den Mann vor mir erstaunt an. Ist das Homburg?

»Hauptkommissar Homburg. Fräulein Heller. Wir hatten telefoniert.«

Die Welt ist wirklich winzig und spielt ihren Bewohnern merkwürdige Streiche. Es ist keine zwei Stunden her, dass mir mein Vater nach mehr als 30 Jahren endlich gebeichtet hat, wo er und meine Mutter sich tatsächlich zum ersten Mal begegnet sind – nicht im berüchtigten Dorian Gray am Flughafen sonntagmorgens am Ende einer langen Technonacht, sondern nur ein paar Meter von der Stelle entfernt, an der Alfred Herrhausen ermordet wurde. In Bad Homburg. Und jetzt steht ausgerechnet ein Polizist mit dem Namen Homburg vor mir und ist offenbar meine einzige Chance, etwas über Severin zu erfahren. Was ihm passiert ist – und ob er lebt. Und dann bringt es dieser Hauptkommissar Homburg auch noch fertig, mich innerhalb eines Atemzuges gleich zweimal mit Fräulein anzusprechen.

»Sagen Sie einfach Lydia.«

Ich habe keine Lust, ihm den Unterschied zwischen der Anrede Fräulein und Frau zu erklären, Das habe ich im letzten halben Jahr zu oft gemacht. »Lydia genügt.«

Treffer versenkt. Seine Augen zeigen mir, dass er verblüfft ist. Damit hat er wohl nicht gerechnet. Und wahrscheinlich hält er das jetzt für ein Zeichen von Vertrautheit. Dabei ist es mir einfach nur lieber, er sagt Lydia als Fräulein Heller. Noch lieber wäre es mir freilich, ich würde endlich aus diesem Albtraum erwachen.

»Äh. Also. Fräulein Lydia …«

»Einfach nur Lydia, bitte!«

»Ja. Also: Lydia … Wir haben telefoniert. Sie haben diesen Anruf bekommen von Herrn Klemm, nicht wahr?« Sein ›nicht wahr?‹ zeigt mir deutlich, der Mann weiß nichts oder er will mir nicht sagen, was er weiß.

»Sagen Sie mir doch endlich, was los ist, Herr Homburg«, flehe ich beinahe.

»Das ist nicht so einfach … Lydia. Wir wissen es nicht, aber wir werden es herausfinden. Vertrauen Sie mir.«

»Ich soll Ihnen vertrauen? Wirklich? Wie stellen Sie sich das vor. Ich kann ja nicht mal Ihr Gesicht sehen. Mit Ihrer scheiß Maske!«

Jetzt ist Homburg noch verwirrter. Er schnappt mich am Arm und zieht mich aus der Glastür hinaus auf die Tribüne. Wie oft habe ich mit Max hier gesessen und wir haben uns ausgetauscht. Haben Strategien ausbaldowert und dabei auf die mächtige Lichtanlage über dem Rasen geschaut. Der heilige Frankfurter Rasen, den keiner betreten darf, der nicht keimfrei ist. Weil er ja sonst irgendein Rasenvernichtungsbakterium einschleppen könnte. Das gab es schon und ruckzuck war der Rasen gelb und musste ausgetauscht werden. Macht rund 100.000 Euro. Darauf kann jeder Finanzchef eines Fußballvereins gerne verzichten.

Ich schüttle meinen Kopf. Über mich selbst und meine Gedanken und um mich wach und zurück in die Gegenwart zu rütteln. Wie kann man in dieser Situation über den Rasen im Stadion nachdenken?

Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und starre darauf. Weil ich so sehr hoffe, dass Severin anruft und mir sagt, dass alles okay ist.

»Herr Klemm wird nicht anrufen.« Der Ton von Homburg lässt mein Blut gerinnen. »Nein? Woher wollen Sie das wissen?«

»Sein Handy ist abgestellt. Wir gehen davon aus, dass die Täter es entdeckt haben. Aber das heißt ja nichts«, beeilt er sich zu sagen. An meinen Augen hat er wohl erkannt, was der Satz ›Herr Klemm wird nicht anrufen‹ bei mir auslöst. Panik macht sich für einen Moment lang breit. Weil sich ›er wird nicht‹ für mich anhört wie ›er kann niemals mehr‹. Polizisten könnten ein wenig empathischer mit Menschen umgehen.

»Sorry. Das wollte ich nicht!« Homburgs Stimme klingt plötzlich sehr sanft. Er hat seine Maske abgenommen und schaut mich fast schon besorgt an. Ich muss lächeln. Hat er meine Gedanken gelesen? Oder einfach nur erkannt, dass sein Satz völlig daneben war?

»Schon gut. Sie tun auch nur Ihre Arbeit.«

Seine linke Augenbraue erhebt sich fast unmerklich und ich weiß sofort: Diesen Satz will niemand gerne hören. Ich könnte mich ohrfeigen.

»Tut mir leid. Es ist für mich nicht normal, so dumm daherzureden.«

»Schon gut. Die Situation ist ja nun auch alles andere als normal.«

Die Tür wird aufgerissen. »Herr Homburg. Hier ist Ober …«

Weiter kommt der Kollege nicht. Severins Vater schiebt sich an ihm vorbei durch die Tür.

»Sie sind Homburg? Gestatten, Klemm. Oberstaatsanwalt Klemm«, rasselt Severins Vater herunter. Fehlt nur noch, dass er die Hacken zusammenschlägt.

»Schön«, sagt Homburg: »Wir haben auf Sie gewartet. Dann kann’s ja jetzt losgehen.« Mit diesen Worten setzt er seine Maske wieder auf und ruft dem Kollegen nach: »In drei Minuten Lagebesprechung. Am besten gleich hier im Büro. Sagen Sie bitte den anderen Bescheid!«

Ich blicke von einem zum anderen und fühle mich plötzlich sehr klein.

Der Oberstaatsanwalt unterbricht das Schweigen. Jetzt erst scheint ihm aufzufallen, dass ich hier bin.

»Lydia? – Haben sie dich erreicht oder warst du hier dabei?«

Er scheint noch gar nichts zu wissen von Severins Anruf und dem, was im Theatertunnel passiert ist. Ich schaue ihn mit großen Augen an und bin sehr froh, dass Homburg für mich in die Bresche springt.

»Sie ist hier, weil sie einen Anruf Ihres Sohnes bekommen hat. Er war offenbar hier, als das passiert ist, und hat die Täter bis in den Theatertunnel verfolgt.«

»Severin? Aber der wollte doch mit seinen Freunden einen netten Abend haben? Er war doch vorhin noch bei uns.«

»Und ist dann hierhergefahren, um sich mit seinen Freunden zu treffen. Wegen Mics Todestag …«, erkläre ich und zögere, »hier sind dann offensichtlich irgendwelche vermummten Gestalten aufgetaucht, in die Geschäftsstelle eingedrungen und haben – ich weiß nicht wen – entführt oder als Geisel genommen oder … ja, was eigentlich? … Und sind dann wohl geflüchtet.« Ich mache einen Moment Pause. Gehe einen Schritt auf Severins Vater zu. »Severin ist hinterher. Hat sie verfolgt, mich unterwegs angerufen und seinen Standort gesendet. Deshalb weiß die Polizei, dass im Theatertunnel irgendetwas passiert sein muss.«

»Wir haben dort ein ausgebranntes Fahrzeug und den Wagen Ihres Sohnes vorgefunden«, ergänzt Homburg. »Aber keine Toten oder Verletzten.«

Severins Vater braucht offenkundig ein paar Sekunden, um das Gehörte zu verdauen.

»Warum macht der Junge immer wieder sowas?«, murmelt er, »warum?«

Trotz der Maske ist zu sehen, dass alles Blut aus seinem Gesicht gewichen ist, er ist kreidebleich. Seine Augen, die eben noch energisch geblitzt haben, sind leer.

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