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Ich habe meine Dissertation und meine Habilitation nicht abgeschrieben, sondern unter harten Umständen – als nicht deutschsprachige Forscherin und Mutter von zwei Kindern – in jahrelanger mühsamer Arbeit erarbeitet. Ich bin stolz auf meine Leistung. Ich möchte meine Leistung respektiert sehen.

Meine Situation im Krankenhaus empfand ich als extrem erniedrigend. Es ist peinlich genug, sich von wildfremden Männern (warum gibt es noch immer so wenig Frauenärztinnen, Himmelherrgott?), die ich nie zuvor gesehen habe, die Brüste und das Innenleben begutachten zu lassen. Die Angelegenheiten, die mit meinem Körper zusammenhängen, sind etwas sehr Intimes für mich, und ich erwarte, dass die Ärzte sich dessen bewusst sind. Wird einem in so einer Situation auch noch der Titel stillschweigend weggenommen, ist es, als ob man nur auf den NICHT FUNKTIONIERENDEN Körper reduziert wäre. In meinem Fall schrumpfte mein ganzes Dasein auf den Knoten in meiner Brust zusammen. Ich fühlte mich beschämt und sehr verletzt.

»Wie geht es ihnen, Frau Glüxam«, fragt der Kopf der Visite. »Super«, antworte ich mit Mühe, ohne auch nur für einen kurzen Moment aufzublicken. Wenn man Respekt erfahren will, Herr Primar, muss man sich selbst respektvoll benehmen. Er wie ich, beide haben wir in unserer Laufbahn die höchste akademische Qualifikation erreicht, die man erreichen kann. Ich sehe nicht ein (seit ich meine Person nicht mehr ausschließlich über meine Leistung definiere, noch viel weniger), warum ich von ihm von oben herab behandelt werden sollte. Ich weiß zwar nicht viel über Brustkrebs, bin aber auf einem anderen Gebiet top und verfüge außerdem noch immer über den Körper, über den gesprochen wird. Es geht mir durch den Kopf, dass der Besitz von Sachgegenständen offenbar allgemein weitaus mehr Wertschätzung hervorruft.

Da ich mit den Tränen kämpfe, sehe ich mich nicht in der Lage, meine Rechte einzufordern. Herrn Primar entgeht allerdings nicht der sarkastische Ton in meiner Stimme. Offenbar, um das Gesicht vor seiner kopfnickenden Mannschaft zu bewahren, geht er auf mich los. Es rollt eine verbale Lawine über mein Haupt, welche die letzten Reste meiner Selbstbeherrschung wegspült. Während ich hemmungslos weine, hält er mir einen Vortrag: »Wenn sie wollen, dass wir ihnen helfen (er spricht die Worte »Sie« und »Ihnen« hörbar mit kleinen Buchstaben aus), müssen sie (schon wieder ein kleines »s«) mit uns in Kontakt treten!« Mein Problem ist allerdings, dass ich NICHT WILL, dass mir JEMAND HILFT. Ich will nämlich nicht krank sein, ich will nicht auf der Krebsstation sein, ich will nicht operiert werden. Da die Ereignisse so rasend schnell über mich herfielen, bin ich noch überhaupt nicht in der Lage, meine Krankheit zu AKZEPTIEREN.

Der gute Herr Primar, trotz seiner sechshundert Jahre Berufserfahrung, steht also komplett daneben. Kein Mensch, nicht einmal der Herr Primar, hat das Recht über jemanden zu urteilen, der sich gerade ganz offenkundig in der schlimmsten Phase seines Lebens befindet. Eine anwesende Schwester, für mich in jenem Moment ein auf der Erde niedergelassener Engel, traut sich, leise zu piepsen: »Der Dame geht es nicht gut …« – »Ja, das sehe ich, dass es ihr nicht gut geht (mit drei Ausrufzeichen)!« Wie er aber mit Patientinnen umgehen muss, um eine Vertrauensbrücke zu bauen und ihnen tatsächlich helfen zu können, das hat er ganz offenkundig trotz seines fortgeschrittenen Alters noch nicht gelernt.

»Am schnellsten läßt sich Vertrauen und Unabhängigkeit des Patienten herstellen, wenn man ihn menschlich behandelt, seinen Schmerz mit ihm teilt und es vermeidet, die Rolle eines Lebenrettungsmechanikers zu spielen.« (Bernie S. Siegel, Prognose Hoffnung, S. 175).

Ich verlasse fluchtartig das Zimmer. Mein Mann, der mir die ganze Zeit nicht von der Seite gewichen ist, läuft mir nach. Auf dem Gang nimmt er mich in den Arm und sagte: »Du kannst gar nicht reden, stimmt’s?« Er hat recht. Ich fühlte mich unglaublich erniedrigt und gedemütigt. Noch monatelang beherrscht dieses Erlebnis meine Träume und meinen Alltag.

Ich ahne jedoch nicht, dass dies erst der Anfang ist. Man schickt mir zwar sofort eine Psychologin, eine junge Dame mit einer beeindruckenden Oberweite (das Schicksal hat offenbar beschlossen, mich ordentlich durchzurütteln), die aber eben erst ihre Ausbildung beendet hat. Sie bemüht sich ehrlich um mich, ich merke aber schnell, dass sie meiner Sache nicht gewachsen ist. Ich verstehe nicht, warum man einerseits Geld für einen Psychologen ausgibt, andererseits aber diese Stelle mit einer Person besetzt, die schon aufgrund ihres Alters die ihr gestellte Aufgabe – Betreuung von todkranken Menschen – vermutlich nicht bewältigen kann. Das Gespräch mit ihr kommt mir vor, als ob sie am Strand Eis schleckend seelenruhig einen kommenden Tsunami betrachten würde. Ich brauche echte Hilfe, aber die bekomme ich erst ein halbes Jahr später, und zwar anderswo.

Noch immer ohne Frühstück, komplett geschwächt, werde ich zur Biopsie geführt. Man verspricht mir, dass ich nichts spüren werde. Stattdessen habe ich das Gefühl, dass ich bei lebendigem Leibe durchbohrt werde. Man hat offenbar zu früh begonnen, noch bevor die Anästhesie vollständig wirken konnte. Ich brülle wie am Spieß, der offenbar ratlose Arzt, der schlecht deutsch spricht und auf die Fragen meines Mannes nicht verständlich antworten kann, gießt zusätzliches Anästhetikum in meine Venen hinein. Und zwar so viel, dass ich kurz danach kollabiere.

Noch bevor das passiert, verlange ich, dass man mich über solche Untersuchungen ordentlich aufklärt. Hätte ich gewusst, was mir bevorsteht, hätte ich der Untersuchung nur mit Vollnarkose zugestimmt.

Dienstag, 15. Juli 2008

Heute hätte ich nach Mailand fliegen sollen. Stattdessen fliege ich ungebremst auf den Abgrund meiner Seele zu. Der Tag ist mit Warten auf die Befunde ausgefüllt. Am Vormittag rede ich noch mit der Psychologin. »Sagen sie bitte ihren Kollegen, dass ich künftig adäquat aufgeklärt werden möchte«, deponiere ich noch einmal überdeutlich. Das hätte ich nicht machen sollen. Oder vielleicht doch und noch deutlicher?

In den späten Vormittagsstunden sagt mir mein Mann, dass auch bei ihm ein Verdacht auf eine schwere Erkrankung bestehe. Nach der Erfahrung mit mir weigert er sich aber standhaft, sich einer Biopsie zu unterziehen. (Erst etwa zwei Jahre später (!), die er zum Teil mit einer strengen Diät verbrachte, konnte mit den neuesten diagnostischen Methoden Entwarnung gegeben werden.) Ich fühle mich wie in einem schrecklichen Horrorfilm, aus dem es kein Entrinnen gibt. Noch immer hoffe ich, dass die bevorstehenden Untersuchungen zeigen werden, dass alles ein Irrtum war und ich kerngesund bin. Es passiert doch immer wieder, dass Befunde vertauscht werden, rede ich mir ein.

Woran soll ich eigentlich zuerst denken? An meine frisch operierte Mutter mit ihren hunderttausend Beschwerden? Ich habe sie nach ihrer Operation gar nicht angerufen, war allzu sehr in meinem eigenen Lebenskampf verstrickt. Ich hätte es nicht geschafft, während des Gesprächs nicht in Tränen auszubrechen.

Oder soll ich lieber an die bevorstehende Operation und die Schmerzen denken, vor denen ich mich entsetzlich fürchte? Als ich zwanzig war, wurde ich am Blinddarm operiert. Man hatte mit der Operation offenbar zu früh begonnen, denn ich war zwar bereits narkotisiert, konnte aber noch den ersten Schnitt mit dem Skalpell in meine Bauchdecke spüren, ein Erlebnis, das bis heute nicht verblasst ist. – Diese Ohnmacht, wenn man Schmerzen spürt, sich aber nicht wehren kann. Ich habe panische Angst davor, dass es wieder passieren wird.

Oder soll ich an meinen Mann denken, der vielleicht ebenso schwer krank ist wie ich? Oder an meine elfjährige Tochter, deren Welt sich in wenigen Stunden auf drastische Weise verändert hat? Das Leben ihrer beiden Eltern scheint ernsthaft bedroht zu sein. Ich weiß nicht, wie es wirklich um mich steht, ob sich in meinem Körper bereits Metastasen verbreiten, ob ich überleben werde oder nicht. All das wissen die Doktoren auch nicht, die wenig später über mich urteilen. Sie fragen nicht nach dem Grund meiner äußerst labilen Verfassung.

Es wird vereinbart, dass ich am Nachmittag die Ergebnisse der Biopsie erfahre. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass ich doch zu den wenigen Fällen auf der Welt gehöre, bei denen sich ein ganz böse aussehender Tumor in eine harmlose Laune der Natur verwandelt. Ich warte mit »meiner« Psychologin in einem Besprechungszimmer, mein Mann verspätet sich etwas. So kann er nicht miterleben, zu welchen Taten seine Kollegen fähig sind.

»Die Urteilsverkünder kommen«, sage ich sarkastisch zur Psychologin, noch nicht ahnend, dass ich mir gleich noch viel mehr anhören muss als die schreckliche Diagnose. Die wird mir, genauer gesagt, eigentlich gar nicht mitgeteilt. Da ich es gewohnt bin, zwischen den Zeilen zu lesen, verstehe ich die Hiobsbotschaft aus dem Zusammenhang. »Alle meine Kollegen sind sich einig, dass ihre (mit kleinem »i«) Schwierigkeiten nicht im psychologischen, sondern im psychiatrischen Bereich liegen (auf Patientisch: = ich bin bescheuert) … Seit fünfzehn Jahren werden diese Untersuchungen durchgeführt und noch nie ist ein vergleichbarer Fall passiert (= nur ich bin bescheuert, alle anderen sind normal). Wir sind uns nicht sicher, ob sie (kleines »s«) zurechnungsfähig sind, und deshalb können wir sie nicht operieren (= da ich bescheuert bin, wäre es am besten, wenn ich gleich sterben würde. Patienten, die Probleme machen, können wir hier nicht gebrauchen).« Ungeheure Wut bäumt sich in mir auf. Ich fange an zu schluchzen, versuche dabei gar nicht mehr, mich irgendwie zu beherrschen.

Am schlimmsten ist aber in jenem Moment, dass »meine« junge vollbusige Psychologin einträchtig mit ihren Kollegen im Vier-Viertel-Takt nickt. Ich fühlte mich verraten in einem gigantischen Vertrauensbruch. Im Nachhinein begreife ich, dass sie in ihrer instabilen Position offenbar viel mehr an der Fortsetzung ihrer Karriere als an der Loyalität mir gegenüber interessiert ist. Ein Grund mehr, derartige Posten mit Menschen zu besetzen, die ihren beruflichen Ehrgeiz bereits anderswo befriedigen konnten. Im Geiste hätte ich sie am liebsten auf den Mond geschossen. Sieben gegen eins. Fünf Ärzte, eine Krankenschwester und sie, alle gegen mich.

Der Psychiater, ein älterer Herr mit Brille, kommt bereits einige Minuten später. Ich schildere ihm kurz und in klaren Sätzen, was passiert ist: dass ich auf den Befund gewartet habe, dessen Inhalt mir gar nicht gesagt wurde, dass stattdessen die Ärzte bereits begonnen hatten, den Termin der Operation zu besprechen, dass mir offiziell noch gar nicht mitgeteilt worden war, dass ich Krebs hatte! Die Ärzte waren mir seit Beginn meines Aufenthaltes im Krankenhaus und ohne sich dessen bewusst zu sein um zwei Schritte voraus gewesen. In ihrer alltäglichen Routine, in der sie nichts anderes taten, als Frauen mit Brustkrebs zu behandeln und Chemotherapie zu verabreichen, war ihnen entgangen, dass mein Wissensstand und meine Kenntnis der Situation nicht im Geringsten mit der ihren übereingestimmt hatte. Auch unterschied sich mein Fall deutlich von anderen, in denen Frauen mehr Zeit gehabt hatten, mit ihrer niederschmetternden Diagnose irgendwie zurechtzukommen. Anstatt mir zumindest Zeit zum Aufatmen zu lassen, hatten die Ärzte mich hinter sich her geschleift wie einen zu reparierenden Gegenstand.

Der Besuch des Psychiaters dauert höchstens fünf Minuten. Er schüttelt nach meinem Bericht den Kopf. Nach der Krankenschwester in der Früh die erste menschliche Reaktion des Tages. An seinem Gesichtsausdruck merke ich, dass er von meinem gesunden Urteilsvermögen mehr als überzeugt ist. Er verspricht, sein psychiatrisches Gutachten schnell weiterzuleiten. »Das ist alles, was ich für Sie jetzt tun kann«, sagt er. »Das reicht mir, danke vielmals«, verabschiede ich mich von ihm.

Er schließt hinter sich die Tür. Ich bleibe sitzen und warte, was passieren wird. Es passiert tatsächlich etwas, und zwar sofort. Auf einmal spüre ich, wie diese unverschämten Anschuldigungen, diese himmelschreiende Arroganz und Ungerechtigkeit mich aus meinem Schock, aus meiner Erstarrung herausreißen. Plötzlich spüre ich eine Zuversicht und Kraft, die ich mir noch vor ein paar Minuten nicht hätte vorstellen können. Mir schießt die Technik der paradoxen Intervention durch den Kopf, einer Vorgangsweise in der Psychotherapie, bei der die Patienten absichtlich seelisch erschüttert werden, um auf diese Weise ihre durchlebten Traumata zu lösen. Ich glaube jedoch nicht wirklich an eine Absicht. Zu raffiniert wäre das für die brutalen Krankenhausumstände, in denen Technik und messbare Daten längst den wahren Zugang zum Patienten verstellt haben. Vielmehr sind meine Schutzengel erwacht, ist meine Urkraft zurückgekehrt. Die Angst ist weg und ich bin mir plötzlich ganz sicher, dass alles gut gehen wird.

Bald danach kommt Christian. Er merkt sofort die Veränderung. Es bleibt nur die Angst, dass die Operation wegen des mir zu Unrecht bescheinigten Verrücktseins tatsächlich verschoben wird.

Dann kommt per SMS (Gott lobe die Mobiltelefonie!) die erlösende Nachricht von meinem Frauenarzt: »Die Operation ist für morgen festgesetzt, ich komme zu Ihnen.« Mein Mann schaltet seinen Laptop ein und wir suchen gemeinsam nach Informationen im Internet. Ich bin zum ersten Mal bereit, mich mit meiner Krankheit zu beschäftigen. Wir lesen gemeinsam die Berichte betroffener Frauen und ich merke, dass ich mich gar nicht abartig verhalte. Diese Erkenntnis verschafft mir spürbare Erleichterung. Ich bin normal. Mein Körper versagt mir zwar den Dienst, mein Verstand funktioniert aber noch voll und ganz.

Abends um halb neun kommt endlich mein Frauenarzt, der uns den Verlauf der Operation erklärt. Als ich erfahre, dass er mich gemeinsam mit seinem Kollegen (mit demjenigen, der mich Stunden vorher auf einen Schandfleck in der Geschichte des Krankenhauses dezimiert hatte) operieren wird, bin ich dankbar und erleichtert zugleich. Mein Frauenarzt hat eine buchstäblich narkotisierende Wirkung auf mich. Seine Ruhe und Gelassenheit bewirken, dass mich selbst die von ihm als sehr wahrscheinlich eingestufte Chemotherapie nicht mehr aus dem Gleichgewicht bringen kann. Ich bedauere, dass er nicht auf der Station beschäftigt ist. Stattdessen werde ich in den kommenden Monaten zu spüren bekommen, wie es ist, eine Privatpatientin von »jemand anderem« (also nicht von den Stationsärzten) zu sein. Der Konkurrenzkampf und die manchmal gar nicht subtilen Reibereien zwischen den »Kollegen« lassen mich an meine eigenen Erfahrungen denken, mit dem Unterschied, dass es in der Musikwissenschaft nicht um Menschenleben geht. Als Patientin mit chemotherapeutischen Infusionen in den Adern fühlt man sich zwischen den Fronten wie zwischen zwei Mühlsteinen.

Mittwoch, 16. Juli 2008

Die Vorfälle der letzten Tage, die mir den Ruf einer in der Geschichte des Krankenhauses einmalig sonderbaren Patientin verschafft haben, führen offenbar dazu, dass ich wie ein rohes Ei behandelt werde. Ich könnte nicht sagen, dass dies meine Absicht war, aber vielleicht rütteln meine Emotionen auch an jenen des behandelnden ärztlichen Personals.

In der Nacht schlief ich tief. Die letzten fünf de facto schlaflosen Nächte bewirken, dass ich am Operationstag nicht in der Lage bin aufzuwachen. An meinem Bett hängt ein Schild »nüchtern«, das mich vom Frühstück befreit und mir zusätzliche Zeit im Bett erlaubt. Ich bemühe mich aufzustehen, um auf die Toilette zu gehen. Dann schlafe ich wieder ein.

Ein ziemlich junger Anästhesist, der mich unglaublich an meinen Freund Christoph erinnert (gutes Zeichen), kommt und erklärt mir den gesamten Verlauf der Operation. Er verspricht mir, dass ich keine Schmerzen spüren werde und ich glaube ihm. Er konnte sein Wort tatsächlich halten. Leider habe ich es verabsäumt, mich rechtzeitig nach seinem Namen zu erkundigen, um mich bei ihm bedanken zu können.

Ich schlafe wieder ein. Die Schwester weckt mich, um mich für den OP umzuziehen. Ich schlafe. Keine Spur von Nervosität oder Angst, ich bin zu erschöpft, um aufgeregt zu sein. Wie der Operationssaal aussieht, kann ich nicht feststellen. Ich höre nur eine weibliche Stimme, die meinen Namen ruft. Die Schwester glaubt, dass ich bereits narkotisiert bin. Den Stimmen nach fahren verschiedene Personen mit meinem Bett herum.

Offenbar einige Stunden später: Ich komme mir vor wie ein Nudelsieb. Überall in meinem Körper sind Löcher und Schläuche. Ich bestelle eine Rindsuppe und kann eine halbe Stunde später aufstehen.

Donnerstag, 17. Juli 2008

In der Früh kommt mein Frauenarzt zu mir. Erst jetzt nehme ich bewusst wahr, dass er mich in seinem Urlaub operiert hat. Wie vielen Menschen habe ich um Gottes Willen heuer schon den Urlaub verdorben?

Lucas kommt. Ich habe Angst vor der Chemo und den grauenhaften Nebenwirkungen. »Wir wollen dich haben, alles andere ist egal«, sagt er. Mein Sohn ist mit seinen zwanzig Jahren emotionell reifer als der Herr Primar.

Die erste Veränderung, die ich nach meinem Wachwerden veranlasse, ist der Wunsch nach einer anderen Psychologin. Die bekomme ich auch tatsächlich Tage später. Sie empfiehlt mir Antidepressiva. »Wann, wenn nicht jetzt?«, fragt sie mich. Nie, denke ich, während ich das Rezept in meine Handtasche stecke.

Montag, 21. Juli 2008

Visite mit dem Herrn Primar. Er versucht, mit mir zu scherzen. Seine Bemühungen bleiben ohne Erfolg. Ich möchte nicht scherzen. Ich möchte mich nicht bemühen. Das ist zwar unhöflich, aber ganz wichtig für meine Genesung.

Ich schreibe und das tut mir gut. Meine schweigsame Zimmergenossin, mit der ich die Geburtenstation besucht hatte, verlässt das Krankenhaus. Statt ihr kommt eine ungefähr vierzigjährige mollige und resche Dame. Sie ist bestens gelaunt, scherzt mit den Krankenschwestern, während ich noch tiefer in meinem Ich versinke. Ich will mit niemandem reden.

Ich habe viele Patientinnen im Krankenhaus erlebt. Jede Patientin verhielt sich angesichts ihres gefährdeten Lebens anders. Das muss erlaubt sein.

Am Nachmittag schleppe ich mich durch das Krankenhaus zum Knochenscan. Das Gerät verursacht in mir eine Riesenangst. Als der große Teil direkt über meinem Kopf landet, ergreift mich Panik. Der Arzt steht neben mir, hält meine Hand und sagt auf die Sekunde genau, wie lang ich dieses Martyrium noch durchstehen muss. Drei Minuten Ewigkeit. Danach warte ich auf den Befund. Eine nette und höfliche japanische Ärztin versichert mir, dass meine Knochen schön und symmetrisch und ganz ohne Auffälligkeiten seien. Juchhe! Keine Knochenmetastasen. 1 : 0 für mich!

Die neue Patientin nimmt im Gegensatz zu mir Schlafmittel und schläft tief und fest. Ihr vitales Schnarchen bringt mich zur Verzweiflung. Ich mache Lärm, um sie aufzuwecken, jedoch ohne Erfolg. Dafür aber erfahre ich beim Ultraschalltermin am nächsten Tag, dass meine Leber wunderschön sei. Höchste Zeit also, sie mit einer Chemotherapie zu quälen.

Dienstag, 22. Juli 2008

In der Früh werde ich von einem Helfer des Krankentransports aufgeweckt, der meine neue Bettnachbarin zur OP bringen soll. Ich dagegen gehe auf die Dermatologiestation. Ich bin hellhäutig und habe viele Muttermale, werde irgendwie sensibler auf meinen Körper. Im Keller sitzend muss ich trotz des fixierten Termins eine Stunde lang warten. Bis mir schlecht wird. Ich melde gequält meine Übelkeit und siehe da, plötzlich komme ich an die Reihe. Man sollte frisch operierte Patienten doch lieber nicht auf einem harten Plastiksessel und ohne anständige Lüftung so lang warten lassen. Dann Entwarnung. Meine Haut scheint (noch) in Ordnung zu sein … 2 : 0 für mich!

Mittwoch, 23. Juli 2008

Heute werde ich entlassen. Nach dem Frühstück ruft mich mein Frauenarzt an und bespricht mit mir die Einzelheiten bezüglich der geplanten Chemotherapie. Als ich versuche, das Handy fest am Ohr, jedes Wort aufmerksam aufzunehmen, kommt die Visite. Ich deute an, dass ich gerade nicht kann (3 : 0 für mich).

Nach der Visite, die meinerseits wie üblich einsilbig verlaufen ist, versuche ich, auf dem Gang mein Tagebuch weiterzuschreiben. In dem Augenblick, als ich meinen Laptop hochfahre, steht mein Operateur neben mir. Ich bin zu einem Waffenstillstand bereit. Angesicht der Tatsache, dass er mich mit seinem entsetzlichen Verhalten aus meiner Schockstarre geholt hat, entscheide ich mich großzügig, ihm zu vergeben. Wir reden darüber und ich sage ihm, dass ich mich aufgrund seiner, wenn auch nicht beabsichtigten, »paradoxen Intervention« entschieden habe, ihn nicht wegen seelischer Grausamkeit zu klagen. Er sieht mich verwundert an und versteht gar nichts. Er möchte mir gleich die Nähte entfernen. Irgendwie bin ich aber noch nicht so weit, denn ich habe das Gefühl, dass mein Körper und auch meine Seele noch eine Weile irgendwie – zumindest mit Nähten – zusammengehalten werden müssen.

Während des Ziehens der Nähte plaudern wir ein wenig. Er erzählt von den Arbeitsumständen im Krankenhaus und mir wird bewusst, dass er wie jeden Tag auch an jenem Nachmittag selbst unter massivem Druck stand. Nach einigen Operationen, die er an jenem Tag absolvieren musste, wurde er mit meiner zusammengebrochenen Welt konfrontiert. Einen Menschen in meiner Lebenslage konnte er nicht mehr verkraften. Viel Arbeit, viel Stress, wenig Bezahlung … wir lesen es schließlich fast täglich in der Zeitung. Ich schätze die Situation also richtig ein. Jeder Täter ist zugleich auch ein Opfer. Ich entscheide mich, diesem Mann definitiv zu verzeihen, nicht zuletzt weil er als Operateur exzellente Arbeit geleistet hat.

Aber ich erzähle ihm in aller Ruhe meine Sicht der Dinge. Davon, dass ich mit dem Kopf nach vorn und ganz ohne Vorwarnung ins eisige Wasser geworfen wurde. Wie ich gar nicht zum Nachdenken, geschweige denn zur Bewältigung der Situation kommen konnte. Am Freitagnachmittag die Diagnose, am Montag der Beginn des Martyriums. Und davon, was ich inzwischen von anderen Patientinnen, über das Internet oder direkt im Krankenhaus erfahren habe. Es geht uns Patientinnen allen gleich, mit dem Unterschied, dass andere Frauen sich vielleicht etwas länger mit der neuen Situation auseinandersetzen konnten. Und er sagt mir, dass er dies in dieser Form noch von keiner Patientin gehört hat. Kann es sein, dass nicht nur die Ärzte mit den Patienten, sondern auch die Patienten mit den Ärzten zu wenig reden?

Die Zeit bis zum Termin bei meiner neuen Psychologin verbringe ich auf dem Gang sitzend. Plötzlich überfällt mich Schwermut. Ich kann nicht lesen, auch nicht schreiben, bin noch immer wie erstarrt. Eine indische Schwester kommt zu mir, hält mich an der Hand und versucht, mir Mut zu geben. Ihre Schwester traf ein ähnliches Schicksal, vor vier Jahren. Sie sagt mir, dass ich es mit Beten versuchen solle und strahlt dabei so viel Menschlichkeit aus, dass mir warm ums Herz wird.

Zurück auf der Station, warten schon mein Mann und meine Tochter auf mich. Ich habe Angst davor, nach Hause zu kommen. Ich habe Angst davor, dass ich mein Leben so, wie wir es immer gelebt haben, nicht mehr bewältigen kann. In der Garage des Krankenhauses wird mir schlecht und ich habe Angst umzukippen. Während der Autofahrt sprechen wir fast nicht. Zu Hause angekommen bin ich überrascht von der Ordnung. Alles ist sauber, die Wäsche gewaschen. Ein ausgezeichneter Stachelbeerkuchen (den ich nicht selber backen musste) und grüner Tee (wegen Antioxidantien) stehen auf dem Tisch. Mein Mann sah die vielen reifen Stachelbeeren im Garten und fand ein Rezept im Internet. Ich sehe, ein neues Zeitalter ist angebrochen.

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Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
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468 стр. 15 иллюстраций
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9783709500330
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