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»…und wenn einer mich fragte, wohin ich gehöre, ich würde antworten: eine jüdische Mutter hat mich geboren, Deutschland hat mich genährt, Europa mich gebildet, meine Heimat ist die Erde, die Welt mein Vaterland.«

Ernst Toller, Eine Jugend in Deutschland105

3. »Zu bitterem Salz erstarrte Vergangenheit«106 – Exil und Autobiographie

Im folgenden Kapitel wird der historische und literaturtheoretische Hintergrund vorgestellt, der für die Lektüre und Interpretation von Morgensterns Texten von Bedeutung ist. Es wird die Problematik der deutschen und österreichischen Emigration und insbesondere die der sogenannten literarischen Emigration während der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland erläutert. Hierbei kann es sich nur um einen kurzen Abriß handeln. Eine ausführliche Darstellung dieser äußerst komplexen und umfangreichen Phase der deutschen Literatur und des literaturwissenschaftlichen Teilbereichs, der sich mit ihrer Erforschung befaßt, ist in dem begrenzten Rahmen nicht möglich und wird auch nicht angestrebt.

In bezug auf das Thema der vorliegenden Arbeit – Soma Morgenstern und seine ›autobiographischen Schriften‹ – ist von Interesse, inwiefern Morgenstern ein typisches Emigrantenschicksal erfahren und inwieweit das Exil sein Schreiben beeinflußt hat. Der Blick geht hier vom Allgemeinen zum Individuellen. Ebenso soll hinsichtlich der Exilforschung verfahren werden. Auf eine Auflistung von Forschungsliteratur wird verzichtet. Statt dessen soll eine repräsentative Auswahl wissenschaftlicher Publikationen daraufhin untersucht werden, wo und in welchem Zusammenhang Morgenstern Erwähnung findet. Im zweiten Teil des Kapitels wird der Blick auf eine besondere literarische Erscheinungsform der Exilliteratur gelenkt: auf die sogenannte Exil-Autobiographie. All dies geschieht immer und in erster Linie in Hinsicht auf Morgenstern und seine autobiographischen Texte.

»Unter deutscher Literatur im Exil versteht der Verfasser die in deutscher Sprache geschriebene Literatur, die von den Nazis in ihrem dritten Reich und in den von ihnen überfallenen und vergewaltigten Ländern (Österreich, Tschechoslowakei usw.) geächtet wurde. Dieser Literatur ist die Muttersprache und das Exil gemeinsam. […] Die deutsche Literatur im Exil zählt zu ihren Autoren Deutsche, Österreicher, Tschechoslowaken, Ungarn, Amerikaner, Schweizer. Sie umfaßt, kurz gesagt, sowohl Schriftsteller, die von den Nazis ins Exil getrieben wurden, wie auch solche, die sich zwar (für einige Zeit oder ständig) außerhalb des Machtbereichs der Nazis befanden, also nicht in persona emigrieren mußten, deren Werke jedoch bis zum Anbruch der Naziherrschaft in Deutschland gedruckt oder aufgeführt und nachher mit Bann belegt wurden.«107

Diese Passage stellt der aus Prag stammende Schriftsteller Franz Carl Weiskopf als ›Vorbemerkung‹ an den Anfang seines ›Abri[sses] der deutschen Literatur im Exil 1933–47‹, den er im Jahr 1948 unter dem Titel Unter fremden Himmeln veröffentlichte. Der seit 1927 in Berlin ansässige Weiskopf hatte Deutschland im Jahr 1933 verlassen müssen und zählt somit selbst zu der großen Schar von Schriftstellern, deren Werke, wie er schreibt, von den Nazis ›mit Bann belegt‹ wurden. Als ein Autor, der die Erfahrung von Exil und Ächtung am eigenen Leib erleben mußte, berichtet er aus persönlicher Erfahrung. Seine Lesart des Begriffs der Exilliteratur liefert somit nicht nur eine abstrakte Definition, sondern gibt auch einen Einblick in das Selbstverständnis der Exil-Autoren.

Weiskopf beschreibt Exilliteratur als »von den Nazis geächtete« Literatur. Er begrenzt mit dieser Definition den Gültigkeitsbereich des Begriffs auf die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland. Das ist aus Weiskopfs Sicht durchaus verständlich, schließlich schreibt er über die Phase deutscher Exilliteratur, die er selbst erlebt hat. Es darf dabei dennoch nicht übersehen werden, daß sich das Gebiet der Exilliteratur keineswegs auf die zwischen 1933 und 1945 produzierte Literatur beschränkt. Exil- oder Emigrantenliteratur gibt es, wenn man so will, seitdem es Literatur gibt. Werner Vordtriede vertritt in seinen ›Vorläufige[n] Gedanken zu einer Typologie der Exilliteratur‹ sogar den Standpunkt, mit der bloßen Existenz von ›Reichsgebilden‹, wie er es nennt, gehe die des Exils zwangsläufig einher, »denn jede Machtgründung begründet die Exilmöglichkeit sofort mit.«108

Wenn Weiskopf schreibt, die entscheidenden Merkmale der deutschen Exilliteratur seien das Exil und die Muttersprache, so muß seine Definition auf sämtliche im Exil verfaßten Werke der deutschen und anderssprachigen Literatur erweitert werden. So zählen auch die Werke Ovids oder Dante Alighieris, die diese in der Verbannung verfaßten, zum Bereich der Exilliteratur.109 Desgleichen betont der Leiter der ›Hamburger Arbeitsstelle für deutsche Exilliteratur‹, der Literaturwissenschaftler Fritjhof Trapp, in seiner 1983 veröffentlichten Studie Deutsche Literatur im Exil, daß »das Exil 1933–1945 kein historischer Einzelfall ist«110.

Der Terminus ›Emigrantenliteratur‹ stammt aus dem 19. Jahrhundert. Er geht zurück auf den dänischen Schriftsteller und Literaturhistoriker Georg Brandes, der diesen Begriff erstmals im Jahr 1871 für die Werke der von Napoleon I. aus Frankreich verbannten französischen Schriftstellerin Madame Germaine de Staël und des mit ihr befreundeten Benjamin Henri Constant de Rebecque prägte. Ihre mit Abstand ›ertragreichste‹ Phase erlebte die deutschsprachige Exilliteratur allerdings tatsächlich in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft von 1933 bis 1945. Nie zuvor – und auch nicht danach – wurden so viele deutschsprachige Schriftsteller gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und ins Exil zu gehen. Der Mitbegründer und damalige Geschäftsführer der in New York ansässigen ›American Guild for German Cultural Freedom‹ (Deutsche Akademie im Exil), Volkmar Zühlsdorff, beschreibt den ›kulturellen Aderlaß‹111 jener Tage mit folgenden Worten: »Es entsprach einer geistigen Enthauptung Deutschlands. Das geistige Haupt Deutschlands war draußen. Im Ganzen waren es über eine halbe Million – sechshunderttausend Exilierte, und darunter Zehntausende von Intellektuellen. Es sind ja erstaunlicherweise relativ wenige verhungert. Viele haben Selbstmord begangen.«112

Die unvergleichlich große Zahl namhafter Schriftsteller, Wissenschaftler und Politiker, die zwischen 1933 und 1945 vom nationalsozialistischen Regime ins Exil getrieben wurden – allein die geschätzte Zahl der Schriftsteller und Journalisten beläuft sich auf nahezu 3000, dazu kommen noch viele Tausend aus den Bereichen Politik, Wissenschaft und Wirtschaft –, erklärt und rechtfertigt die Gepflogenheit, den Begriff ›Exilliteratur‹ stellvertretend für die zwischen 1933 und 1945 im Exil produzierte Literatur zu verwenden. Diese Gleichsetzung ist auch im Rahmen der Exilforschung üblich. Auch Frithjof Trapp faßt in seinem Artikel im Literaturwissenschaftlichen Lexikon unter dem Begriff der Exilliteratur »diejenigen künstlerischen und nicht-künstlerischen Texte« zusammen, »die von politischen Gegnern des NS-Regimes bzw. von aus politischen oder rassenideologischen Gründen Verfolgten zwischen 1933 und 1945 verfaßt wurden und außerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftsbereichs entstanden bzw. erschienen sind.«113 Da die Exilliteratur zwischen 1933 und 1945 auch jene Teilphase erfaßt, die für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung ist, soll der Begriff Exilliteratur im folgenden synonym für die Literatur verwandt werden, die in diesem Zeitraum außerhalb des Dritten Reiches von deutschsprachigen, exilierten Schriftstellern verfaßt wurde

Der von Volkmar Zühlsdorff als »geistige Enthauptung Deutschlands« bezeichnete Vorgang, der 1933 mit Hitlers ›Machtergreifung‹ seinen Anfang nahm, hatte zur Folge, daß sich außerhalb Deutschlands sehr bald Zentren der deutschen Exilliteratur bildeten. Zu den bevorzugten Zielen der Emigranten gehörten zunächst Städte und Länder, die im benachbarten europäischen Ausland lagen, vor allem Zürich, Paris, Amsterdam, London und Prag. Noch hofften viele auf eine Möglichkeit zur baldigen Rückkehr in ihre Heimat. Vor dem Zusammenbruch Frankreichs im Juni 1940 entwickelte sich Paris zu einem der wichtigsten Zentren der Emigranten. Joseph Roths angestammter Tisch im Café Tournon wurde zu einem wichtigen Treffpunkt der österreichischen Emigranten. Morgenstern lebte ebenfalls im Hôtel de la Poste, zu dem das Café gehörte, und war allein schon infolge seiner engen Freundschaft zu Roth Teil dieser Exilantengruppe. In seinen Erinnerungen an Joseph Roth widmet er dem alltäglichen Zusammentreffen der Emigranten im Café Tournon ein eigenes Kapitel: ›Joseph Roths Entourage‹.114

Auch der österreichische Unternehmer und Germanist Conrad Lester schildert in seinem Aufsatz ›Probleme der österreichischen Literatur in der Emigration‹ Roths Stammtisch im Café Tournon: »Ohne daß etwas ausgesprochen worden war, fühlte ich nach einer Stunde, daß in diesem von Kitsch, Tabakqualm und Alkoholdunst erfüllten Raum das Herz der österreichischen Emigration schlug. Hier lernte ich auch neben vielen anderen Emigranten Dr. Martin Fuchs, Klaus Dohrn, seinen Bruder Serge, Franz von Hildebrandt und Dr. Soma Morgenstern persönlich kennen. Gehört hatte ich schon von allen.«115

Für die meisten Emigranten erwiesen sich Paris und die übrigen europäischen Städte allerdings nur als Zwischenstationen. Als sich immer deutlicher abzeichnete, daß der ›Spuk‹ in Deutschland nicht so schnell vorüber sein würde, wie anfangs geglaubt oder gehofft, spätestens aber mit Beginn des Krieges im September 1939 wurden europafernere Gebiete, allen voran die USA und die Sowjetunion, zu bevorzugten Zielen der Abwanderung. Vor allem New York und Los Angeles entwickelten sich zu regelrechten Zentren deutscher Exilierter. So trafen allein in der Umgebung von Los Angeles bedeutende künstlerische Persönlichkeiten wie Lion Feuchtwanger, Bert Brecht, die Brüder Heinrich und Thomas Mann, Franz Werfel und die Komponisten Hanns Eisler und Arnold Schönberg aufeinander und lebten in regem Austausch miteinander. Auch Morgenstern gehörte vorübergehend dieser Gruppe an. 1942/43 lebt er im Haus seines Freundes Conrad Lester in Los Angeles und traf dort unter anderem mit Hanns Eisler, Arnold Schönberg und Bert Brecht zusammen.

So unterschiedlich die einzelnen Emigrantenschicksale und -persönlichkeiten auch waren, sahen sich die meisten Schriftsteller doch mit ähnlichen Problemen konfrontiert. Viele hatten mit erheblichen Existenz- und Geldsorgen zu kämpfen. Die wenigsten hatten ihr Hab und Gut aus der Heimat retten können. Neue Verdienstmöglichkeiten waren nur schwer zu erschließen, hatten sie doch mit der Heimat auch ihr Publikum verloren. Viele Emigranten waren auf die Unterstützung von Freunden oder Verwandten angewiesen. So lebte zum Beispiel Heinrich Mann – selbst völlig mittellos – im amerikanischen Exil von den Zuwendungen seines Bruders Thomas Mann, der durch seine Vortragsreisen und seine Tätigkeit an der Universität von Princeton wesentlich besser gestellt war und nicht mit finanziellen Sorgen zu kämpfen hatte – eine Ausnahme unter den Emigranten.

Auch wenn die literarische Produktion im Exil keineswegs nachließ, so wurde es für die exilierten Schriftsteller doch immer schwieriger, im Ausland Verleger für ihre Werke zu finden. Morgenstern selbst gibt in seinen Erinnerungen einen Hinweis auf die »Verlagsnöte der beginnenden Emigrantenliteratur.«116 Abhilfe, wenn auch nur in geringem Maße, schufen die sogenannten Exilverlage, in denen zahlreiche von den Nationalsozialisten verfolgte Schriftsteller publizieren konnten. Pionierarbeit leisteten hier die Amsterdamer Verlage ›Querido‹ und ›Allert de Lange‹, die beide im Jahr 1933 deutsche Exilabteilungen eingerichtet hatten. Seit dem Kriegsbeginn im September 1939 wurde es allerdings auch für diese Verlage immer schwieriger – und zudem gefährlich –, Werke deutscher Autoren zu verlegen.

Eine wichtige Rolle bei der Unterstützung der exilierten Schriftsteller kam den Exilorganisationen zu, die in den dreißiger und vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gegründet worden waren, um verfolgte und ins Exil getriebene Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler finanziell zu unterstützen und ihnen den Neuanfang im Exil zu erleichtern. Zu den ersten Organisationen dieser Art gehört die bereits oben erwähnte ›American Guild for German Cultural Freedom‹, die im Jahr 1935 von Hubertus Prinz zu Löwenstein gegründet worden war und die zunächst Mittel für die Aufgaben einer ›Deutschen Akademie der Künste und Wissenschaften im Exil‹ aufbringen sollte. Zunehmend entwickelte sie sich aber ebenso zu einer Hilfsorganisation wie das 1940 von Frank Kingdon in New York gegründete ›Emergency Rescue Committee‹, das sich nach der Niederlage Frankreichs im Jahr 1940 insbesondere die Rettung deutscher und österreichischer Emigranten aus dem besetzten und unbesetzten Frankreich zum Ziel gesetzt hatte. So verhalf der für das ERC in Marseille tätige Amerikaner Varian Fry unter anderem Heinrich und Golo Mann, dem Ehepaar Feuchtwanger, Alma Mahler-Werfel und Franz Werfel wie auch Soma Morgenstern zur Flucht aus Frankreich.117

Morgenstern konnte bereits in der Zeit seines Pariser Exils von der Existenz der Exilorganisationen profitieren. Durch die Vermittlung Thomas Manns hatte er im Jahr 1938 ein Arbeitsstipendium von der ›American Guild for German Cultural Freedom‹ erhalten, das ihm zumindest in den ersten Monaten des Exils die Weiterarbeit an seiner Roman-Trilogie ermöglichte. Daneben waren auch der 1933 gegründete ›P.E.N.-Club im Exil‹, auch ›Exil-P.E.N.‹ genannt, und dessen Nachfolgeorganisationen, der Londoner ›P.E.N.-Club deutscher Autoren im Ausland‹ und das ebenfalls in London ansässige ›P.E.N.-Zentrum deutscher bzw. deutschsprachiger Autoren im Ausland‹, eine wertvolle Hilfe für die Emigranten, von der auch Morgenstern profitieren konnte. Immerhin hatte er es der Intervention zweier bekannter P.E.N.-Club-Mitglieder – Dorothy Thompson und Stephan Zweig – zu verdanken, daß er kurz nach seiner ersten Internierung im September 1939 wieder freigelassen wurde, wenn auch nur für kurze Zeit.

Ein Problem, mit dem fast alle Exilliteraten zu kämpfen hatten, war das der sprachlichen Isolation. Die wenigsten sahen sich in der Lage, von der eigenen Sprache in die des Gastlandes zu wechseln. Der im Jahr 1940 über Frankreich in die USA emigrierte Alfred Döblin beschreibt die sprachliche Situation der Emigranten folgendermaßen: »Wir, die sich mit Haut und Haaren der Sprache verschrieben hatten, was war mit uns? Mit denen, die ihre Sprache nicht loslassen wollten und konnten, weil sie wußten, daß Sprache nicht nur ›Sprache‹ war, sondern Denken, Fühlen und vieles andere? Sich davon ablösen? Aber das heißt mehr, als sich die Haut abziehen, das heißt sich ausweiden, Selbstmord begehen. So blieb man, wie man war – und war, obwohl man vegetierte, aß, trank und lachte, ein lebender Leichnam.«118 Auch Morgenstern empfand die Sprachproblematik in extremem, ja existentiellem Maße. Sie rief bei ihm jene Lebenskrise hervor, aus der er sich nur mühsam wieder befreien konnte. Das Gefühl, ein Dichter ohne Sprache zu sein, ein Handwerker, der sein Werkzeug verloren hat, empfanden die meisten exilierten Schriftsteller.

Vor dem Hintergrund der eben geschilderten Lebensumstände der Exilliteraten gewinnt Barbara Mauersbergs eingangs zitierte und ursprünglich auf Morgenstern geprägte Beschreibung allgemeingültigen Charakter: »Der Erste Weltkrieg raubte ihm die Jugend, der Zweite die Heimat, und die Nachkriegszeit brachte ihn um jede literarische Wirkung.«119 Dieser Satz trifft auf viele von Morgensterns Schicksalsgenossen zu. In Morgensterns Fall tritt der letzte Punkt besonders deutlich zutage, wirft man einen Blick auf jenen literaturwissenschaftlichen Teilbereich, der sich explizit mit den Exil-Literaten und ihren Werken befaßt – auf die sogenannte Exilforschung. In den einschlägigen Publikationen zur Exilforschung wird Morgenstern nur selten erwähnt. Die Vielzahl wissenschaftlicher Abhandlungen und Handbücher zum Thema läßt sich in Hinblick auf eine Erwähnung Morgensterns in drei Gruppen einteilen. In etlichen durchaus als wichtig und repräsentativ einzuschätzenden Überblicksbänden zur Exilliteratur, wie zum Beispiel dem Katalog Exilliteratur 1933–1945 zur 1965 veranstalteten Ausstellung der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main, Alexander Stephans Einführungsband Die deutsche Exilliteratur 1933–1945 aus dem Jahr 1979, Frithjof Trapps Deutsche Literatur im Exil (1989) oder dem in der Reihe ›Wege der Forschung‹ erschienenen und von Wulf Koepke und Michael Winkler herausgegebenen Sammelband Exilliteratur 1933–1945 wird Morgensterns Name nicht erwähnt.120

In einer zweiten Gruppe wird Morgenstern zwar erwähnt, jedoch stets nur am Rande, in statistischen Aufzählungen österreichischer Emigranten, die nach Frankreich oder Amerika auswanderten, oder – was im Rahmen dieser Arbeit von besonderer Bedeutung ist – als Freund Joseph Roths. Ernst Schwager nennt ihn in seiner 1984 erschienen Untersuchung Die österreichische Emigration in Frankreich 1938–1945 einen »der besten Freunde Joseph Roths.«121 In Itta Shedletzkys und Hans Otto Horchs Band zur deutsch-jüdischen Exil- und Emigrationsliteratur wird sein Name lediglich ein einziges Mal im Zusammenhang mit Joseph Roth und dessen Verhältnis zum Katholizismus und zum Judentum genannt.122 Wie bei seinen Zeitgenossen, so scheint es, fiel und fällt Morgenstern auch der Exilforschung in erster Linie als Freund Joseph Roths auf und nicht als eigenständiger Exil-Schriftsteller. Dieses Phänomen läßt sich mit der Tatsache erklären, daß Morgenstern als Schriftsteller bis vor gut zehn Jahren so gut wie unbekannt war. In neueren Publikationen wird sein Name zunehmend berücksichtigt, wenn er auch nach wie vor hauptsächlich als Romanautor und insbesondere als Verfasser von Der Sohn des verlorenen Sohnes berücksichtigt wird.

Um so mehr Beachtung verdienen jene in erster Linie bio-bibliographischen Werke zur Exilliteratur, die Morgenstern bereits in den siebziger und achtziger Jahren einen eigenen Eintrag widmen, lange bevor dessen Werke in Deutschland verlegt wurden. Besonders hervorgehoben sei hier die von Wilhelm Sternfeld und Eva Tiedemann im Jahr 1970 edierte Bio-Bibliographie Deutsche Exilliteratur 1933–1945, die nicht nur die erste ihrer Art darstellt, sondern auch eine der ersten ist, die Morgenstern explizit erwähnt. Daneben finden sich Artikel zu Morgenstern im 1983 erschienenen zweiten Band des Biographischen Handbuchs der deutschsprachigen Exilliteratur nach 1933, einem der umfassendsten und wichtigsten Nachschlagewerke zur Exilliteratur, im Katalog zur Sammlung des Deutschen Exilarchivs der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main und in Siglinde Bolbechers und Konstantin Kaisers Lexikon der österreichischen Exilliteratur, das zu den jüngsten derartigen Publikationen der Exilforschung gehört. Den mit Abstand ausführlichsten Beitrag zu Morgenstern liefert das mehrbändige Sammelwerk Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933, das seit 1976 von John M. Spalek und Joseph P. Strelka herausgegeben wird und dessen letzter Band erst kürzlich erschienen ist. Hier findet sich der bereits zitierte Artikel von Alfred Hoelzel über Morgenstern sowie eine Kurz-Bibliographie, die aus heutiger Sicht allerdings überholt ist. Ähnlich groß ist die Beachtung, die Morgenstern in Joseph P. Strelkas im Jahr 1999 erschienenem Band Des Odysseus Nachfahren. Österreichische Exilliteratur seit 1938 erfährt. Strelka nennt Morgenstern sogar »den vielleicht bedeutendste[n]« »unter all den niemals wirklich bekannt gewordenen Dichtern des Exils.«123

Die Tatsache, daß zwei amerikanische Exilforscher, John M. Spalek und der zwar aus Österreich stammende, jedoch in Amerika lehrende Joseph P. Strelka, eine Vorreiterrolle in der Morgenstern-Forschung übernehmen, ist sowohl für die Entwicklung dieses besonderen Gebiets der Exilforschung charakteristisch als auch für die der Exilforschung selbst. Auch hier waren es in erster Linie amerikanische Forscher, von denen die entscheidenden wissenschaftlichen Impulse ausgegangen sind. So bemerkt Frithjof Trapp in seinem Band Deutsche Literatur im Exil: »Die Sonderstellung der Exil-Forschung wird auch daran erkennbar, daß die Neuorientierung während der siebziger Jahre vornehmlich im Ausland, aber nicht in der Bundesrepublik vonstatten ging. Vor allem die Entwicklung innerhalb der USA ist erstaunlich.«124 Ebenso gehen – abgesehen von der Pionierleistung Ingolf Schultes – die wesentlichen Impulse in der Morgenstern-Forschung von den Vereinigten Staaten aus. Das zeigt auch die Tatsache, daß das erste wissenschaftliche Symposium, das sich mit Morgensterns Werken befaßte, im Jahr 2001 an einer amerikanischen Universität stattfand und nicht an einer österreichischen oder deutschen, und das obwohl die Morgenstern-Werkedition in einem deutschen Verlag erschienen ist und Morgenstern zeit seines Lebens in deutscher Sprache geschrieben hat.

Nach dem kurzen Exkurs in das Gebiet der Exilforschung, der keinen Anspruch auf erschöpfende Darstellung dieses umfangreichen Forschungsgebietes erheben will, soll noch einmal auf den Terminus ›Exilliteratur‹ eingegangen werden. Hier gilt es zu berücksichtigen, daß es sich bei der Bezeichnung ›Deutsche Exilliteratur‹ um einen Sammelbegriff handelt und keineswegs um eine einheitliche Gattungsbezeichnung. Sie faßt diejenige deutschsprachige Literatur zusammen, die über viele Jahre hinweg nicht in Deutschland erscheinen konnte und sich infolgedessen eine eigene Existenz außerhalb des Heimatlandes ihrer Autoren hat schaffen müssen, kurz gesagt, die Literatur, die im Exil produziert und zumindest teilweise auch dort publiziert wurde. An Genres und Formen ist diese Literatur ebenso vielfältig wie die Schicksale ihrer Produzenten. Es liegt auf der Hand, daß bei der Fülle exilliterarischer Werke eine einheitliche inhaltliche und formale Charakterisierung derselben nicht möglich ist. Joseph P. Strelka bezeichnet in seinem Buch über die österreichische Exilliteratur nach 1938 eben diese Heterogenität als »eines der wichtigsten Hauptmerkmale nicht nur der österreichischen Exilliteratur.«125 Bei aller Unterschiedlichkeit der einzelnen Persönlichkeiten und ihrer Lebensgeschichten ergeben sich aber dennoch einige Gemeinsamkeiten im Erleben der aus ihrer Heimat Vertriebenen, die sich auch in der exilliterarischen Produktion niederschlagen. So ist zum Beispiel von jenem Zeitpunkt an, da die deutsche Literatur zu entscheidenden Teilen nur noch in Form einer Exilliteratur existierte und sich die geistige Elite Deutschlands nahezu geschlossen im Exil befand, eine auffällige Häufung von Werken autobiographischen Charakters zu verzeichnen.

Bereits Anfang der dreißiger Jahre, unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, entstanden die ersten autobiographischen Werke deutschsprachiger Schriftsteller, die von Hitlers Regime ins Exil getrieben worden waren. Ernst Tollers im Jahr 1933 erschienene Autobiographie Eine Jugend in Deutschland gilt als erste Exil-Autobiographie dieser Phase, der eine Vielzahl ähnlicher Lebensberichte und Erinnerungen folgte. Der Exilforscher Richard Critchfield weist in seinem Aufsatz ›Einige Überlegungen zur Problematik der Exil-Autobiographik‹ darauf hin, daß die Zahl der Lebenserinnerungen und Memoiren deutschsprachiger Exilierter in die Hunderte geht.126 Er merkt an, daß die von der Hamburger Arbeitsstelle für deutsche Exilliteratur im Jahr 1973 veröffentlichte Zahl von »rund 500 Autobiographien, Tagebüchern und Briefsammlungen«, die bis zu diesem Zeitpunkt in der Arbeitsstelle zusammengetragen worden waren, ständiger Revision bedürfe, da bis heute immer wieder neue Lebenserinnerungen und Autobiographien deutscher Emigranten erschienen.127 Das Projekt der Arbeitsstelle wurde allerdings im Jahr 1980 eingestellt, so daß keine aktuellen Zahlen vorliegen.

Die ungewöhnliche Fülle autobiographischer Schriften deutscher Exilierter läßt einen Zusammenhang vermuten zwischen der Exilerfahrung und dem Bedürfnis, das eigene Leben und Erleben schriftlich zu fixieren und für die Nachwelt zu erhalten. Critchfield weist in dem oben zitierten Artikel darauf hin, daß die Erkenntnis, »daß Perioden geistiger Auseinandersetzungen und politischer Krisen zur Neubelebung oder weiteren Entwicklung der Autobiographie führen, […] eine bekannte These der Forschung« ist.128 Diese wird durch die Flut autobiographischer Werke, die nach 1933 entstanden, bestätigt.

Wie läßt sich dieses Phänomen erklären? Was veranlaßte so überdurchschnittlich viele Exil-Autoren, das eigene Leben zu Papier zu bringen? – Ein möglicher Grund ist in der Tatsache zu suchen, daß viele der Emigranten das Exil wie eine Zäsur in der eigenen Biographie empfanden. Die weltgeschichtlichen Ereignisse, die sie in die Emigration getrieben haben, lagen wie eine unüberwindbare Schranke zwischen dem Gestern und dem Heute. Die Schriftstellerin Hertha Pauli gab ihrer im amerikanischen Exil verfaßten Autobiographie bezeichnenderweise den Titel Der Riß der Zeit geht durch mein Herz und verleiht damit dem Empfinden vieler Ausdruck. Ihr »Erlebnisbuch soll eine Brükke bauen, die das Heute mit dem Gestern verbindet […]. Eine Brücke, über den Riß der Zeit hinweg, aus Gedanken, Erinnerungen, Bildern…«129 Stefan Zweig formuliert dieses Empfinden in seinen ›Erinnerungen eines Europäers‹ Die Welt von Gestern folgendermaßen: »Und ein geheimer Instinkt in mir gibt ihnen recht: zwischen unserem Heute, unserem Gestern und Vorgestern sind alle Brücken abgebrochen.«130

Auf sich selbst zurückgeworfen, nicht selten von der Familie getrennt und von der eigenen Vergangenheit und dem kulturellen Umfeld abgeschnitten, gab der Blick in die Vergangenheit den exilierten Schriftstellern etwas Halt, denn der Blick nach vorne wies in eine alles andere als sichere Zukunft. An eine Zukunft glaubten in dieser Situation ohnehin nur wenige, so daß die Beschäftigung mit der Vergangenheit die einzige Perspektive war, die ihnen noch sinnvoll erschien. Ernst Weiß’ rhetorische Frage, die er im Jahr 1939 bei einer Zusammenkunft des P.E.N.-Clubs in Paris formulierte, macht die Situation der Flüchtlinge deutlich: »Was bleibt unsereins im Exil jetzt noch übrig, als von Erinnerungen zu leben und Memoiren zu schreiben?«131 Ludwig Marcuse macht in seinem ›Weg zu einer Autobiographie‹ Mein zwanzigstes Jahrhundert sogar diesen »Mangel an Zukunft« für den Selbstmord Ernst Tollers und Joseph Roths frühen Tod verantwortlich: »Sein [Joseph Roths] Tod war eine langsamere, subtilere, weniger wütende, passivere Selbstzerstörung gewesen [als Tollers Selbstmord]: er hatte sich zunichte getrunken. Aber beide gingen an der einen Krankheit zugrunde: dem Mangel an Zukunft. Die Gegenwart war so aufdringlich geworden, daß selbst der Legenden-Dichter Roth sich nicht mehr in Worte einkapseln konnte.«132

Der Verlust von Heimat, Familie und Freunden provozierte ein Gefühl von Resignation und Zukunftslosigkeit, das nicht wenige in den Selbstmord trieb. Andere suchten in der Rückbesinnung auf die Vergangenheit die Möglichkeit, einer Gegenwart zu entfliehen, die weder Hoffnung noch Perspektiven bot. »Autobiographien im Exil sind erst in zweiter Linie Lebensberichte – in erster Linie sind sie Versuche zur Identitätssicherung«, schreibt Helmut Koopmann in seinem Beitrag ›Autobiographien im Exil‹.133 Das Schreiben wird zur Brükke zwischen der verlorenen Vergangenheit und der Zukunft. So beendet Hertha Pauli ihr ›Erlebnisbuch‹ Der Riß der Zeit geht durch mein Herz im stillen Gedenken an ihren Retter Varian Fry: »Wir gedenken Deiner, Varian Fry. Wir gehören zusammen für immer. Denn Du hast uns über die Brücke geführt. Als eine der wenigen Überlebenden habe ich versucht, das festzuhalten, was vor dreißig Jahren geschehen ist, versucht, den Riß zu überbrücken, der mitten durch unser Herz geht.«134

Das autobiographische Schreiben hatte demnach auch einen therapeutischen Effekt und trug zur Vergangenheitsbewältigung bei. Nach den Erfahrungen von Flucht und Vertreibung galt es, nicht nur die eigenen Erlebnisse zu verarbeiten. Nach dem Ende des Krieges kamen die beklemmenden Bilder und Berichte hinzu, die das volle Ausmaß der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie deutlich machten. In dieser Situation wurde das Schreiben zum produktiven Ausdruck des Bewältigungsprozesses. Im Schreiben schafften viele die Überwindung der Krise, in die sie das Exildasein gestürzt hatte. Morgenstern begann mit der Niederschrift seiner Lebenserinnerungen in einer Zeit, die von Selbstmordgedanken und größter Hoffnungslosigkeit bestimmt war. Auch ihm diente die Rekonstruktion seiner Erinnerungen zur Wiederfindung der eigenen Identität. So schreibt Erika Tunner in ihrem Aufsatz ›Konstruktionen von Identitäten: zum Fall Soma Morgenstern‹: »Er [Morgenstern] konstruiert Erinnerungsräume, um sich selber zu konstruieren.«135

Zur besseren Einordnung von Morgensterns Autobiographie sei an dieser Stelle eine kleine Auswahl aus der Vielfalt exilautobiographischer Schriften aufgeführt, die nur einige Titel aus der Vielzahl der vorliegenden Exil-Autobiographien herausgreift. Auf Ernst Tollers Eine Jugend in Deutschland als erste Autobiographie dieser Art ist bereits hingewiesen worden. Ihm folgten Stefan Zweigs ›Erinnerungen eines Europäers‹ Die Welt von Gestern, die Zweig kurz vor seinem Selbstmord im Jahr 1942 im brasilianischen Exil niederschrieb. Sie wurden allerdings erst im Jahr 1944 posthum im Bermann-Fischer-Verlag zu Stockholm veröffentlicht. Bereits 1942 war Klaus Manns Der Wendepunkt erschienen, zunächst allerdings in englischer Sprache unter dem Titel The Turning Point. Die deutsche Erstausgabe folgte im Jahr 1952, drei Jahre nach Manns Selbstmord in Cannes. Sein Onkel Heinrich Mann veröffentlichte seine Lebenserinnerungen Ein Zeitalter wird besichtigt kurz nach Kriegsende, im Jahr 1946. Ende der vierziger Jahre erschien Alfred Döblins Schicksalsreise, deren erster Teil bereits in den Jahren 1940/41 entstanden war. Lion Feuchtwanger beschreibt in seinem Bericht Der Teufel in Frankreich, 1942 unter dem Titel Unholdes Frankreich erschienen, seine Erlebnisse in französischer Internierungshaft, ähnlich wie Morgenstern dies in seinem autobiographischen Roman Flucht in Frankreich getan hat. Allen diesen Autoren ist die Erfahrung des Heimatverlustes und damit der Verlust eines wesentlichen Teils der eigenen Vergangenheit gemein. Im Exil begannen sie alle mit der Aufzeichnung ihrer Lebenserinnerungen. Vor allem die Autoren, die nach dem Ende des Krieges nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren konnten oder wollten, versuchten damit, ein Stück der verlorenen Heimat lebendig werden zu lassen und für immer in der Erinnerung zu bewahren.

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22 декабря 2023
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