Читать книгу: «Die Wölfe von Pripyat», страница 4

Шрифт:

7Börger

Im Jahr 1016 des Konsuls

Kein Signal.

»Warum sollte ich dabei mitmachen?«, hatte Emma Potz entgegengehalten. Sie sah keinen Grund, das Lager zu verlassen. Nun jedoch war das anders. Man hatte die Administrationshilfe gefunden, wusste nicht, wie sie gestorben war, nur dass ihr Gesicht verbrannt war, verkohlt geradezu, und dass das die einzige Verletzung zu sein schien. So hatten sie es zumindest als Lokalnews zugestellt bekommen. Jemand hatte eine Waffe ins Lager gebracht. Jackie wippte auf dem Bett vor und zurück. »Chillamoi« war das Wort, das sie seither am häufigsten sagte. Bald würde man beginnen, jene zu befragen, die zu dieser Zeit nicht zum Essen gelogged waren. Jackie, Gruber und sie. Jackie war keine Mörderin.

»Wir wissen nicht, was mit Jackie passieren wird«, sagte Potz ruhig. »Und was glaubst du, was die sich zusammenrendern werden? Wer war nicht beim Essen? Du«, auch das sagte Potz mit einer Ruhe, als wäre er von vornherein sicher, dass sie mitmachen würde.

Der Großteil der Mühe sei schon getan, hatte er gesagt. Emma blickte zur kleinen Uhr oben auf der Bildfläche ihres Geräts. Alles, was nicht digital war, war hier aus Bäumen gebaut. Letzte Nacht hatte sie geträumt, dass Insekten aus dem Moos beschlossen hatten, in ihrer Nase leben zu wollen. Sie schüttelte sich. Der virtuelle Wald war ihr lieber. Sie hatte sich für jenes Gerät entschieden, das von der Tür aus am wenigsten einsehbar war, damit ihre Tätigkeit den Blicken entging, sollte noch jemand den Computerraum betreten. Sie hoffte, alleine zu bleiben, schließlich hatten die wenigsten »Gäste« eine Erlaubnis, die Geräte zu benutzen. Sie drehte den kleinen weißen Bauern, den ihr Gruber gegeben hatte, zwischen den Fingern, streichelte über die kleine Kugel. Erster Zug: Sie musste das Gerät herunterfahren und das System von diesem Datenträger aus neu booten. Wie er ihn ins Lager geschmuggelt haben mochte, wollte sie gar nicht wissen. Alle Taschen mussten geleert werden, bevor man durch die Tür ging, die selbstverständlich eine Scanfunktion hatte. Ob er ihn unbeschadet über die Magnetschwelle gebracht hatte, würde sie jetzt herausfinden. Wenn die Daten zerstört waren, wäre es ohnehin schnell vorbei.

»Von dem Betriebssystem aus, das sie haben, kannst du nicht dorthin, wo wir hinwollen. Nicht unbemerkt. Die History zu löschen, reicht nicht.« Das hatte Potz gesagt. »Es wird sein, als hättest du gar nichts getan«, flüsterte sie sich selbst zu. »Als wärst du regungslos vor dem ausgeschalteten Gerät gesessen. Hoffe ich.«

»Hör zu, du kannst nicht einfach einen sicheren Browser auf deren Gerät installieren. Es würde auffallen, also verwendest du das System auf dem Datenträger, da ist sicher einer drauf.« Welche Taste musste sie drücken, wenn es hochfuhr? Emma sah sich nervös um, sie konnte sich nicht erinnern, auch wenn Potz es die ganze Nacht lang immer wieder mit ihr durchgegangen war. Sie drückte einfach die ganze obere Reihe Tasten eine nach der anderen. Das Menü erschien, in dem sie den Datenträger anwählen konnte.

»Du musst die Adresse richtig eintippen«, sagte Potz, »diese Seite findet das Gerät schließlich nicht alleine.« Sie musste zu der Seite, auf der sich das Personal des Lagers anmelden konnte, um Namenslisten zu erstellen, Ausflüge oder Kurse zu organisieren. Entlassungen. Entlassungen. »Noch einmal«, hatte Potz gesagt. Die Adresse der Seite hatten sie die halbe Nacht geübt. Zu viele Punkte und Schrägstriche, zu viele Zahlen. Dabei hatte sie dafür doch kein Gedächtnis. »Noch einmal«, hatte Potz gesagt und: »Das muss«, weil sie wieder einen Doppelpunkt vergessen hatte. Das war unfassbar mühsam. Sie hatte noch nie eine Adresse auswendiglernen müssen. Sie hatte immer alles den Log suchen lassen und der Log fand alles. »Du willst nicht, dass der Log die Adresse für dich sucht, sonst weiß der Log, dass du sie gesucht hast, und damit wird es auch die Lagerleitung wissen.« Du bist der Bauer, sagte sich Emma. Ihre Augen brannten. Immerhin durfte sie am Computer ihre Brille tragen, aber für eine Umgewöhnung war keine Zeit. »Was meintest du, als du gesagt hast, dass es Onlineverbindungen nicht mehr gibt?«, fragte Emma endlich.

»Irgendwann gibt es das Netz nicht mehr«, wiederholte Potz.

»›Netz‹ sagt man nicht«, murmelte sie und sah ihn erwartungsvoll an.

»Irgendwann wird es einen Sturm auf der Sonne geben und der Magnetismus wird die gesamte Elektronik lähmen«, sagte er und fragte: »Warum sagt man ›Netz‹ nicht?« Sie überlegte, konnte sich aber nicht erinnern. »Irgendwann?«, fragte sie schaudernd. Ein unschöner Gedanke.

»Irgendwann«, antwortete Potz.

»So wie der Komet, der uns alle erschlägt?«, grinste sie nun. Der war schließlich auch nie gekommen. Potz antwortete nicht.

Die Betreuungsperson im Trainingsanzug betrat den Internetraum. Er konnte die Bildfläche von der Tür aus nicht einsehen. Er nickte Emma kurz zu, ging wieder nach draußen. Sie atmete durch. Die Zahlen auf der Bildfläche sprangen um. Sie hatte nur eine halbe Stunde. Der Großteil der Mühe sei schon getan. Potz hatte nur die dümmste Person in der Lagerverwaltung finden müssen. Sie hielt ihre Hand vor den Scanner. Wenn Potz recht hatte, dann würde die Software sie fälschlicherweise als Lagerpersonal identifizieren. Der kleine Kreis drehte sich, piepte. Vorname-Punkt-Nachname-Punkt-Lagernummer-ät-Untermuerbwies-Punkt-Log-Punkt-Or. Dann eine beliebige Wortfolge anstatt des Passwortes. »Sie haben Ihr Passwort vergessen?«, erschien auf dem Schirm. Noch ein paar Klicks. Die Zahl am Bildflächenrand war ganze zwei Ziffern weitergesprungen. Wie konnte sie so lange für die Adresse gebraucht haben?

Sie müsse sich nur weiterklicken, hatte Potz gesagt. Sie müsse nur so lange »weiter« klicken, bis die Sicherheitsfragen kamen. Eine richtige reichte. Eine richtige Antwort. Sie sagte das Geburtsdatum der Person, die Potz ausgesucht hatte, vor sich her. Das war einzugeben und dann kamen die Fragen. Die Ziffern der Zeitanzeige hüpften schon wieder. Die Verbindung war langsam. Schach.

Emma kannte die Person nicht, deren Namen in der Mailadresse war, die sie hier benutzte. Sie war erst einen Tag hier. Die Betreuernamen hatte sie sich nicht gemerkt. Diese Person würde vermutlich auch Probleme bekommen.

»Ist mir egal«, hatte Potz darauf geantwortet. Er hatte sogar den Müll der Frau durchwühlt. Mehrfach. Geburtstagsbillets. Alle mit Datum, ein ganzer Stoß. Emmas Mutter meinte immer, dass es sich nicht gehöre, so etwas wegzuwerfen. Alles, alles wusste Potz. Alles über diese Person. Dass man ihn dabei nicht erwischt hatte, grenzte an ein Wunder. Anneliese Krüger. Lieblingsstadt Rom, Lieblingsfilm »Daytime Vampire Dance«, letzte Reise, Automarke, Reihenfolge der Haustiere und deren Namen. Fische, Springmäuse, Zwergpinscher. Kein reinrassiger, so Potz, Emma biss sich auf die Zunge. »Man geht einfach so lange durch die Mülltonnen, bis man alles weiß, was gefragt werden könnte. Man muss die Müllmaschinen eben vorher sabotieren.« Potz hatte die Augen geschlossen, zählte wieder auf. Ging nochmals durch die Mülltonnen. Und Emma sollte sich das merken. »Können wir es nicht einfach aufschreiben?« Aber er verlangte, dass sie es wiederholte. Keine physischen Beweise. Erst recht nicht auf dem Tablet. Welchen Körperteil an sich finden Sie abstoßend? Welche Drogen haben Sie probiert? Wen hassen Sie? Weggeworfene Körperformunterwäsche. Joint-Stummel. Fotos und Visitenkarten aus dem Müll. Emma und Potz saßen zwischen den Büschen hinter ihrer Hütte, konnten durch die Holzpfähle sehen, wie der Nachtwächter seine Runde ging. »Als würden wir rummachen«, sagte Potz, damit sie wusste, wie sie sich verhalten musste, wenn der Nachtwächter sie mit seiner Taschenlampe anleuchtete.

Potz hatte Verwandte dieser Frau angerufen: Er sei ein Kollege und sie planten eine Überraschungsparty zum Geburtstag. Was für Kuchen sie am liebsten mochte. Potz hatte an alles gedacht. Hunderteinundzwanzig mögliche Fragen hatte er abgedeckt. Die wahrscheinlichsten. Die einfachsten. Eine dumme Person musste es sein. Eine dumme Person, die sich keine originellen Fragen einfallen ließ, mit noch weniger originellen Antworten. Potz hatte Zeit investiert. Zu Hause konnte er nicht einfach verschwinden, die Bewachung war dort engmaschiger. Aber hier, mitten im Nirgendwo, war man gewissermaßen frei, wenn man es nur zum Tor hinaus schaffte. Man musste nur auf die andere Seite des Zaunes gelangen. Das Lager war im Funkloch, damit bloß niemand auf die Idee käme, einfach abzuhauen, in die Wildnis. Echte Wildnis. Schach. Aus der Erfahrung lernen, ob der Zug richtig oder falsch war. Die Uhr blieb nicht stehen. Die Tür ging wieder auf. Emma bemühte sich, den Betreuer anzulächeln. Wieder nickte er. Dann erschien endlich die Frage auf der Bildfläche. Eine der »Dann ist sie noch blöder, als ich dachte«-Fragen. Das war eine der Kategorien, in die Potz die Fragen eingeordnet hatte. Die Frage nach der Lieblingsspeise. Pizzaburger. Ekelhaftes Zeug, dachte Emma. Und gleich danach: Aber jetzt gerade wäre so ein fettiger Pizzaburger ganz nett. Sie tippte das Wort ein. Das Gerät gab einen tiefen Piepton von sich. Emma blickte zur Tür, aber diese öffnete sich nicht. Vielleicht hatte sie es falsch geschrieben. Sie versuchte es noch einmal. Wieder das Geräusch. Ihr Blick zur Tür. Sie schrieb es klein. Wieder der Ton. Die Zeit, die Zeit läuft. Aber die Antwort konnte doch nicht falsch sein. Sie konnte unmöglich falsch sein. Emma zitterte, verstand, tippte wieder. Diesmal funktionierte es. Sie kam auf die Seite.

Sie musste die Namenslisten für diesen Sommer finden. Jetzt war alles einfach. Ein Häkchen neben ihrem Namen. Ein Häkchen für Jacqueline. Sie musste nur die Privilegien der Admins zu ihnen verschieben, dann konnten sie einfach durch das Tor spazieren.

Ein Häkchen für Potz. Sie suchte: Pe-Pe-Pe. Potz. Nein, das war doch gar nicht der Name. Pokorny, Adalbert. Sie kicherte. Wer nannte sein Kind schon Adalbert. Hm. Die Stifters. Hatte sie nie gelesen. Jugendschutz. Sie schnaubte.

Da war auch Richard. Sie überlegte. Machte das Häkchen. Klickte oben auf das Feld »Berechtigungen«. Wie hieß der Schachspieler? Gruber. Häkchen. Gruber hatte gebettelt. Herzzerreißend gebettelt und ihr den Bauern gegeben. Die automatisiert erstellten Dokumente erschienen auf der Bildfläche. Alle freigeben.

Die Uhr wieder, immer wieder die Uhr. Die Funkübertragung ans Wächterhäuschen war schnell. Die Tür ging auf, wieder das Nicken, was sie denn täte. Sie würde sagen, dass ihre Mutter ihr geschrieben hatte. Sie überlegte es sich anders, sie sagte nicht »Mutter«, sie sagte »meine Mama«. Emotionale Komponente beifügen. Sie mache sich Sorgen. Er lächelte. Stand mitten im Raum, neben dem Gerät, an dem sie versuchte, das Geübte umzusetzen. Bitte dreh dich nicht um, dachte sie, dreh dich nicht um, schau nicht auf die Bildfläche. »Zeit ist fast um«, sagte er, machte kehrt, verließ den Raum. Sie schluckte, drückte den Ausschaltknopf des Gerätes, zupfte den Datenträger viel zu grob heraus.

Sie setzte sich in Bewegung. Warum hatte sie auch Richards Status geändert? Egal, wo sie hingingen. Richard war gestern ungemütlich gewesen, sollte er nur hierbleiben und seine Scheiße ausbaden, dachte sie. Vielleicht bemerkte er es gar nicht. Ein kleines Pulsieren in der Hand kann auch garnichts bedeuten. Ein Update. Ein Wetterumschwung. Vielleicht fragte er seinen Log nicht danach. Nachrichten im Lager waren nur Nachrichten vom Lager.

»Zeit ist vorüber.« Die Tür war aufgegangen, eine Frau mit müden Augen. Auf ihrem Namenskärtchen stand »Anneliese«. Wieder lächelte Emma. Sie hatte das Lächeln schon vor Jahren geübt, alleine vor dem Spiegel, auch ohne Facial Expression Workshop. Sie ging an der Frau vorbei, legte ihr die Brille in die offene Hand und vermisste die scharfen Umrisse der Buchstaben sogleich. Matt, dachte sie trotzdem.

Potz wartete ungeduldig, sie hörte das Scharren seiner Füße am Holzboden, noch bevor sie den Raum betrat. »Wie lief es?« Richard war nicht da. Er lächelte. Sie griff nach dem Vaper: »Die d***** Kuh schreibt Pizzaburger mit ö.« Sie kam sich zum ersten Mal in ihrem Leben gechillt vor: Rechtschreiben konnte sie. Sie zog am Vaper und konnte nicht mehr aufhören zu kichern.

»Du kannst unterwegs rauchen«, knurrte er, hielt ihr den Vaper hin, sie schüttelte den Kopf, ihr war schon schwindelig. »Wir gehen sofort. Bei der nächsten Mahlzeit merken sie, dass wir weg sind, und wir wollen uns doch nicht sofort wieder einsammeln lassen.«

Jacqueline stand in der Tür, seufzte, eine Tasche auf der Schulter: »Wenn wir Glück haben«, sagte sie mit ihrer weichen Stimme, »kehren wir bis zur Nacht nicht in den Käfig zurück.«

8Der Log

Im Jahr 1 vor dem Konsul

Newsfeed im Jahr 1 vor dem Konsul

Die Union gibt sich stur, während die systemisch unterdrückte Minderheit der Dragonkin auf Anerkennung pocht und um strukturelle Gleichstellung kämpft. Live von den Protesten meldet sich unsere Außenkorrespondentin, die Aktivistin Orelia Schlick. Online-Aktivists diskutieren im Anschluss am runden Tisch über die Demonstrationen und die Misrepräsentation der Dragonkin in den Medien, in Anbetracht der unglücklichen Einzelfälle im Vorfeld der Proteste, die der Dragon-Community angelastet wurden. Die Untersuchungen dauern an.

Als sie ins Appartement kamen, nahm Sandor wohlwollend den Duft von Nadelwald wahr. Er hatte vergessen, dass heute Tag der Grundreinigung war, und Kata hatte ihm erlaubt, wieder den Waldduft zu bestellen. Er genoss das Zusammenspiel der hellen Einrichtung und des erfrischenden Odeurs. Er hoffte, so, wie sie jetzt war, würde die Einrichtung lange bleiben, obwohl er stets Veränderungen fürchten musste, wenn Kartons im Flur standen. Kata hatte ihrem Log erlaubt, selbsttätig für sie zu kaufen, was ihr gefallen würde, seit jenem Abend damals, sie waren gerade zusammengezogen und Kata hatte die Möbel ausgesucht, und der Log hatte pünktlich geliefert. Sie hasste alles. Sie stand in der Wohnung und hasste alles. Sie könnte niemals in diesem hässlichen Bett schlafen. Sie hätten es sich nicht leisten können, alles auszutauschen. An diesem Abend schliefen sie auf dem Teppich, den Kata »zu haarig« genannt hatte, dabei war es nur ein grobfädriger Wuschelteppich. Er hatte den Arm um sie gelegt. Seit sie es sich leisten konnte, hatte sie alles dreimal neu einrichten lassen. Sein Arbeitszimmer war dem Kinderzimmer gewichen, er saß im beschaulichen Kämmerlein, Kata arbeitete im Schlafzimmer. Den »grotesken Tisch« hatte sie lieben gelernt. Ein Tisch wie jeder andere, meinte Sandor. Vier Beine, Platte, vielleicht etwas schmal. Der Wuschelteppich war einem Microfaser-Plüschteppich gewichen, der sich anfühlte, als seien kleine Baby-Yetis dafür gestorben. Man hatte wieder versucht, Yetis zu züchten, aber Sandor wollte es gar nicht so genau wissen.

Die Grundreinigung war eine gute Sache. Bei Kata waren die Säuberlein immer bei Bedarf aus den Wänden gestürzt, aber er zog es vor, im Vorhinein einen Tag zu fixieren. Dann konnte man planen, nicht zu Hause zu sein, damit sie einem mit ihren Sensoren nicht ständig ausweichen mussten. Die letzten Monate hatten sie den salzigen Duft eines nördlichen Meeres in der Nase gehabt. Er hatte immer schon Wald gehabt, doch Kata hatte befürchtet, dass der Geruch Einfluss auf ihr Schreiben haben könnte. Als sie hier eingezogen waren, hatte sie viel über Wälder geschrieben, Eines ihrer Märchen hatte ein Programmierer zum Vorbild eines Spiels erklärt und Kata war glücklich gewesen, ihn zu beraten, welche Tiere er in dieser Welt unterbringen konnte. Welche Gestalten Quests gaben, welche Gestalten eine Bedrohung waren. Die Bedrohung ging immer von den Menschen aus und der Spieler musste die Tiere des Waldes beschützen, durfte jedoch Einzelne auch töten. In dem Spiel hatte Sandor bereits viel Zeit verbracht, denn da roch es nach unterschiedlichsten Wäldern. Als die Meeresluft Einzug ins Appartement hielt, hatte er sich in Windeseile hochgelevelt. Nun hatte Kata entschieden, dass sie mehr Zeit mit ihm verbringen wollte, und erkannt, dass er mit dem Waldduft glücklicher war und sich weniger in das Spiel zurückzog. Anstatt ihm vorzuwerfen, dass er ständig im Virtuali war, gab sie ihm den gewohnten Wohnungsduft zurück. Er war glücklich. Zumindest fast, dachte er, als er den Moskitospray auf seine Hand richtete.

Darf der Log auf Ihre Dokumente zugreifen? Sandor knurrte. Als wüsste sie, was er dachte, sagte Kata: »Das ist nur am Anfang so. Da fragt er viel. Aber wenn du ihn lässt, ist es wirklich bequem.« Sandor fühlte sich dabei unwohl: »Ich will nicht, dass er all meine Daten hat.«

»Du verstehst das falsch«, sagte Kata. »Deine Daten sind beim Log sicher, denn nur du hast sie und der Log. Der Log gibt sie nicht weiter. Nicht wie andere Unternehmen oder Programme.« Sandors Hand juckte, er knurrte und sprühte abermals. »Den Log personalisieren?«, fragte der Log. Sandor lehnte ab. Der Log war ein Gerät. Er hatte keine Lust, eine Stimme und einen Namen auszuwählen. Kata nannte ihren Log Marie und Maries Stimme klang fast wie ihre.

»Hast du die Nachrichten gesehen?«, fragte sie. Aber Sandor schüttelte den Kopf. »Die Toleranzunion hat beim Friedenseinsatz ein Tätigkeitslager gefunden. Stell dir vor, die waren nicht für qualvolle Tätigkeiten dort. Die wurden gut behandelt und gut genährt.«

»Na, das sind doch gute Nachrichten.«

»Nein«, schüttelte sich Kata. »Sie wurden dort als Organspender gehalten. Die bringen sie für ihre Organe um. Diese Leute haben kein Gewissen. Glückliche, gesunde Menschen und zack. Tot, weil irgendein Geldsack seine Leber weggesoffen hat. Dann war da noch ein Beitrag zur Forschung über das Züchten einzelner Organe. Bald sind wir soweit.« Die Union reichte über den halben Kontinent, was sich außerhalb befand, wurde im Netz nur als Albtraum sichtbar. Nach einem mühevollen Weg durch die breiten Randgebiete der Union, in denen die Vernetzung und damit die Zivilisation nicht mehr verlässlich waren. Darüber hinaus, dort draußen, im Goldenen Reich, wo einst die großen Republiken des Ostens, China, Russland und die Steppenstaaten waren, verkörperten sich nur die düsteren Ängste all jener, die hier in der Union sichere Leben führen konnten.

Die sozialen Netze machen wirklich nicht glücklicher, dachte Sandor. Stets nur Horrormeldungen, die von Freunden in die Timeline gespült werden, immer empört sein ist anstrengend. Biologische Organe, dialogische Organe – er wusste nicht einmal, was das sein sollte. Dabei sollte der Alghorithmus doch alle glücklicher machen. Sich selbst ständig mit den fröhlichen Bildern der anderen zu vergleichen, war dabei auch nicht zu verhindern. Ein Dazwischen gibt es nicht. Normal, durchschnittlich, das waren ja bereits Beleidigungen. »Normal« soll man überhaupt nicht mehr sagen, das schließt so viele aus. »Sagst du dazu denn nichts?«, fragte Kata.

»Was soll ich sagen, die Toleranzunion kümmert sich darum.«

»Aber diese Gewissenlosigkeit!«

»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass sie kein Gewissen haben.«

»Wirklich?«

»Ein überspanntes Gewissen vielleicht. Die Administration im Goldenen Reich wird ihnen schon eingeredet haben, dass das alles moralisch notwendig sei.«

»So etwas solltest du nicht sagen«, bestimmte sie, als hätte sie kein Problem mit dem Gedanken, nur damit, dass er es war, der ihn dachte. Seine Hand juckte. Darf der Log auf Ihre Fotos zugreifen? Er schnaubte. »Lass ihn doch. Der Log kann dir Tätigkeiten abnehmen. All das Organisatorische. Du musst nie wieder ein Formular ausfüllen. Wer will das schon? Marie ist wie eine Privatsekretärin.« Er segnete es also ab. Darf der Log auf Ihre Kontakte zugreifen? Er schnaubte wieder. »Das ist nur am Anfang. Überleg, wie viel Zeit dir bleibt. Der Service kann dir für jeden Tag eine Liste zusammenstellen, geordnet nach Wichtigkeit und Dringlichkeit, er kann deine Termine ausmachen.« Darf der Log Ihren Fitnessstatus dokumentieren? Sandor warf sich auf das Sofa und schaltete das Stimmungslicht ein. Darf der Log auf Ihr Stimmungslicht zugreifen? Er war genervt. »Ich fühle mich einfach nicht wohl dabei, all diese Daten in den Äther zu schicken.« Kata kniete sich vor ihm hin: »Nicht in den Äther, in die Cloud. Du magst doch Wolken so. Und du hasst es, Arzttermine auszumachen, das kann er für dich tun.« Er seufzte. »Du hattest einen langen Tag. Ich hole dir etwas zu trinken, dann bestätigst du die Anfragen des Logs, während ich noch ein wenig tätig bin, und dann nimmt das Vibrieren ein Ende. Du wirst sehen, in zwei Tagen juckt es auch nicht mehr und du wirst das Gefühl haben, dass dein Leben nie einfacher war.«

»Was soll daran einfach sein?« Sandor schloss die Augen und hängte seinen Kopf über die Lehne.

»Der Log wird dich kennenlernen und du kannst dich zurücklehnen. Du wirst nie mehr etwas Sinnloses tun, weil der Log dich kennt und deine Liste macht. Du wirst niemals Unerledigtes auf der Liste haben, denn der Log wird es entfernen und dir nur mehr anzeigen, was schaffbar ist. Du wirst nie mehr etwas Überteuertes kaufen, so wie den Krillator, weil der Log die Preise vergleicht. Der Log urteilt nicht, und niemand sonst kann dich verurteilen, weil alles so laufen wird, wie du es schon immer wolltest. Das wird großartig, du wirst sehen, Sando. Lyrie wird auch bald alt genug sein, selbst einen zu bekommen. Ich weiß gar nicht, wie du es im Leben so weit geschafft hast ohne den Log«, sagte sie und küsste ihn. Er zuckte mit den Schultern: »Ich falle eben nicht auf«, und ließ den Log zugreifen auf Dinge, von denen er nicht einmal wusste, dass er sie hatte. Dabei war Lyrie noch nicht einmal fünf, viel zu jung für einen Privatsekretär. Kata stellte den Whiskey-Vaper vor ihm auf den Tisch, strich ihm über den Kopf: »Im Virtuali schweigt der Log«, sagte sie, »du kannst einfach in die Wälder von Pripyat gehen und er ist still.« Sie lächelte. Als hätte sie geplant, ihm ein Refugium zu entwerfen, wenn er so weit war, einen Log zu bekommen. Er dachte an den friedlichen Moment, wenn er das Single-Player-Kommando anwählte und mit dem Kopf in einem Märchenwald versank. Nur du für und gegen die Maschine. Es gab lohnende Aufgaben und es galt, so lange wie möglich am Leben bleiben. Da empfing er eine Nachricht, sie war von Frank. Er öffnete den Verlauf. Die erste Nachricht, die er sah, war von ihm selbst gekommen: »Hallo hier ist Sando, ich bin nun gelogged.« Die Nachricht war an alle Kontakte gegangen. Der Log erkannte sogar, wer ihn Sando nannte und bei wem er Sandor Karol war. Frank lud ihn zu einer Party ein. Kasimir Stern Kreides Ersetzungsfeier. Er gab an, vielleicht zu kommen. Sandor war müde. Darf der Log Ersetzungsfeiern automatisch zu Ihren Terminen hinzufügen? Sandor seufzte tief. Das hast du nun davon. Seine Wahlinformation war auch eingetrudelt und der Log spulte sie langsam vor seinen Augen ab, doch er murmelte: »Später.«

1 727,71 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
511 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783701746774
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают