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Читать книгу: «BEZIEHUNGSWEISE TÖDLICH», страница 2

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Doch Ines kam nicht weit. An der nächsten Straßenecke versperrten ihr Stühle und Tische den Weg, die vor einer Eckkneipe auf dem Gehweg standen. Im ersten Moment wollte sich Ines über diese Frechheit ärgern, dann aber setzte sie sich einfach an einen kleinen Tisch. Versonnen betrachtete sie das gegenüberliegende alte Haus mit der reichverzierten, aber bröckelnden Fassade, an der sich eine buschige Kletterpflanze trotzig emporrankte. Dieser Anblick besänftigte Ines, und sie beschloss, mindestens ebenso trotzig, den Rest dieses verpfuschten Samstags einfach zu genießen.

Als eine junge Frau an ihren Tisch trat und sich überaus freundlich nach ihren Wünschen erkundigte, erschrak Ines. Danach war sie schon lange nicht mehr gefragt worden. Doch ihr fiel sofort etwas ein, was man sich an einem heißen Sommertag wie diesem wünschen könnte.

„Sex on the Beach“, sagte Ines, lächelte verschämt und wurde knallrot.

Seit Tanja diesen Cocktail bei jeder Gelegenheit erwähnte, selbstverständlich immer beiläufig, hatte Ines ihn probieren wollen. Sie selbst kannte bloß die langweiligere Variante, „Picknick am See“.

Wenige Minuten später stand dieses geheimnisvolle Getränk endlich vor ihr. Eine trübe, rotorange Flüssigkeit in einem bauchigen Glas, in dem ein schwarzer Strohhalm steckte. Vorsichtig nahm Ines einen kleinen Schluck. Der Cocktail schmeckte etwas scharf, äußerst fruchtig und nicht zu süß.

Vorsichtig saugte Ines mit dem Strohhalm wohldosierte Schlückchen aus dem Glas, ließ die Eiswürfel darin fröhlich klimpern und grinste zufrieden. Dieses köstliche Getränk verzauberte die Wut auf ihre Freundin in eine Art Dankbarkeit, denn Ines wurde klar, dass sie ohne diesen Affentanz um Tanjas vermeintliches Verschwinden nun zu Hause hin- und herhetzen, die Picknickkiste auspacken, den Geschirrspüler einräumen und die Kinder duschen würde. Und so weiter. Stattdessen aber saß sie lässig am schattigen Tisch eines hübschen Cafés und genoss diesen Nachmittag mit „Sex on the Beach“.

Wäre da nicht dieser kleine, dunkle Stachel gewesen, diese noch immer piekende Frage, warum ihre Freundin nicht einfach kurz an die Tür gekommen war und wenigstens bloß „hallo“ gesagt hatte, mehr nicht, dann wäre die Welt für Ines so wunderbar orangerot wie dieser leckere Cocktail und sie hätte den Rest dieses verkorksten Tages mental in einer bequemen Hängematte abschlaffen können. So aber sah Ines, ohne es zu wollen, immer wieder Tanja vor sich, wie sie nachts, völlig betrunken, bei Richie klingelte und gnadenlos mit ihm abrechnete. Wie sie ihn als kindisch und prollig beschimpfte. Wie Richie, vermutlich ebenfalls betrunken, darauf reagiert haben mochte, wollte sie sich hingegen auf keinen Fall ausmalen.

Der Cocktail verdrehte Ines den Kopf, und im Nu hatte sie das Glas ausgetrunken. Ausgetrunken. Aufgefuttert, mit Ketchup, hatte Richie gesagt. Einem Typen wie ihm durfte man doch alles zutrauen. Wenn dieser Idiot doch nur die Tür aufmachen würde! In diesem Moment blinkte der Name Petersdorf in Ines‘ Kopf wie in riesiger bunter Leuchtschrift auf. Was zunächst nach Zufall aussah, ergab einen Sinn, als Ines einfiel, was Tanja einmal nebenbei erwähnt hatte: Frau Petersdorf besaß einen Schlüssel von Richies Wohnung! Für alle Fälle.

Ines konnte es kaum abwarten, ihren Cocktail endlich zu bezahlen. Zügig lief sie zurück zu Richies Haustür und klingelte bei Petersdorf. Die Nachbarin meldete sich, ihre Stimme klang misstrauisch. Erst zögerte die alte Frau, ihre eigene Wohnungstür zu öffnen. Dann weigerte sie sich, Richies Schlüssel herauszurücken. Als Ines jedoch, angeregt durch den Alkohol, die mögliche Tragödie so dramatisch wie möglich an die triste, grauweiß verputzte Wand des Hausflurs malte, erinnerte sich Frau Petersdorf an die vielen nächtlichen Streitereien, die sie hatte mit anhören müssen, und gab endlich nach. Sie holte den Schlüssel, bestand jedoch darauf, die Tür selbst aufzuschließen.

Als sie endlich vor Richies Wohnung standen, in der laut und deutlich Bässe wummerten wie schwere Pumpmaschinen, weigerte sich die alte Frau wiederum, den Schlüssel zu benutzen. Sie befahl Ines zu klingeln. Was sie auch tat. Die Klingel aber war noch immer abgestellt. Frau Petersdorf sah nun durchaus ein, dass etwas unternommen werden musste, wollte jedoch lieber gleich die Polizei rufen. Geduldig redete Ines weiter auf die störrische Alte ein, bis diese endlich mit zittrigen Fingern die Tür zu Richies Wohnung aufschloss, nicht ohne Ines missbilligende Blicke zuzuwerfen.

Unter diesen flüchtete Ines schleunigst durch die geöffnete Tür hinein in den kleinen Korridor der Wohnung. Dort lagen Klamotten verstreut über den Boden, ebenso im Zimmer geradezu, das mit Sofa, Riesenflachbildfernseher und Regal vermutlich ein Wohnzimmer darstellen sollte. Die harten Technobeats aber donnerten aus dem Raum zur Linken, dessen Tür nur angelehnt war.

Entschlossen drückte Ines die Tür weiter auf und ging einfach hinein.

Dieses Zimmer war ebenfalls spärlich und lieblos eingerichtet. Ines erblickte einen chaotischen Schreibtisch, einen langweiligen braunen Schrank und hinten am Fenster schließlich ein riesiges Bett, auf dem sich ein Knäuel aus nacktem Fleisch gerade zu entwirren begann. Ines erschrak heftig. Diesmal vor ihrer eigenen Courage. Was, um Himmels willen, machte sie hier bloß? In der unsinnigen Hoffnung, vielleicht unbemerkt zu bleiben, trat Ines einen großen Schritt zurück. Doch statt im Flur zu landen, krachte sie mit dem Rücken gegen die geöffnete Tür.

„Was machst du denn hier?“, fragte Tanja überrascht, zog sich die graugemusterte Bettdecke bis zum Kinn und kicherte, als befände sie sich gerade auf einem bizarren Trip. Mit ihrem verstrubbelten dunklen Haar und den schwarzen Schatten unter den großen Augen sah sie schön verrucht aus wie eine dieser melancholischen Sängerinnen namens Amy, Katy oder Lana. Und plötzlich kam es Ines äußerst absurd vor, dass sie sich um so eine bitch wie Tanja überhaupt Sorgen gemacht hatte.

„Und du?“, schrie Ines einfach zurück. „Was machst du hier?“

„Wonach sieht’s denn wohl aus?“, entgegnete Tanja, erneut aufrichtig überrascht, diesmal von der Wut ihrer Freundin. Mit ihren schmalen Fingern angelte sie nach den Zigaretten, die auf dem Fensterbrett lagen, während Richie nackt neben ihr kniete, reglos und mit offenem Mund, so dass er aussah wie die rätselhafte Statue eines durchgeknallten Bildhauers. Ines glaubte Sperma zu riechen und fragte sich, wann sie selbst zuletzt Sex gehabt hatte. Sie erinnerte sich nicht. Stattdessen fiel ihr ein, wie gründlich sie Volker heute dieses Picknick verdorben hatte. Und wem sie das zu verdanken hatte. Und plötzlich wurde sie ganz ruhig. Jedoch keineswegs gelassen, sondern hochkonzentriert.

„Na dann ist ja alles gut“, sagte Ines freundlich und lächelte sogar. „Und ich dachte schon, du bist froh, diesen degenerierten Brüllaffen los zu sein, der so egoistisch und prollig ist.“

„Hör auf!“, kreischte Tanja mit sich überschlagender Stimme.

„Und vor allem – so kindisch!“

Interessiert bemerkte Ines, wie Tanjas hübsches Gesicht rotorange anlief, ähnlich wie ein „Sex on the Beach“, während Richie seine Freundin von der Seite anstarrte, als hätte sie ihm soeben eine Machete in die nackte Seite gerammt.

„Es ist wieder alles okay mit uns!“ Tanjas Stimme klang schrill wie eine kratzende Gabel auf dem Teller, und ihre Blicke, scharf wie Laserstrahlen, schienen Ines killen zu wollen, um sie endlich zum Schweigen zu bringen.

Die aber lächelte noch immer. Sie hatte es so satt. All diese Dramen und Angebereien. Wodka, Pfirsichlikör, Grenadine und Fruchtsäfte – das war doch das ganze Geheimnis dieses albernen Cocktails, wie ihr die Getränkekarte des Cafés verraten hatte. Ines war wütend auf Tanja. Und zwar, wie sie nun feststellten musste, schon seit Jahren. Doch sie ließ sich nichts davon anmerken.

„Alles wieder okay, ja?“, fragte Ines vermeintlich erstaunt und erkundigte sich mit besorgter Stimme: „Wirklich? Auch im Bett? Funktioniert der kleine Pinsel wieder?“

Ein Zucken lief über Tanja blasse Wangen und ihre Schultern erschlafften, während Richies Gesicht sich nunmehr zur Faust ballte. Ines winkte fröhlich zum Abschied, dann drehte sie sich um und schlenderte zufrieden aus der Wohnung hinaus. Vorbei an der alten Frau Petersdorf, die ihr verwirrt hinterherblickte.

Erschöpft und zugleich aufgeputscht wie nach einem Boxkampf, den sie in letzter Sekunde für sich entschieden hatte, schlich Ines in ihre Wohnung und hörte den Fernseher laufen. Zum ersten Mal in ihrem Leben wirkte dieses Geräusch beruhigend auf sie, ebenso der vertraute Anblick ihres Mannes, der komplett mit dem Sofa verschmolzen schien.

„Na und? Lebt Tanja noch?“, erkundigte sich Volker amüsiert.

„Keine Ahnung“, antwortete Ines wahrheitsgemäß und ihr Blick musterte, wohl aus Gewohnheit, die offene Chipstüte auf dem Tisch und die Flasche Bier. Als Volker das bemerkte, holte er so tief Luft, als müsste die für den Rest des Fußballspiels reichen. Ines hatte ihm das Picknick versaut, diesen Fernsehabend aber würde er sich auf keinen Fall von ihr verderben lassen, schwor er sich beim Leben von Robben und Ribéry. Und falls Ines das versuchen sollte, bekäme sie eine treffende Antwort auf ihre blöde Frage vom See. Wie Frauen und Fußball, so gut passen wir beide zusammen, wollte Volker gerade losschimpfen, als ein kleines Wunder geschah: Ohne ein vorwurfsvolles Wort zu verlieren, plumpste Ines neben ihn aufs Sofa, griff beherzt in die Chipstüte und trank einen Schluck von seinem Bier. Und guckte Fußball!

Allerdings verfolgte sie keineswegs das Spiel – was dem verblüfften Volker natürlich entging – sondern starrte lediglich auf den Bildschirm wie in ein Aquarium, in dem sich statt bunter Fische lauter sportliche Männer quirlig-elegant von einer Ecke zur andern bewegten.

„Ich bin nicht mehr dieselbe“, bekannte Ines unvermittelt und nahm noch einen kräftigen Schluck Bier aus der Flasche.

„Ja, das merke ich“, entgegnete Volker erfreut und legte zärtlich den Arm um die Schultern seiner Frau.

Ferien auf dem Lande

„Der Hund frisst nicht.“

Vorwurfsvoll, als wäre ich persönlich daran schuld, sieht meine Tante mich an. Ich lächel bloß milde zurück. Die Tante ist schon über achtzig, eine alte Frau also, die übersieht, dass sie, wenn ich nicht hier wäre, vorübergehend in ein Seniorenheim gesteckt worden wäre. Meine Oma, mit der sie sonst zusammenlebt, erfüllt sich nämlich gerade ihren Jugendtraum: Eine Reise nach Jerusalem.

„Mama, ich will Kika gucken!“, fordert das Kind.

„Nein, wir gehen lieber raus in den Garten“, antworte ich bestimmt.

Das Kind murrt. Allerhöchste Zeit, dass es mal rauskommt aus der Stadt, um ein bisschen frische Landluft zu schnuppern.

„Seit du hier bist, frisst er nicht mehr!“, behauptet die Tante stur.

„Ich will aber lieber Kika gucken!“, trotzt das Kind.

„Wir gehen in den Garten“, rufe ich der Tante zu, nehme das unwillige Kind an der Hand und zerre es hinter mir her.

„Ja, geh nur, geh“, knurrt die Tante mir hinterher.

Es ist der erste Tag. Es wird schon werden.

Im Gegensatz zu Jerusalem, wo die Hitze einen sicher erdrückt und Straßenstaub die Lungen blockiert, ist dieser Garten ein Paradies. Mindestens zwanzig Sorten Grün, ein üppiger Cocktail aus Blütendüften und eine Symphonie aus Vogelgezwitscher umschmeicheln die Sinne. Wellness pur. Ferien auf dem Lande sind genau das Richtige. Für das Kind. Für meine Nerven. Und für meinen Geldbeutel.

Zuerst gehe ich mit dem Kind rüber zu den freundlichen Nachbarn, „Hühner und Häschen gucken“. Dann hole ich den alten hölzernen Handwagen aus dem Schuppen und spiele Pferd, indem ich das Kind ein paar große Runden durch den Garten ziehe, mal im Schritt, mal im Galopp. Das Kind kreischt vergnügt, und ich bin zufrieden. Vierzehn erholsame Tage liegen vor mir. Zwei Wochen, in denen ich mein aufreibendes Großstadtleben hinter mir lassen kann. Die blöde Geschichte mit Boris. Den Minijob im Kindergarten. Das kaputte Fenster im Bad. Das ganz alltägliche Chaos halt.

„Dem fehlt die Traude“, begründet die Tante das Theater, das gerade aufgeführt wird, als wir ins Haus zurückkommen. Während wir draußen im Garten herumtollten, hat meine Tante eine Nachbarin herbeitelefoniert. Und nun stehen die beiden alten Damen mit ihren Krückstöcken neben dem großen Hund, tätscheln ihn liebevoll den Rücken und rufen im Chor: „Fein frisst das Hundchen, ganz prima, so ein feines Fresschen, du bist ja ein ganz braves Hundchen!“

Das alte Schäfer-„Hundchen“ wedelt lässig mit dem Schwanz und wirft mir von unten einen höhnischen Blick zu, um dann weiter seine Suppe aus Rindfleisch, Brekkies und Brühe zu schlabbern. Hält es mal kurz inne, um Luft zu holen, schwillt der Jubelchor der alten Damen sofort wieder an. „Na komm, noch ein bisschen, so ist’s fein.“

Als der Hund endlich brav aufgefressen hat, fragt mich die Nachbarin, ob ich schon wüsste, dass die Fischer-Steffi sich umgebracht hat. Das weiß ich natürlich nicht, kenne die Frau nicht mal. Daraufhin ist die Nachbarin furchtbar enttäuscht. Ganz sicher war sie sich, dass ich die Fischer-Steffi von der Dorfdisko kennen würde, weil die in meinem Alter war. Da werde ich schließlich doch neugierig und frage endlich nach, warum sich die Fischer-Steffi denn umgebracht hat.

„Ach, die Ärmste! Hat einfach nichts auf die Reihe gekriegt und einen Mann hat sie auch nicht gefunden.“

Aha. Hier auf dem Land wird noch Klartext geredet. Geradeheraus, ohne auf den Takt zu achten.

Als wir wenig später zu dritt am Abendbrottisch sitzen, behauptet die Tante wieder, ich hätte kein Herz für Tiere. Und sie hat recht. Wie auch? Ich brauche mein Herz, um das Kind und die Tante damit zu lieben. Für einen großen Hund ist da im Moment wirklich kein Kämmerchen mehr frei.

„Das ist für die Frau Seifert, sagst du beim Kruschke“, befiehlt die Tante, als sie mir Einkaufszettel und Portemonnaie in die Hand drückt. Zum Fleischer soll ich, zu einem speziellen, der notgeschlachtete Tiere zu Wurst und Kotelett verarbeitet.

„Dann gehst du zum Jakobi und holst ein paar Kirschen fürs Kind. Und vom Knöfel ein Dreipfundbrot.“

„Ich komm mit, ich komm mit“, singt das Kind fröhlich. Resigniert gebe ich mein Okay, obwohl ich die Einkäufe lieber fix allein mit dem Fahrrad erledigt hätte. Nun muss ich das Rad schieben. Mitnehmen muss ich es auf jeden Fall, stelle ich fest, nachdem ich einen Blick auf den Einkaufszettel geworfen und die Kilos an Leber, Lunge und Herz addiert habe.

Aus dem kleinen Laden des Notschlächters quillt eine Menschenschlange bis nach draußen. Der Bedarf an billigem Fleisch ist offenbar riesig. Als das Kind beim Anblick dieser Schlange zu quengeln beginnt, spiele ich mit ihm eine Runde „Ich sehe was, was du nicht siehst“.

„... und das ist rot!“, rufe ich und meine damit das speckig glänzende Häuserdach über dem Fleischerladen, doch das Kind deutet mit seinem kleinen Zeigefinger auf einen schicken Flitzer, der gerade auf der anderen Straßenseite einparkt und wirklich ein Blickfang ist, genau wie der Typ, der kurz darauf aussteigt. Persilweißes Hemd, Designer-Sonnenbrille, volles, dunkles Haar. Hat sich etwa ein Italiener hierher verirrt?, wundere ich mich. Dann wundere ich mich gleich noch mal. Denn der Typ kommt mir bekannt vor.

„Hallo Bernd!“, hallt mein Ruf durch die verschlafene Straße und ich winke ihm zu. Und bereue meinen Eifer sofort. Denn als Bernd tatsächlich die Straße überquert, direkt und freudestrahlend auf mich zusteuert, sehe ich mich plötzlich gnadenlos mit seinen Augen: Nicht einen Hauch Kajal um die müden Lider, das praktische graue Herrenshirt schlabbert wie ein Sack an mir herab, und selbstverständlich trage ich die leicht angeschmuddelte Gartenjeans. Sogar eine Vogelscheuche sieht eleganter aus. Und das soll sie gewesen sein, die große Liebe?

Rot vor Scham quäle ich mir ein verzweifeltes Lächeln ins Gesicht. Ganz anders Bernd, der absolut lässig grinst. Logisch. Sieht er doch wiederum aus, als wäre er an der Côte d’Azur zu Hause statt in diesem Kaff.

Unsere letzte Begegnung fand vermutlich unter einer silbernen Diskokugel statt, als wir, mit reichlich Promille im Blut, zur Musik von Neil Young, ACDC oder Lindenberg ausflippten. Klar also, dass wir uns ein gefühltes Jahrhundert später im grellen Sonnenlicht mitten auf der Dorfstraße unbeholfen wie zwei schüchterne Teenager begrüßen und nicht wissen, was wir sagen sollen. Zum Glück habe ich das Kind dabei, das ich ihm sogleich vorstelle. Voller Stolz berichtet Bernd, dass er auch zwei davon hat und mit seiner Familie in derselben Straße wie früher wohnt, direkt neben seinen Eltern. Ich erkläre daraufhin überflüssigerweise, dass ich bei meiner Tante wohne – wo sonst? –, diesmal aber länger zu Besuch sein werde, nicht bloß wie sonst übers Wochenende. Als die Schlange vorm Fleischer in Bewegung gerät, verabschiedet sich Bernd souverän mit ein paar Floskeln: Die Termine. Man sieht sich. Auf jeden Fall.

„Vielleicht auf ein Bierchen im Monopoly?“, schlage ich vor und finde es ziemlich mutig von mir, so konkret zu werden.

„Gute Idee!“, antwortet er unverbindlich, lacht mir fröhlich zu und geht zurück zu seinem roten Traum auf Rädern.

Wie paralysiert blicke ich ihm hinterher. Neidisch auf dieses Auto, diese Lässigkeit, vor allem aber auf die Termine.

„Jetzt bin ich wieder dran“, kräht das Kind. „Ich sehe was, was du nicht siehst!“

Ja, jetzt ist das Kind wieder dran. Ich muss weiterspielen.

Ein Faultier schwingt sich gemütlich von Ast zu Ast, es frisst und schläft. Dann wacht es auf, baumelt träge zum nächsten Baum rüber, knabbert dort ein wenig herum und schläft wieder. Die Tante und das Kind schauen dem Faultier fasziniert dabei zu, während mir fast die Tränen kommen. Jeden Abend gibt es einen anderen schrecklichen Tierfilm. Und ich hasse sie alle. Dieses dauernde Werden und Vergehen von Leben macht mich trübsinnig, diese Sinnlosigkeit des Ewiggleichen, die beim Faultier besonders augenfällig wird.

„Wann ist der Film denn vorbei?“, frage ich gequält, obwohl ich genau weiß, dass er noch mindestens sechsundzwanzig Minuten dauert.

„Der ist doch so interessant! Du hast wirklich kein Herz für Tiere“, schimpft die Tante wieder.

Ich muss hier raus. Unbedingt und sofort. Unter Menschen. Am liebsten zu Bernd.

Als der grausame Tierfilm endlich doch zu Ende ist und das Kind im Bett liegt, erkläre ich der Tante, dass ich noch eine Runde joggen gehe. Die ist darüber nicht begeistert. Weil sie abends nicht gern allein ist, wegen der Einbrecher. Noch größere Sorgen macht sie sich allerdings wegen der Triebtäter, von denen es dort draußen nur so zu wimmeln scheint. Jammernd fordert mich die Tante auf, wenigstens an das arme Kind zu denken und malt mir aus, wie furchtbar es wäre, wenn mir etwas zustoßen würde, wo es doch nicht mal einen Vater hat. Ihr Mitleid mit mir hingegen scheint sich in Grenzen zu halten. Ein Grund mehr, ihr freundlich, aber nachdrücklich zu erklären, dass ich tagsüber nun mal keine Zeit zum Joggen habe. Fast zeigt sich die Tante einsichtig, bis ihr einfällt, das Joggen an sich völlig überflüssig zu finden.

„Du rennst doch schon den ganzen Tag herum. Wieso willst du das abends auch noch machen? Du musst doch kaputt sein.“

„Das ist doch was anderes“, behaupte ich, und dank meiner Vorfreude auf das Wiedersehen mit Bernd bringe ich sogar die Geduld auf, der Tante die Vorzüge des Joggens bis in biochemische Details hinein zu erklären, so dass sie endlich verstummt und mich lieber gehen lässt.

Beschwingt verlasse ich das Haus und sprinte vor bis zum Zaun. Als ich die Gartentür hinter mir ins Schloss fallen höre, atme ich auf. Endlich allein, genieße ich jeden einzelnen Schritt, den ich die Straße entlanggehe, unterwegs in die Dämmerung und in ein Abenteuer, so absurd banal, dass meine beachtliche Vorfreude darauf umso lächerlicher erscheint. Aber ich genieße dieses alberne Kribbeln im Bauch trotzdem, und mit jedem Schritt, mit dem ich mich Bernds Haus nähere, fühle ich mich ein gutes Jahr jünger. Als ich endlich in den Rosensteg einbiege, scheinen die letzten zwanzig Jahre meines Lebens von mir abgefallen wie eine Last, deren ungeheures Gewicht mir erst in diesem Moment bewusst wird.

Dieser Rosensteg war schon oft mein Fluchtweg. Unzählige Male benutzt, wenn ich von meinen Eltern während der Ferien in dieses Kaff abgeschoben wurde und vor Langeweile fast wahnsinnig wurde. Ähnlich irre wie jetzt vor lauter Geschäftigkeit: Geschirrspüler ausräumen, Blumen pflanzen, einkaufen gehen, sauber machen, Wasser in die Plansche füllen, Essen kochen, Kaffee trinken, Garten gießen, dem Kind was vorlesen, in den Keller rennen… So geht das den ganzen Tag. Eingeklemmt zwischen zwei hilfsbedürftigen Generationen komme ich weder zum Lesen, noch dazu, mir die Beine zu rasieren. Und abends baumel ich in den Seilen wie dieses blöde Faultier an seinem Ast.

Vor nunmehr zwanzig Jahren, auf meiner Flucht vor tödlicher Langeweile, war Bernd schon einmal mein Retter gewesen. Auf seinem roten Moped düsten wir übers öde Land, außerdem versorgte er mich mit Cola, Musik und Zigaretten. Dafür bekam er hin und wieder, je nach Laune, einen gelangweilten Kuss von mir. Mehr nicht. Der Junge hatte nämlich Pickel. Vor allem aber hatte er mich viel zu offensichtlich gern.

Viel zu schnell stehe ich vor dem Nachbargrundstück von Bernds Eltern. Ein vermutlich strahlendweißes Haus erhebt sich inmitten eines auf wild getrimmten Gartens mit kleinen Bäumen, Sträuchern und Blumen, durch den sich ein sauber gepflasterter Weg zur Haustür schlängelt. Während ich die Gartentür öffne und die Steine betrete, sucht mich plötzlich ein Gewitter aus tausend Zweifeln heim und verwandelt mich in einen Alien, so fremd fühl’ ich mich plötzlich in dieser Welt. Doch als hätte ich irgendeine komische Mission zu erfüllen, laufe ich wie ferngesteuert den kleinen Weg entlang und drücke entschlossen den braunen Klingelknopf.

Ich komme unangekündigt. Na und? Es ist doch erst halb zehn!

Bernd öffnet die Tür und guckt noch dämlicher als befürchtet. Als hätte ich keine Augen im Kopf, die das sehen können, frage ich möglichst ungezwungen: „Wie wär’s mit einem Bierchen im Monopoly?“

Halb zehn klingelt hier niemand unangemeldet an der Haustür. Also steht Bernds Frau hinter ihm und lugt ihm neugierig über die Schulter. Um es mir mit der bloß nicht zu verscherzen, stelle ich mich unbeholfen als „Bernds alte Bekannte“ vor, was unglaublich bescheuert klingt, aber immerhin unverfänglicher als „Bernds erste große Liebe“.

Und siehe da, nur wenige Minuten später sitzen wir zu dritt in hellen Korbsesseln auf der geräumigen Terrasse, halten uns an riesigen Rotweinkelchen fest, in denen lediglich eine kleine rote Pfütze den Boden bedeckt, und Bernd erzählt begeistert von seinem neuen Hobby, dem Surfen. Er trainiert auf dem nahegelegenen Baggersee und ist schon so fortgeschritten, dass er im nächsten Spanienurlaub „den Atlantik rocken“ will. Seiner Frau geht es genauso, und schon bald fachsimpeln die beiden lebhaft miteinander herum und ich tue so, als würde ich das Surfen ebenfalls aufregend finden, reiße die Augen auf und grinse oder nicke ab und zu, je nachdem.

Verwundert beobachte ich Bernd, bei dem sich die Vorzeichen umgekehrt haben. Aus dem Minus-Mann, der früher unverhältnismäßig viele Zigaretten gegen wenige, lieblose Küsse eintauschte, ist erstaunlicherweise ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden. Wie ich von der Tante erfahren habe, hat er sich und seiner Familie mit einem florierenden Getränkemarkt eine solide Existenz geschaffen.

Ein wenig neidisch beobachte ich auch seine Frau, deren Namen ich zu Recht vergessen habe. Hübsch und freundlich ist sie, doch derart oberflächlich, dass sie in mir niemals eine Bedrohung erkennen würde. So eine Defizit-Lady wie mich, die streng provisorisch lebt, mit zum Scheitern verdammten Beziehungen, ständig wechselnden Jobs und chronisch ausgereiztem Dispo, würde die nie als Konkurrenz empfinden. Das gibt mir den Rest. Verunsichert mich völlig. Degradiert mich zu einem bedürftigen Nichts, zu einem bloßen Schatten meiner glamourösen Vergangenheit.

Die ganze Zeit höre ich also den beiden Möchtegernsurfern zu, dabei sollte ich auch mal was sagen. Doch Bernd und seine selbstzufriedene Trulla – oder hieß sie Anja? – wollen einfach nichts von mir wissen. Außer, ob ich ebenfalls Sport treibe. Obwohl ich durchaus gelegentlich jogge oder Yoga probiere, verneine ich das heftig, weil Sport nun mal nicht zu meinem Image passt. Außerdem finde ich dieses Thema ungefähr so spannend wie eine Vorabendserie von ARD oder ZDF. Auf keinen Fall bin ich hier, um mich über sportliche Aktivitäten auszutauschen.

Warum aber bin ich überhaupt hier? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden und den Mut, endlich auch mal den Mund aufzumachen, schenke ich mir zuweilen selbst Wein nach, während Bernds Frau immer öfter gähnt. Bald ist die Flasche leer, obwohl die Gastgeber noch immer an ihrem ersten Glas herumnippen.

„Habt ihr vielleicht noch Wein da?“, frage ich vorsichtig, obwohl ich sicher bin, dass die noch welchen dahaben. Trotzdem scheint meine Frage die beiden zu irritieren. Statt die Wahrheit zu sagen, „Aber natürlich, unten im Keller!“, werfen sie einander Blicke zu, die ich lieber nicht interpretieren will. Dann spuckt Bernd mir mitten ins Gesicht: „Du, wir müssen morgen früh raus.“

Und gleich noch mal: „Du findest doch allein hinaus, oder?“

„Natürlich“, entgegne ich trotzig, stehe auf und stolpere, ohne mich umzudrehen, durch ein spärlich eingerichtetes Wohnzimmer und den Flur, zur Wohnungstür hinaus. Als ich wieder auf dem nunmehr stockdunklen Rosensteg stehe, erinnere ich mich bitter daran, wie scheiße ich Ferien auf dem Lande eigentlich finde. Und zwar immer schon. Und das zu Recht.

Auch am nächsten Tag mache ich wieder alles falsch. Das Fenster in der Küche war über Nacht nicht korrekt verschlossen, das Kind guckt zu viel fern, das Kassler ist zu trocken, weil daran gute Butter fehlt. Und die Spargelschalen hab’ ich doch tatsächlich auf den Mist geworfen! Obwohl die Tante daraus ein schönes Süppchen hatte kochen wollen. Wie das hier alle tun.

Mich verwirrt diese strenge Ordnung. In der Großstadt, wo mein Leben so zerfasert ist, dass ich längst den Überblick verloren habe, komme ich besser klar. Hier hingegen sind alle Gewohnheiten, ob nun der Tagesablauf von Bernd oder die Marotten der Tante, so festzementiert wie die Fundamente ihrer Häuser.

Ich gebe zu, dass vieles in meinem Leben krumm und schief läuft. Gern würde ich der Regierung, den Genen oder meinem Sternzeichen die Schuld dafür geben, aber vermutlich liegt es eher daran, dass ich mich einfach zu wenig anstrenge. Doch sogar hier und jetzt, wo ich mir wirklich große Mühe gebe, der Tante alles recht zu machen, gelingt mir das kaum. Meist mache ich alles falsch, so dass die alte Dame mich oft fragend ansieht, als würde sie darüber rätseln, ob ich nun aus Boshaftigkeit oder Dummheit so handle. Und im nächsten Augenblick kann es passieren, dass sie aus einem nichtigen Anlass den Hund überschwänglich lobt und feststellt, wie lieb und intelligent er ist.

In solchen Momenten gucke ich die Tante fassungslos an und erkenne deutlich: Die meint das wirklich so. Kein einziger Funken Ironie blitzt in den wässrig-blauen Augen auf, kein Anflug eines Lächelns mildert die Behauptung, die sich hinter diesen scheinbar harmlosen Worten vom lieben und intelligenten Hund versteckt, und zwar nicht mal besonders gut: Ich, ihre Großnichte, bin böse und dämlich.

Mein Leben ist eine Baustelle, wenn nicht gar eine Ruine. Entsprechend habe ich schon einiges durch und nehme Niederlagen meist sportlich. Doch dieses übertriebene Lob für den Hund ist zu viel. Tränen rinnen mir übers Gesicht, und schluchzend wie ein kleines Kind frage ich die Tante endlich, was das soll. Warum ich ihr bitteschön nie etwas recht machen kann, obwohl ich den ganzen Tag herumwirtschafte wie eine Blöde und mir wirklich Mühe gebe.

Die Tante erschrickt. Dann aber verteidigt sie sich. Und am Ende bin ich es natürlich wieder, die etwas falsch gemacht hat: Ihren barschen Ton hätte ich völlig falsch verstanden! Sie könne nun mal nicht anders sprechen, denn ihre Stimme sei alt und rau. Lachend nehme ich ihre Worte als Entschuldigung an. Doch als ich die Tante zur Versöhnung umarme, sind die flüchtigen Mordgedanken in meinem Kopf längst zu einem konkreten Plan geronnen.

„Hast du den Hund gesehen?“, fragt mich die Tante nach dem gemütlichen Kaffeetrinken unterm schattigen Nussbaum, als ich gerade das schmutzige Geschirr aufs Tablett staple und ins Haus bringen will.

„Vielleicht ist er ja drin, ich seh mal nach“, schlage ich vor.

Drin im Haus aber ist kein Hund und im Garten auch nicht. Ich nehme das Kind und ziehe mit ihm los, hinaus auf die nahen Felder, wo wir engagiert immer wieder den Namen des Hundes ins weite Land schreien. Das macht Spaß, ist aber vergeblich.

Auf dem Rückweg biege ich in die kleine Straße ein, in der Bernd wohnt. Den Hund werde ich dort nicht finden. Vielleicht aber einen kleinen Triumph.

„Was willst du?“, fragt Bernd, als ich mit dem Kind an der Hand vor seiner Haustür stehe, als bräuchte ich dringend Asyl. Seine Stimme ist ebenfalls rau, doch bei ihm kann das nun wirklich nicht am Alter liegen. „Wir essen gerade Abendbrot.“

Wie für ein launiges Reklamefoto drapiert sehe ich seine kleine Bilderbuchfamilie vor mir, wie sie unbehelligt von alten Tanten und psychotischen Kötern am liebevoll gedeckten Tisch sitzt, an dem die Stühle so genau abgezählt sind, dass dort auf keinen Fall für Überraschungsgäste Platz ist. Und plötzlich tut mir dieser Bernd, der alles hat, irgendwie leid. Und ich will ihn wirklich nicht weiter stören und suche eilig nach einem triftigen Grund für meinen spontanen Besuch.

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ISBN:
9783847659754
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