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Nach meiner Tumoroperation traten weiterhin Gewebeveränderungen auf der Zunge auf, sogenannte Leukoplakien – eine Vorstufe von bösartigen Tumoren, immer wieder, ein ganzes Jahr lang, bis zum Jänner 1996. Die Ärzte waren ratlos, ich selbst bei den unangenehmen Kontrollterminen verunsichert. Ich schwankte zwischen der Leichtigkeit des Studentenlebens und der ständigen Angst vor meiner Krankheit. Auf Zeiten der Euphorie und der Lebenslust folgten Phasen der Unsicherheit, der Schmerzen und der Hilflosigkeit, die durch fünf weitere Operationen zur Entfernung der Leukoplakien ausgelöst wurden. Die Leukoplakien traten einfach auf. Aus dem Nichts. Niemand fand einen Zusammenhang zwischen den weißlichen Veränderungen und meinem Immunsystem. Also schnitten die Ärzte sie einfach aus der Zunge. Außerdem versuchten sie, die Leukoplakien zu veröden – das Unerwünschte einfach wegzubrennen. Aus dem Blick, aus dem Sinn. Die Ärzte taten genau das, was meiner eigenen Haltung entsprach. Auf die Frage nach dem Warum gab mir niemand eine Antwort.

Es war einfach so.

Punkt.

Die Laserbehandlungen, die diese weißlichen Veränderungen an der Zungenoberfläche wegbrannten, waren extrem schmerzhaft, doch mein Körper funktionierte gut, er regenerierte unglaublich schnell, die Erholung von den traumatischen Eingriffen dauerte nie lange, eine Woche maximal. Doch die ständigen Eingriffe hinterließen Spuren, sowohl in der Mundschleimhaut als auch in meinem Kopf.

Meine junge Seele war überfordert.

Und allein.

Unfähig, die ständigen Rückschläge richtig einzuschätzen, in laufender Sorge um meine Gesundheit, versuchte ich, mich noch mehr auf das Positive in meinem Leben zu konzentrieren. Ich begann, wieder mehr Sport zu treiben. Kein Schwimmtraining, aber die tägliche Einheit Krafttraining, Lauftraining oder Radtraining musste es immer sein. Das Training gab mir ein Gefühl von Stärke. Ich wurde kräftiger, schneller zu Fuß und auch auf dem Rad, widerstandsfähiger in allen Spielsportarten und empfand mich als belastungsresistenter. Meine körperliche Stärke half mir, die Gefahr einer erneuten Krebserkrankung zu vergessen. Zumindest bis zur nächsten Untersuchung.

Nach meiner sechsten Zungenoperation traf ich eine Entscheidung. Ich konnte nicht alle zwei Monate eine Operation ertragen, auch wenn es jedes Mal nur ein kleiner Eingriff war. Das Gewebe veränderte sich ständig, allein durch die neu entstehenden Narben. Weder die Ärzte noch ich selbst wussten mit Gewissheit, ob all die weißlichen Veränderungen auf meiner Zunge eine Gefahr darstellten.

Niemand kannte mein Immunsystem.

Ich auch nicht.

Da es keinen offensichtlichen Grund für mein Plattenepithelkarzinom gegeben hatte, auch keinen für die ständig auftretenden Leukoplakien, entschieden die Ärzte auf mein Drängen hin, die Veränderungen zu beobachten, anstatt sie zu operieren. Eine gute Entscheidung. Die Leukoplakien traten auch weiterhin auf, veränderten sich ständig in Größe und Form, meistens verschwanden sie wieder, um dann bald an anderer Stelle aufzutauchen. Der Blick in meinen Mund wurde zum Ritual meiner Morgenhygiene. Ebenso am Abend. Es gab unzählige Momente, in denen mir die Angst Streiche spielte: Ich begann zu schwitzen, der Blutdruck und mein Puls stiegen, ich lief alle fünf Minuten zum Spiegel, um meinen Mund zu kontrollieren. Ich schwankte zwischen Panik und Vernunft. Diese Anfälle dauerten oft mehrere Tage. Die Krebserkrankung, abgelegt in einer verschlossenen Gruselkammer meines Kopfes, kroch immer wieder in mein Bewusstsein. Es bedurfte vieler Überzeugung und noch mehr Willenskraft, meiner Angstschübe Herr zu werden.

Diese Situationen forderten mich.

Aber sie stärkten mich auch.

Langsam und beständig schulte ich meine Vernunft und meinen Willen. Ich musste die Panik besiegen. Einen Weg finden, um mit der Bedrohung umzugehen. Darüber zu sprechen, war für mich keine Lösung. Ich schenkte meiner Krankheit, die ich nicht als solche akzeptierte, keine Aufmerksamkeit mehr. Ich hatte immer das Gefühl: Je weniger ich dem Krebs und seinen Bedrohungen Platz biete, desto besser kann ich mich auf meine Stärken konzentrieren. Ich versuchte, den Krebs zu minimalisieren. Er war für mich ein lokales Problem, er hatte keinen Einfluss auf den Rest meines Körpers. Ich wollte ihm sprichwörtlich keinen Raum geben. Monat für Monat wurde ich stärker. Körperlich und seelisch. Meine Gruselkammer öffnete sich immer seltener, sie war da, doch ich nahm den Inhalt nicht mehr heraus. Ab und zu dachte ich noch an die Operationen, an die lähmende Unsicherheit, doch selbst die Kontrolluntersuchungen, die ich alle vier Monate über mich ergehen lassen musste, wurden zur Routine. Sie stressten mich nun weniger als unmittelbar nach meiner Krebsdiagnose.

Ich vermied das Wort Krebs bewusst. Nie nannte ich das Krebsgeschwür Krebs. Niemand konnte mir erklären, warum mich der Krebs heimgesucht hatte, ich hatte keine Verbindungen zu meiner Krankheit. Der Krebs war auch nicht durchgängig präsent. Er kam aus dem Nichts, ich musste mich eine Zeit lang mit ihm beschäftigen, so lange, bis ich ihn wieder in die Kammer schließen konnte. Er war kein dauerhafter Begleiter, vielmehr ein lästiger Zeitgenosse, der mir immer wieder auf mein Gemüt schlug, ohne durchgehend Schaden anzurichten.

Nach fünf Jahren – das ist der Zeitraum, nach dem Experten den Krebs als besiegt betrachten – ging ich nicht mehr zur Kontrolluntersuchung. Aufforderungen seitens des Landeskrankenhauses, weiterhin in ärztlicher Betreuung zu bleiben, ignorierte ich. Die Beschäftigung mit diesem Thema tat mir nicht gut. Ich hatte keinen Rückfall, die oberflächlichen Veränderungen auf meiner Zunge nahm ich zur Kenntnis, bevor ich sie schlussendlich ebenfalls ignorierte. Ich fühlte mich körperlich und seelisch so stark wie noch nie; ich beschloss, den Krebs endgültig aus meinem Leben zu streichen. Ich war 23 Jahre jung, rauchte nicht, war sportlich, hatte keine Risikofaktoren und ernährte mich ausgewogen.

Keine Kontrollen mehr, kein Arzt, kein Krebs – so einfach war das Leben.

Fortan genoss ich meine Studienzeit in vollen Zügen.

Ich arbeitete nun auch als Schwimmtrainer und stillte mit dieser Tätigkeit meinen immer noch brennenden Ehrgeiz. Dem Sport blieb ich somit treu, nun auf der anderen Seite des Beckens. Meist basierend auf Erfahrungen aus dem Studium, der eigenen Schwimmkarriere, oft auch durch simples Ausprobieren versuchte ich, meinen eigenen Stil als Trainer zu finden. Ich beging in meinen ersten Trainerjahren viele Fehler, korrigierte jedoch meist alle. Die Erfahrungen, die ich daraus gewinnen und mitnehmen konnte, waren Gold wert. Ich zog mein Wissen aus Eigenerfahrung. Ich bekam eine zweite Chance. Ich arbeitete daran, meine Ziele durch andere wahr werden zu lassen. Ich war derselbe junge Mensch mit denselben ehrgeizigen Zielen, den gleichen Antrieben. Als Athlet hatte ich meine Grenzen erkennen müssen, als Trainer schienen mir alle Möglichkeiten offen. Ich glaubte fest an die Möglichkeit, den Schlüssel zum Erfolg zu finden. Mit Hilfe des damaligen Landestrainers, der fachlich mein Mentor wurde, konnte ich gleichzeitig beobachten und frei von jedem Druck lernen. Ich wuchs im Schatten des Leistungssports langsam wieder in jenen Rhythmus hinein, der mir als Aktiver, als junger Schwimmer, zu intensiv geworden war.

Mein Ehrgeiz war wieder da.

Roswitha

When all I want is you.

U2, All I Want Is You

Blondes Haar, athletischer Körper, immer in Bewegung und doch nur ein Schatten, der mich regelmäßig streifte. Sie saß im selben Kurs, wir lauschten den Ausführungen unseres Professors über die Geschichte der Olympischen Spiele, dennoch trafen sich unsere Blicke immer wieder. Anders als ich das kannte. Schüchtern und doch neugierig. Verhalten, aber doch interessiert. Zufällig, aber doch bewusst.

Abgesehen von ein paar Begrüßungsfloskeln unterhielten wir uns das ganze Semester lang nicht, dennoch war Roswitha der Grund, warum ich mich jede Woche neu auf die Lehrveranstaltung an der Sportuniversität freute. Irgendetwas zog mich an. An ihr, an der Situation, an der Ungewissheit, ob sich etwas daraus entwickeln könnte, egal, in welcher Art. Abseits unserer gemeinsamen Lehrveranstaltung sah ich meine blonde Schönheit nur als kurzen Lichtblick an mir vorbeihuschen. Im Leistungszentrum nach dem Training meiner Schwimmer, als sie mir von einer Lehrveranstaltung auf dem Parkplatz ein Lächeln zuschickte, im Supermarkt, von ihr unbemerkt, als ich sie beim Einladen der Lebensmittel in ihr Auto beobachtete, oder am Abend auf der Tanzfläche eines Nachtlokals, in dem ich meine Augen nicht von ihr lassen konnte. Ich sah sie allein, aber auch häufig in der Begleitung eines kleinen Kindes, offensichtlich ihres Sohnes, der mir vor allem wegen seiner dicken Backen und seinem schelmischen Grinsen sofort in Erinnerung blieb.

Als der Schatten fast an mir vorbeigezogen war, es war am Ende des Sommersemesters, bekam ich den wohl für mich bis dahin überraschendsten Telefonanruf. Roswitha war am anderen Ende der Leitung. Ich wusste nicht, woher sie meine Telefonnummer hatte, sie sprach völlig offen über ihren Wunsch, mich zu treffen, versuchte mir jedoch gleichzeitig zu erklären, dass es nur um ein Treffen ging, sie wolle mit mir sprechen. Es wirkte, als ginge es um etwas Fachliches. In mir herrschte Gefühlschaos. Aufgeregt, irritiert, gespannt, nervös, neugierig, schüchtern, stolz und überfordert zugleich traf ich mich wenige Tage später mit ihr zu einem Mittagessen, und sie sprach genau von jenen Gefühlen, die ich ebenso empfand.

Gefühlschaos.

Alles fühlte sich anders und neu an. Die Anziehungskraft zwischen uns war am ganzen Körper spürbar, in jedem Wort, in allen Bewegungen, sogar in den distanzierten Gesprächen, die mich bei unseren ersten Begegnungen vor den Kopf stießen. Ich konnte die Situation – die zierliche, aber doch nur so vor Lebensenergie sprühende, blonde Schönheit und meine eigene Haltung – nicht einordnen, ich verstand nicht, es war etwas komplett Neues.

Roswitha war ein Jahr älter als ich, verheiratet, und lebte mit dem Vater ihres Sohnes. Erst da begriff ich, dass mein Gefühlschaos überschaubar war – im Verhältnis zu ihrer Lebenssituation. Roswitha schwankte ständig zwischen den unterschiedlichsten Welten, Glücksgefühlen, Verpflichtungen, Verantwortungen und Schuldgefühlen, ich hingegen war einfach nur verliebt. Das allein war kompliziert und aufregend genug, nicht einmal in Ansätzen konnte ich ihr Chaos abschätzen, geschweige denn nachvollziehen.

Dennoch war ich in den nächsten Monaten glücklich. Ich war passiv und trotzdem offen, ich genoss das Gefühl unserer gemeinsamen Zuneigung, des tief und noch nie so empfundenen Gefühls der Zusammengehörigkeit, auch wenn wir uns selten sahen, uns körperlich immer distanziert begegneten. Ich fühlte mich als Glückspilz, ich war ihr auf einer unbekannten Ebene verbunden, dieses Gefühl wurde durch die Distanz nur verstärkt. Es gab mehr als nur die körperliche Zuneigung, mehr als den Drang nach Nähe, mehr als die Schmetterlinge im Bauch, und genau das machte mein Empfinden so besonders. Roswitha hingegen litt. Sie war in einer Situation gefangen, deren Ausweg sie nicht kannte, die sie nie haben wollte, in die sie hineingeschlittert war, ohne etwas dagegen tun zu können. Und vor allem: Sie kannte mich nicht. Was war ich für ein Mensch? Warum Clemens? Wieso jetzt? Es war irgendetwas auch in ihr, das uns zusammenhielt, trotz der schier unmöglichen Rahmenbedingungen. Es war einfach nur der falsche Zeitpunkt, mich kennenzulernen.

Aber ich war nun einmal da.

Roswitha ebenso.

Als Roswitha knapp eineinhalb Jahre nach unserem ersten Zusammentreffen geschieden wurde, die schmerzliche Trennung vom Kindsvater vollzogen und das Sorgerecht für ihren Sohn geregelt waren, war es für uns trotzdem weiterhin schwer. Wir waren sehr unterschiedliche Menschen. Auf der einen Seite eine extrovertierte, lebendige, gefühlsbetonte junge Frau, die sagte, was sie fühlte, direkt und unvermittelt, auf der anderen Seite der introvertierte, schweigsame, schüchterne und oft zurückgezogene, leicht arrogant wirkende Sportler, der noch nie ernsthaft in seinem Leben etwas teilen musste, schon gar nicht ein gemeinsames Leben. Ich war immer zwei Schritte hinter ihr. War ich mein bisheriges Leben lang Junggeselle gewesen, hatte immer allein gelebt, war Roswitha ein Beziehungsmensch. Ich hatte nie eine Beziehung gehabt, die länger als sechs Monate gehalten hatte, nun empfand ich seit über einem Jahr Schmetterlinge im Bauch, obwohl ich auf Distanz zu meiner Liebe lebte. Alles dauerte lange, war aber trotzdem intensiv. Wir gingen häufig miteinander joggen, sprachen wenig, genossen die Zweisamkeit, um uns dann erst eine Woche später wieder zu treffen. Wir saßen zusammen auf dem Gipfel eines Berges, Roswitha erzählte aus ihrem Leben, ich lauschte, während wir gemeinsam die frische Luft, die Wärme der Sonnenstrahlen und das Glitzern des Schnees in unsere Herzen ließen. Das verband.

Zum zweiten Mal in meinem Leben erfuhr ich Leidenschaft. Anders als im Sport, aber ebenso intensiv. Die junge Liebe zu Roswitha stellte meine Lebensweise vollständig auf den Kopf. Ich war fasziniert von der Intensität des Gefühls zu einer Frau, gefangen von ihrer Schönheit und Ausstrahlung, oft unbeholfen im Umgang mit den eigenen Gefühlen. Ich war 23 Jahre alt, nur auf Roswitha fokussiert und fühlte mich in unserer Gemeinsamkeit zeitbefreit. Ich empfand Nähe, Zuneigung und Geborgenheit in einer Form, die mir bisher fremd gewesen war.

Wir liebten uns, und wir stritten viel.

Meine Beziehung zu Roswitha führte mich in bisher nicht gekannte Situationen und auch Emotionen – schöne wie auch konfliktreiche. Ich durchlebte zum ersten Mal sehr intensive Auseinandersetzungen. Kein Mensch kam näher an mich heran, kein Mensch traf mich so in meinem Innersten, kein Mensch offenbarte mir Emotionen und Zuneigung intensiver als Roswitha. Es war für mich bisher unvorstellbar gewesen, alle meine Emotionen hinauszubrüllen, nie davor hatte ich das Gefühl verspürt, einen Gegenstand aus Verzweiflung, Wut, Ärger und Rage durch das Wohnzimmer zu schleudern. Andererseits war noch nie ein Mensch auf und neben mir gelegen, einfach weil er meine Nähe suchte, nie zuvor hatte ich einen Menschen derart intensiv gerochen, seine Lippen geschmeckt oder mich von einem Lachen so anstecken lassen wie durch Roswitha. Nie zuvor hatte ein Mensch hemmungslos in meiner Nähe geweint, Trost und Zuneigung gesucht, um sich von den Problemen des Alltags zu erholen, oder mir einfach nur Blumen geschenkt, weil er mich liebte.

Ich kannte dies aus meiner Herkunftsfamilie nicht. Ich ging meist jedem Konflikt aus dem Weg, zog mich zurück, kam nur selten aus mir heraus. Roswitha brachte mich an meine Grenzen, sie öffnete meine Grenzen. Ich wurde empfindsamer. Reflexion und Versöhnung waren eine Reise, die ich vor meiner Liebe zu ihr nicht gekannt hatte. Mehrmals schien uns in unseren ersten zwei Jahren der gemeinsame weitere Weg unmöglich, dennoch hielt uns unsere Anziehung wie ein Magnet zusammen. Wir wurden ein Paar.

Hart erkämpft, aber unzertrennlich.

Ein Team.

Trotz aller Unterschiede.

Oder gerade deswegen.

Schwimmtrainer

Gonna stand my ground and I won’t back down.

Tom Petty, I Won’t Back Down

Im Sommer des Jahres 2000 beendete ich erfolgreich meine Studien Sportwissenschaft und Politikwissenschaft. Im Herbst verließ mein Mentor und damaliger Landestrainer Salzburg. Ich hatte ihm zwei Jahre assistiert und unter seiner Verantwortung das Handwerk des Schwimmtrainers erlernt. Drei Monate nach Abschluss meiner Studien erhielt ich seinen Job als Landestrainer des Landesschwimmverbandes Salzburg, was bedeutete, dass ich meine Leidenschaft nun Beruf nennen durfte. Fortan stand ich selbst in der ersten Reihe und entwickelte jenen Ehrgeiz, der mir und meinem Schwimmteam auch schnell erste Erfolge auf nationaler Ebene einbrachte.

Gleich in meinem ersten Berufsjahr als Trainer erlebte ich viele überraschende Höhenflüge. So entwickelte ich jene erwachsenen Siegschwimmer weiter, die bereits unter der Leitung meines ehemaligen Mentors sehr erfolgreich gewesen waren – sie schwammen in unserer ersten gemeinsamen Saison zu Rekorden und Meisterschaftstiteln. Die dazugehörige nationale Anerkennung als Trainer folgte noch im selben Jahr, ich war stolz und höchst motiviert zugleich, dachte, es würde immer so weitergehen: ein 25-jähriger Neuling in der Schwimmsportszene, der gleich zu Beginn seiner Tätigkeit den Schlüssel zum sportlichen Erfolg gefunden hat. Ich erlebte den Schwimmsport sehr emotional. Unangenehme Nervosität vor entscheidenden Rennen meiner Sportler, schlaflose Nächte während wichtiger Wettkämpfe, emotionale Freudenausbrüche und spontane Triumphgefühle bei Siegen und Rekorden kanalisierten mein Streben nach Anerkennung und Erfolg.

Der Alltag des Spitzensports jedoch ist nüchtern:

Es gewinnt immer nur einer.

Bereits der Zweite ist der erste Verlierer.

Diese Logik inkludiert, dass Erfolgserlebnisse die Ausnahme bleiben, Niederlagen hingegen ständige Begleiter des Leistungssports sind.

Ich war naiv, die folgenden Jahre entwickelten sich zunehmend zäher. Dem ersten großen Erfolg folgte im zweiten und dritten Trainerjahr Stagnation, so jedenfalls empfand ich es damals. Ich war unreif in der Planung, vorschnell in der Umsetzung und zu wenig gelassen in der Analyse. Und ständig zu ungeduldig. Meine eigenen hohen Ziele, die ich als Sportler begraben hatte müssen und nun als Trainer wiederentdeckte, schienen schneller als erwartet zu verpuffen. Ich fühlte mich gefangen in dem engen Korsett des Leistungssports, das meist nur Niederlagen zulässt und Erfolge viel zu schnell als Selbstverständlichkeit abtut. Alles reduzierte sich wieder auf Gewinnen oder Verlieren. Auf Leisten oder Nachgeben. Auf Anerkennung durch Erfolg oder Abfall in die Bedeutungslosigkeit. Kurzen emotionalen Höhepunkten folgten unvermittelt und rasch sportliche Tiefschläge und lange Trainingsphasen des Leistens, des Trainierens und des Arbeitens um jeden Preis. Für meine erfolgsverwöhnten Sportler und mich war es eine Herausforderung, nach den anfänglichen Erfolgen nun regelmäßig mit Rückschlägen umzugehen. Schon als junger Sportler, aber nun auch als frischer Trainer, war ich nicht geschult, erfahren und gelassen genug, aus offensichtlich schwachen Wettkämpfen meiner Athleten und ergebnisorientierten Niederlagen den emotional richtigen Schluss zu ziehen.

Ich empfand den Leistungssport als ein ständiges Auf und Ab.

Viele Wettkämpfe, viele Trainingslager, viele Stunden Arbeit in der Schwimmhalle. Roswitha litt unter meiner häufigen Abwesenheit. Sie hatte ihr Studium ein Jahr vor mir abgeschlossen und arbeitete nun als AHS-Lehrerin, hatte daher an den Wochenenden frei und viele Wochen Schulferien, die sie meist jedoch allein verbringen musste. Ich war ständig unterwegs. Drei Trainingslehrgänge über mehrere Wochen, jährlich um die 20 Wettkämpfe an den Wochenenden forderten unsere junge Beziehung und setzten mich zusehends unter Druck. Ich schwankte zwischen meinem beruflichen Ehrgeiz, meiner Liebe zu Roswita und vor allem meinem Drang, mehr Zeit mit Roswithas Sohn Lukas zu verbringen.

Mein Lukas. Ich hatte mich in diesen kleinen, bewegten und aktiven Buben mit einem anfangs etwas zu großen Kopf verliebt, als er drei Jahre alt war und ich ihn zum ersten Mal sah. Er konnte nicht stillsitzen. Er war immer unterwegs, und konnte er nicht irgendetwas im Haus oder in unserem Garten bewegen, wurde er rasch jähzornig. Bereits im Vorschulalter konnte er den kompletten Text von „Max und Moritz“ auswendig und sprach bei jeder Wiederholung im Fernsehen den Text vor der Szene ab. Als er fünf Jahre alt war, boxten wir mit Handschuhen, die fast so groß wie sein Kopf waren, ich fiel bei jedem seiner Schläge theatralisch zu Boden, Lukas triumphierte und fühlte sich wie Muhammad Ali. Und ich fühlte mich wie sein zweiter Dad. Ich fand in Lukas fesselnde Unbefangenheit, Neugierde und Zuneigung, die mich sofort vereinnahmten. Und Lukas liebte seinen Clemi, wie es nur ein Kind tun kann, das spürte ich von Anfang an. Ich bemühte mich, ihm all das zu geben, was er durch die schmerzliche Trennung seiner Eltern verloren hatte, ohne ihm seinen leiblichen Papa wegzunehmen. Ich ergänzte genau jenes Loch, das zwangsläufig durch eine Trennung entsteht, und war für ihn intuitiv der richtige Mensch zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle. Seine Offenheit, mich in sein Leben zu lassen, entwickelte sich zu einem Wert, den ich erst viel später bewusst wahrnehmen konnte. Mein Lukas war fortan auch mein Sohn. Clemens sein zweiter Papa. Dennoch konnte ich die Rolle des liebevollen Partners und Ersatzvaters nicht entsprechend meinen Gefühlen ausleben, ich war rasch gefangen in dem Streben nach beruflichem und sportlichem Erfolg.

Mir fehlte die Weitsicht.

Ich war sehr jung.

Nach unserem ersten, sportlich unerwartet erfolgreichen Jahr trat ein – anfangs noch unterschätzter und belächelter – Konflikt in den Vordergrund, der mich 14 Jahre begleiten sollte. Ein Jahr lang war ich nun Verbandstrainer des Salzburger Landesschwimmverbandes. Auf der einen Seite stand ich – ein junger, ehrgeiziger Mann, der aus dem Schwimmsport kam und am Anfang seines beruflichen Weges stand –, auf der anderen Seite ein regionales Verbandssystem, das von Funktionären geleitet wurde, die mich nicht unterstützen wollten. Wir passten nicht zusammen. Diese kurze Zeit hatte ausgereicht, um unser gegenseitiges Misstrauen zu entfachen, und endete vor dem Arbeitsgericht. Fortan arbeitete ich an meinem eigenen Weg, an meinem eigenen Schwimmsport. Ich versuchte, jeden Mosaikstein für den Erfolg meiner Sportler und meines Teams zusammenzusammeln und ihn an der richtigen Stelle einzusetzen. Ich arbeitete an mehreren Fronten gleichzeitig, war Trainer, Manager, Administrator, Hobbypsychologe und Pressesprecher in einer Person, tat alles, um mich durchzusetzen.

Der Aufbau unseres Vereins beanspruchte viele meiner Ressourcen. Bis zu zehn Trainingseinheiten pro Woche stand ich zudem in der schwülen Luft der Schwimmhalle. Meine Anweisungen brüllte ich ins Wasser, mit voller Leidenschaft und Energie trieb ich mich und meine Sportler vorwärts. Ich empfand meine körperliche Fitness als Vorteil gegenüber vielen anderen Berufstätigen, als Waffe im Kampf gegen meine Kontrahenten. Sport verbesserte meine Aufnahmefähigkeit und vertrieb die Müdigkeit. Ich verkraftete die vielen Stunden in der Schwimmhalle leichter, darauf war ich stolz. Mein Hobby war mein Beruf. Ich stand 24/7 unter Strom. Unser Verein wuchs jedes Jahr an Größe und Qualität. Unter dem Schirm meines Vereins erlernte ich alle Facetten des Berufslebens, allerdings unter dem ständigen Druck, leisten zu müssen, sportlicher Erfolg war die Rechtfertigung meines Handelns.

Der Streit zwischen meinem Heimatverein und dem Landesschwimmverband intensivierte sich. Der Konflikt raubte Energie. Ich fühlte mich angestachelt und herausgefordert, wollte mich um jeden Preis durchsetzen, dachte an meine beruflichen Ziele, unterschätzte aber die vernichtende Kraft eines jahrelangen Disputs. Die Trainingsgruppen des Verbandes trainierten täglich, häufig auch zweimal am Tag parallel zu meiner Leistungsgruppe, die Nähe der Kontrahenten war auch körperlich spürbar; sie schuf Antipathie. Sie förderte körperliches Unbehagen. Dieses zu kontrollieren, kostete mich mehr Kraft, als mir lieb war. Häufig versagte mir die Stimme, weniger aus Übermüdung, mehr wegen des beklemmenden Drucks, den ich in der Brust verspürte. Ich saß in der Schwimmhalle, schwitzte in der schwülen Luft, brüllte gegen den Widerstand des Lärmpegels einer vollen Halle und gegen die Befehle der anderen Trainer meinen Schützlingen meine Anweisungen entgegen und verspürte die missgünstigen Blicke der Verbandstrainer in meinem Rücken. Ich war nach jedem einzelnen Schwimmtraining so erschöpft, als wäre ich selbst zwei Stunden mein eigenes Programm geschwommen. Hinzu kam, dass mein Kopf dröhnte, mein Hals kratzte, meine Lungen nach Sauerstoff gierten. Die Energie an meinem Arbeitsplatz Schwimmhalle war vergiftet, genauso nahm ich das auch körperlich wahr. Ich war unter Stress, wenn ich die Halle betrat, und verließ sie unter Stress, das wirkte nach. Trotz meiner körperlichen Fitness fühlte ich mich rasch ausgelaugt.

Ich zog jedoch aus diesem zermürbenden Kleinkrieg nicht die notwendigen Konsequenzen, um mich vor dem ständigen Stress zu schützen. Im Gegenteil. Der spürbare Gegenwind, der mir in meinen Aufbaujahren entgegenblies, trieb mich noch zusätzlich an. Ich wollte mich nicht in meinem Ehrgeiz einschränken lassen, vor allem wollte ich mir nicht vorschreiben lassen, wie mein Weg und meine Idee auszusehen hatten. Vielmehr ging ich meinerseits in die Offensive und suchte die Konfrontation. Mein Rechtsbewusstsein und mein Wille erlaubten es mir nicht, nachzugeben. Aus Wochen wurden Monate, aus Monaten Jahre.

Dennoch kam für mich ein Berufs- oder Standortwechsel nicht infrage. Ich lebte nun bereits mit Roswitha und Lukas im Anbau ihres Elternhauses, Tür an Tür mit ihren Eltern. Das Haus in einem der besten Stadtteile Salzburgs war unser Eigentum, mein gesamtes soziales Umfeld bedeutete mir sehr viel, ich liebte die Natur in der unmittelbaren Umgebung und konnte mir keinen besseren Lebensmittelpunkt vorstellen. Auch fühlte ich mich an Lukas gebunden, wir verbrachten viel Zeit miteinander, und ich spürte seine kindliche Zuneigung auch als Verantwortung, ich dachte nie daran, das alles wieder zurückzulassen oder nur zu vernachlässigen. Am meisten jedoch trieb mich meine Sturheit an, weiterzustreiten.

Ich wollte nicht verlieren.

Um keinen Preis.

Die unterschiedliche Auffassung in Bezug auf den Schwimmsport und die menschliche Rivalität stachelten meinen Ehrgeiz an und triggerten ein lang unterdrücktes Bedürfnis, mein Leben selbst zu gestalten – vermutlich begründet im Widerstand meiner Herkunftsfamilie gegen den Leistungssport. So wollte ich nun als junger Mann meine Wünsche und Träume endlich umsetzen. Ich wollte mir, meinen Eltern und allen Zweiflern beweisen, dass mit Leidenschaft und Einsatz, mit Konsequenz und Ehrlichkeit Erfolg möglich sei, auch in einer Randsportart wie Schwimmen. Erfolg auf sportlicher Ebene, aber viel mehr auf beruflicher und persönlicher Ebene.

Auch als Schwimmtrainer ist es möglich, sich eine Existenz aufzubauen, eine Familie zu ernähren und berufliche Anerkennung zu erlangen.

Das war meine Motivation.

Auf keinen Fall wollte ich mich von Verbandsfunktionären bremsen lassen, zu intensiv war mein Drang nach Aufmerksamkeit. Ich wollte mich durchsetzen, ich musste mich durchsetzen. Meine Suche nach Bestätigung, mein Hunger nach Erfolg und meine Beharrlichkeit, meinen Weg – auch gegen den Widerstand der Verbandsinteressen – durchzusetzen, trieben mich an, ließen mich nicht zurückstecken. Nach den schwierigen, aber lehrreichen ersten Jahren lief es sportlich zufriedenstellend, es waren meine erfolgreichsten Jahre, ich nahm sie jedoch als frustrierend wahr. Meinen Erwartungen, auf internationaler Ebene erfolgreich zu agieren, konnte ich nicht entsprechen. Ein internationales sportliches Niveau zu erreichen, erfordert nicht nur sehr viel Arbeit, sondern auch Zeit, Geduld und Erfahrung, die ich mir nicht gab, die ich noch nicht hatte. Ein internationales Level jedoch zu halten oder zu verbessern, verlangt darüber hinaus Durchhaltevermögen, Frustrationstoleranz und auch viel Glück. Das wollte ich erzwingen.

Ich war davon überzeugt, Erfolg im Sport sei sehr leicht zu definieren: Wer gewinnt, hat recht.

Im Jahr 2002 bot mir die Universität Salzburg die Möglichkeit, mein Wissen als Lehrbeauftragter im Bereich des Schwimmsports an Studierende weiterzugeben. Eine tolle Chance, die ich unbedingt wahrnehmen wollte und die mir ein zweites berufliches Standbein ermöglichte. Ich etablierte mich in den kommenden Jahren als Fachmann in meinem Bereich. Ich hielt Vorträge über Bewegungslehre und Trainingslehre des Schwimmsports an den Bundessportakademien in Innsbruck und Linz, half zukünftigen Schwimmtrainern, sich auf staatlich geprüftem Niveau auszubilden. Der einzige Wermutstropfen, den ich damals empfand: Ich stand noch mehr Stunden in der Schwimmhalle und sah nur eine Möglichkeit, meinen Studenten mein Wissen zu vermitteln: Druckvolles, lautes, permanentes Sprechen – meist Brüllen, anders verstand man meine Worte in der Schwimmhalle nicht. Es ermüdete mich zusehends. Dringend benötigte Pausen übertauchte ich, stattdessen nutzte ich jede weitere Möglichkeit, um meine berufliche Weiterentwicklung voranzutreiben.

Die Rahmenbedingungen für eine dauerhafte Überlastung entwickelten sich: Aus acht Stunden Arbeit wurden zwölf Stunden. An Wettkampfwochenenden arbeitete ich pausenlos. Nach einem viertägigen Wettkampf war der darauffolgende Montag ein normaler Arbeitstag, der sich noch dazu intensiver und umfangreicher als ein normaler Montag gestaltete, da das Wochenende aufgearbeitet, analysiert und besprochen werden musste. Ich stand zu viele Stunden in der Schwimmhalle, sah jedoch keine Alternative zu meinem eingeschlagenen Weg im Hochleistungssport.

Diese Ambivalenz – auf der einen Seite die Belastung, der Druck, die negativen äußeren Einflüsse, auf der anderen Seite die Motivation, die ich aus diesen Umständen zog und die mich antrieb – stellte den Grundstein für meine Entwicklung als Schwimmtrainer und die Entwicklung meines Vereins zum größten und erfolgreichsten Verein des Salzburger Schwimmsports dar.

Ich war stolz und getrieben gleichzeitig,

wollte immer mehr.

Genug war mir zu wenig.

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