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Sinn im Leben

Clemens G. Arvay: Wir haben als Einzelpersonen eben beschränkte Möglichkeiten, wir können nicht die ganze Welt retten.

Roland Düringer: Das ist der springende Punkt: Viele glauben, sie müssten die Welt retten und schmieden gute Pläne, wie das gehen könnte. Sie haben Konzepte und Ideen dafür, gründen Vereine, vielleicht auch Parteien, Bewegungen. Ich aber glaube, dass kein Mensch auf die Welt kommt, um diese zu „retten“. Manche glauben natürlich auch, wir kämen auf die Welt, um uns selbst zu retten, um unsere Seele, unseren Geist zu retten. Wenn ich in meinem kleinen Umfeld einiges bewegen kann, wenn ich Sinn stiften kann in verschiedenen Bereichen, dann habe ich eigentlich die Welt gerettet. Denn was ist schon die Welt? Angeblich wissen wir das heutzutage: Seit jemand von oben ein Foto von unserem Planeten Erde gemacht hat, sehen wir zum Beispiel, dass die Erde rund ist, dass sie annähernd eine Kugel ist. Jeder von uns kann heutzutage in einem elektronischen Gerät nachsehen, was auf der anderen Seite der Erde passiert, wie es dort aussieht, das ist alles kein Problem mehr. Unsere Welt ist für uns also gleichbedeutend mit dem Planeten Erde, geht aber, wie mittlerweile ja bekannt, weit darüber hinaus. Immerhin waren ja schon Menschen auf dem Mond und wollen bis zum Mars und noch weiter. Wir wissen, dass es andere, fremde Galaxien gibt. Das sind für uns noch relativ neue Dinge. Die Lebenswirklichkeit des Menschen war aber schon immer seine eigene Umgebung. Wie weit ist man früher zu Fuß gekommen? Der Ort, in dem ich wohne, ist von Wien vielleicht 40 Kilometer entfernt. Der inzwischen verstorbene Opa meines Nachbarn und die Oma, die noch lebt, waren dennoch nicht öfter in Wien, als ihre Hände Finger zählen.

Ich bin mir sicher, dass ich hier in der Umgebung Menschen finde, die noch nie in Wien waren, weil es in ihrem Leben nicht notwendig war, dort zu sein. Das heißt, ihre Welt ist eigentlich die kleine Region, in der wir hier leben, und das war früher völlig normal. Du warst vielleicht in einem Tal aufgewachsen, wusstest, dass es hinter den Bergen weiterging, es war für dich aber nicht wirklich relevant. Sicher gab es immer Menschen, die über die Berge wanderten und etwas suchten, die weiter gingen als andere. Das sind die, über die uns die Geschichtsschreibung berichtet. Aber für einen durchschnittlichen Menschen hörte die Welt dort auf, wo eigentlich die Grenzen seines persönlichen Lebensumfeldes waren, die Grenzen seiner Erreichbarkeit. Und daran ist nichts Schlechtes.

Was die Welt ist, die wir retten wollen, ist also relativ.

Clemens G. Arvay: Es gibt offensichtlich seit dem Übergang der 1970er-Jahre in die 1980er-Jahre einen drastischen gesellschaftlichen Wandel, nämlich was die Lebenswerte betrifft. Zwischen 1966 und 2002 gab es in den USA eine mehrere Jahrzehnte andauernde Umfrage unter Studentinnen und Studenten, um herauszufinden, was ihnen im Leben wichtig war, was sie also als wesentlich für das eigene Leben beurteilten. Wenn man sich das Ergebnis dieser Umfrage ansieht, stellt man deutliche Veränderungen im Laufe der Zeit fest. Am Beginn der Studie war es für die meisten, nämlich für mehr als 80 Prozent, besonders wichtig, eine bedeutungsvolle Lebensphilosophie zu entwickeln. Für den geringeren Teil war es entscheidend, finanziell sehr gut aufgestellt zu sein und viel Geld zu verdienen. Dann begannen sich diese Einstellungen allmählich zu verändern. Im Jahre 1977 hielten sich die Angaben exakt die Waage: Viel Geld zu verdienen und die bedeutende Lebensphilosophie waren den Befragten in etwa gleich wichtig. Bis zur Mitte der Neunzigerjahre drehte sich das ursprüngliche Verhältnis dann um. Seither – und die Studie wurde bis 2002 fortgesetzt – spielt der finanzielle Status für den größten Teil der Studenten, nämlich für etwa 75 Prozent, die herausragende Rolle und nur mehr circa 40 Prozent gaben an, dass ihnen eine bedeutende Lebensphilosophie ein Anliegen sei5.

Meiner Meinung nach sagt das sehr viel aus und ich wundere mich eigentlich, wenn ich mir diese Entwicklung ansehe, nicht mehr darüber, dass die Lebensphilosophie, das „gute Leben“, gesellschaftlich betrachtet spürbar in den Hintergrund getreten ist. Diese Ausrichtung von immer mehr Menschen auf materiellen Erfolg ist in unserer Welt stark präsent.

Roland Düringer: Diese Tendenz habe ich auch beobachtet. Ich selbst bin ja im Jahr 1963 geboren und daher ein Kind der Zeit, in der sich die Werte laut dieser Statistik in den Siebzigerjahren völlig umgedreht haben. Ab da ging es mit dem Wunsch, finanziell besser aufgestellt zu sein, stark bergauf. Das Entscheidende war, dass man einmal materiell besser dastehen wollte, das hörte ich auch von meinen Eltern immer wieder: „Du sollst es einmal besser haben als wir.“ Mit „besser haben“ war immer gemeint, mehr zu besitzen, weil wir „mehr“ und „besser“ sehr leicht miteinander verwechseln. Natürlich hat meine Generation jetzt mehr: Mehr Stress, mehr Schulden, mehr seelisches Leid, mehr Nahrungsmittelunverträglichkeiten, mehr chronische Krankheiten und natürlich viel mehr Entscheidungsmöglichkeiten. Zu viele Entscheidungsmöglichkeiten, die unsere Köpfe so richtig rauchen lassen.

Wir wissen, dass drei mehr als zwei ist, was auch völlig korrekt ist. Falsch wird die Rechnung erst, wenn man glaubt, dass drei auch besser als zwei sei und genau in diesem Wahn stecken wir momentan. Diese Sichtweise relativiert sich aber rasch: Bei Ohrfeigen zum Beispiel. Bei einer wirklich „festen Fotz’n“ – so würde man in Wien sagen – reicht eine einzige durchaus aus, da brauche ich nicht drei davon.

Heute lautet das Prinzip: „Mehr ist besser. Vor allem mehr Geld ist besser.“ Wir haben mehr Geld, alle, die gesamte Welt hat mehr Geld als jemals zuvor. Geht es uns deswegen wirklich besser? Die Leute schreien nach mehr Geld und sie bekommen mehr Geld, weil dieses Geld ja relativ einfach gemacht werden kann. Irgendjemand tippt Zahlen in einen Computer und dabei wird Geld „erschaffen“, das es vorher nicht gegeben hat. Virtuelles Geld. Das heißt, es gibt mehr Geld, nur macht das keinen Sinn mehr. Auch, wenn ich mir für unser Geld immer weniger kaufen kann, wenn ich also stetig weniger dafür bekomme, hat es keinen Sinn, mehr von dem Geld zu besitzen, denn wenn ich mit dem Mehr einer gewissen Sache letztendlich weniger von dem bekomme, was ich wirklich brauche, um gut zu leben, dann ist das ein vollkommener Unsinn. So ist es, wie ich glaube, in sehr vielen Bereichen des Lebens passiert. Wir haben das Gefühl für das richtige Maß verloren, für den Punkt, ab dem es genug ist und wo man sagen kann: „Gut, alles, was jetzt darüber hinausgeht, ist nicht mehr sinnvoll, ist schlecht.“

Bis zu einem gewissen Grad ist eine stetige Steigerung natürlich ein Gewinn. Ab einem gewissen Punkt kann sie hingegen sogar schädlich werden. In manchen Fällen ist die Steigerung zwar nicht schädlich, aber einfach nur sinnlos, zum Beispiel in einem Wirtshaus. Wenn ich dort fünf Euro eingesteckt habe, dann reicht das für ein Getränk. Wenn ich 25 Euro eingesteckt habe, reicht es für ein Getränk und etwas zu essen. Wenn ich 50 Euro dabeihabe, kann ich schon wirklich sehr, sehr gut essen und kann mir einiges leisten.

Wenn ich fürs Wirtshaus 200 Euro eingesteckt habe, kann ich sogar jemanden einladen. Wenn ich aber 5000 Euro ins Wirtshaus mitnehme, dann ist das völlig sinnlos. Ich kann damit nicht mehr machen, dann habe ich einfach nur mehr Angst, dass mir dieses Geld jemand wegnehmen könnte.

Wenn ich eine Million Euro eingesteckt habe, dann kann ich natürlich das ganze Haus samt Wirtshaus kaufen, obwohl ich ja eigentlich nur ein gutes Essen wollte.

Vorausblickend denken

In allen Bereichen des Lebens muss man die Schwelle erkennen, ab der man zu sich selbst sagt: „Das ist jetzt genug. Alles darüber kostet mich etwas und birgt sogar Gefahren.“ Diesen Punkt sollte man nicht übersehen. Darum mag ich das Motorradfahren, denn dabei führt das Hinausschießen über Grenzen unmittelbar zu einer Rückkopplung: Schmerzen. Ich fuhr Motocross und Endurorennen, also im Gelände, aber auch auf asphaltierten Rennstrecken. Das Motorrad hat bekanntlich zwei Räder und es fällt um, wenn man es irgendwo abstellt. Es stabilisiert sich in Bewegung durch die Kreiselkräfte, die dabei entstehen. Du bist mit deinem Motorrad ein Gesamtsystem in labilem Gleichgewicht und diese Balance gilt es auch in Kurven zu halten, obwohl die Fliehkräfte ja dagegen arbeiten. Man fährt also in eine Kurve und das einzige, das einen Sturz verhindert, ist der Grip zwischen Boden und Reifen. Je schlechter der Asphalt oder der Reifen, desto schlechter der Grip und desto eher liegst du auf der Nase, oder zumindest am Hintern. Die Reifen haben beim Motorradfahren über eine runde Auflagefläche Kontakt zur Straße. Wenn du dich so richtig in die Kurve hineinlegst, wird diese Kontaktfläche immer kleiner, bis irgendwann nur mehr eine ganz schmale Kante von zwei oder drei Millimetern aufliegt und der Rest des Reifens vom Asphalt abgelöst ist. In Schräglage entscheiden dann diese wenigen Millimeter Gummi, ob es dich vom Motorrad herunterreißt oder nicht. Da braucht man wirklich Gefühl im Hintern. Man muss wissen, wann es genug ist, wann man „runter vom Gas!“ sagen muss.

Unter Motorradfahrern gibt es einen Spruch, der lautet: „Besser viel zu langsam als ein bisschen zu schnell“. Wenn man das nicht einhält, kann es wehtun. Mit einem Rennauto ist das nicht mehr so, da bist du ja nicht Teil eines Gleichgewichtssystems, sondern nur die Steuereinheit. Beim Fahren tut sich dann deutlich weniger und Fehler führen zu geringeren negativen Rückkopplungen. Schlitterst du mit einem Auto auf einer Rennstrecke aus der Kurve, fährst du in den Sturzraum, eine Schotterfläche, und kommst vermutlich ungeschoren davon. Mit einem Motorrad tut das hingegen richtig weh und ab dem Moment, in dem du am eigenen Leib erfahren hast, dass Motorradfahren wehtun kann, verhältst du dich ganz anders. Der, der nicht dazulernt und das eigene Verhalten am Motorrad ändert, spielt mit seinem Leben oder trägt womöglich bleibende Schäden davon.

Im Leben wollen wir – im übertragenen Sinne – diese Grenzbereiche nicht wahrnehmen. Oft können wir es auch nicht, muss man fairerweise dazu sagen. Wir spüren im Leben die unmittelbaren negativen Rückkopplungen nicht, die uns das Motorrad ohne Zeitverzögerung übermittelt. Wenn du mit dem Motorrad in eine Kurve hineinfährst, spürst du, wenn es über das Vorderrad zu rutschen anfängt. Bei vielem, das wir im Leben tun, wenn wir über das Ziel hinausschießen, bekommen wir zuerst sogar eine positive Rückkopplung und keine negative. Das Abreißen des Grips passiert dann nicht wie auf dem Motorrad „jetzt“, sondern zeitverzögert, irgendwann später. Der Sturz, der Crash, passiert also erst in der Zukunft.

All das, was wir seit den Siebzigerjahren ansteuern – seit diese Statistik gemacht wurde, die wir uns gerade angesehen haben –, bringt uns zunächst positive Rückkopplungen: Mehr Geld, mehr Waren, immer alles sofort verfügbar haben, alle Möglichkeiten ausschöpfen, noch höher bauen, Autos noch schneller werden lassen, noch schwerer; immer mehr, mehr, mehr. Da bekommt man vielleicht sogar 50 Jahre lang lauter positive Rückkopplungen und erst spät merkt man: „Hoppla, wir haben etwas übersehen. Wir sind über das sinnvolle Maß hinausgeschossen.“ Die Folgen unseres Verhaltens, das wir in den letzten Jahrzehnten an den Tag gelegt haben, spüren wir ja jetzt noch nicht. Wir denken nur darüber nach, was passieren könnte, das ist aber eine virtuelle Geschichte. Ob beispielsweise wir beide überhaupt noch die wahren Folgen spüren werden, das wissen wir nicht. Unsere Nachfahren, die nächsten Generationen, die Kinder, die Enkel, die Urenkel, werden sie ganz bestimmt spüren. Für uns, kurzfristig gedacht, gibt es relativ wenige Gründe, unser Handeln zu verändern. Es ist so, als würden wir mit einem Motorrad fahren und fahren und fahren und dabei wissen, dass es ohnehin nicht dich aus dem Sattel reißen wird, sondern erst den nächsten, der aufsitzen wird. Genau das ist das Traurige an gesellschaftlichen Diskussionen, wenn es zum Beispiel um den Klimawandel und ähnliche Probleme geht. Nehmen wir als Beispiel den CO2-Ausstoß: Wie viele Kilogramm an CO2 ich ausstoße, kann ich nicht einmal sehen. Ich erhalte diesbezüglich keine unmittelbare Rückkopplung. Wie soll das unser Gehirn verstehen? Es begreift den Schaden nicht, den wir anrichten.

Ein anderes Beispiel: Wenn ich auf meinem Acker eine Missernte verzeichnen muss, vielleicht wegen einer Überschwemmung oder weil der Frost kommt, dann stehe ich davor und sehe es: „Jetzt ist jetzt passiert!“ Und ich weiß: „Jetzt bin ich in einer schlimmen Situation, jetzt muss ich schauen, dass ich überlebe. Jetzt!“ Momentan scheint für uns noch alles zu funktionieren. Wo gibt es Probleme mit der Umwelt? Ich blicke in meinen Garten hinaus und kann die Frage stellen: „Wo bitte läuft da in unserer Umwelt etwas falsch?“

Natürlich können wir derzeit auch nicht zu hundert Prozent sicher sein, dass alles, was Experten zum Beispiel über den Klimawandel sagen, wirklich stimmt. Wir wissen es nicht genau – auch die vielen Zukunftsforscher nicht, die sich ausrechnen, wie es im Jahr 2050 um das Klima stehen wird, und die schon jetzt voraussagen, um wie viel der Meeresspiegel steigen wird, die Gletscher abschmelzen werden, es hier Dürre, dort Überschwemmungen geben wird. Das ist nichts weiter als Kaffeesatzlesen. Keiner der Zukunftsforscher weiß, wie sich Menschen verhalten werden. Sie können nicht wissen, wie wir uns letztendlich verändern werden und ob wir nicht innerhalb von zehn Jahren vieles ganz anders machen werden. Vielleicht werden wir bis dahin vor gänzlich anderen Problemen stehen und der Klimawandel wird uns vollkommen egal sein, weil dann ganz unerwartet ein Virus auftauchen wird, oder wir dahinterkommen werden, dass irgendetwas in unsere Umwelt gelangt ist, das die Kinder so richtig krank machen wird. Eigentlich sind wir ohnehin schon fast so weit, wenn ich an all die zigfach geimpften Kinder denke, die Allergien und Nahrungsmittelunverträglichkeiten haben, während sich niemand fragt: „Warum ist das so?“ Oder man will es nicht sehen, und manche wissen vielleicht sogar, warum, verdienen aber Geld mit Pharmazeutika und Impfstoffen. Wenn das so ist, dann weiß ich: Da läuft etwas komplett schief.

Ich glaube, auf der sichtbaren Ebene – damit meine ich die mit unseren Sinnen wahrnehmbare – scheint ja alles gut. Alles wächst, alles gedeiht, die Städte werden immer zahlreicher, die Siedlungen größer, Einkaufszentren entstehen. Du hast mehr und mehr Möglichkeiten, die Autos werden besser, werden sicherer und alles wird einfacher. Kommunizieren ist durch das Mobiltelefon leichter geworden, im Januar kann ich Erdbeeren kaufen, bin mit 20 Milchsorten versorgt, und so weiter. Auf dieser Ebene ist alles wunderbar, und dennoch dürfte der Mensch noch andere Sensoren haben, die uns bereits sagen, dass da irgendetwas nicht stimmt, dass da irgendetwas außer Balance ist – dass sich der Sturz schon drei Kurven zuvor ankündigt, du aber ohnmächtig bist, etwas dagegen zu unternehmen, weil es dein Betriebsmodus jetzt einfach nicht zulassen will.

Das ist, so glaube ich, auch der Grund, weshalb viele Leute nicht glücklich sind. Sie holen sich dieses kurze Gefühl des Glücklichseins immer irgendwo, wofür es ja zahlreiche Angebote gibt. Sie sind aber im Innersten unzufrieden und leiden. Das äußert sich dann meistens in körperlichen Reaktionen, Krankheiten, psychischen Störungen, Depressionen oder Burn-out … wie auch immer man es nennt. All das muss einen Grund haben. Es muss einen Grund haben, warum so viele nur mehr auf hundertachtzig sind und eigentlich nicht mehr belastbar.

Mir begegnen immer mehr Menschen, die sagen: „Dies muss sich ändern, jenes kann so nicht weitergehen. Das ist ja alles nur mehr Wahnsinn.“ Ich war neulich mit meiner Mutter bei ihrer Bank, weil sie da etwas zu erledigen hatte und mich dabeihaben wollte, um ihr zu helfen. Wir trafen ihre Bankbetreuerin, die ich persönlich nicht kannte – eine nette Dame. Wir plauderten ein wenig, dann sagte sie einiges, was ich mir von einer Bankangestellten nicht erwartet hätte: „Das gesamte System ist außer Rand und Band“, meinte sie. „Es wird alles zusammenbrechen, das geht so sicher nicht weiter, und es muss sich etwas ändern. Wir müssen erkennen, was wirklich einen Wert hat, und was nicht.“ Diese Frau steckt mitten im System, arbeitet bei einer Bank und verkauft Finanzprodukte. Sie weiß genau, was „los ist“, spürt die Probleme. Sicher gibt es auch viele Menschen, die diese Alarmsensoren nicht haben und die sich denken: „Ach, das wird schon alles gut gehen.“ Auch wenn du zum Beispiel merkst, dass dein Körper nicht mehr so funktioniert, wie er funktionieren sollte, dann sagst du vielleicht: „Ach was, das vergeht schon, das stecke ich schon weg.“ Du willst es nicht wahrhaben.

Erst seit ich selbst mehr Ruhe gefunden und mehr Zeit habe, ist es mir möglich, unser Treiben etwas mehr von außen zu beobachten. Ich bin sozusagen in einem anderen Modus. Nicht nur ich bin das, es sind bereits viele Menschen, die kritisch beobachten und sich denken: „Es läuft etwas falsch.“ Ich wundere mich nicht mehr darüber, wenn ich in einer Zeitung einmal eine Headline sehe, in der steht: „Amokläufer …!“ Ich bin regelrecht dankbar dafür, dass es nur so wenige sind, die Amok laufen. Gründe zum Amoklauf bietet unsere Welt ja genügend. Ich befürchte, dass viele Menschen knapp davor stehen, irgendwann einmal auszurasten, weil sie einfach unter ständigem Druck stehen.

Was ist Selbstverwirklichung?

Clemens G. Arvay: Die Selbstverwirklichung ist offensichtlich ein sehr wichtiges menschliches Bedürfnis. Wir möchten uns in unserem Leben selbst verwirklichen, unser Wesen entfalten und das umsetzen, was wir als unseren inneren Auftrag empfinden. Gleichzeitig stehen aber viele vor dem Problem, dass in der Gesellschaft ein immenser Anpassungszwang herrscht. Anders zu sein bedeutet auch – und oft geht es dabei nur um Äußerlichkeiten –, nicht akzeptiert zu werden. Die Selbstverwirklichung hat ja etwas mit Individualität zu tun, scheitert aber daran, dass eben dieses „Individuell-sein“, dieses Anderssein, in vielen Fällen gesellschaftlich gar nicht respektiert wird. Was sind deine Erfahrungen mit dem Anderssein? Welche Steine werden einem da in den Weg gelegt?

Roland Düringer: Bei der Selbstverwirklichung muss man meines Erachtens etwas vorsichtig sein, damit daraus kein Egotrip entsteht. Sich selbst zu verwirklichen darf nicht dazu führen, dass einem alle anderen egal sind. Wir leben ja in gewisser Weise in einer Zeit der Selbstverwirklicher. Es gibt Menschen, die sich uneingeschränkt selbst verwirklichen, weil sie die Möglichkeiten dazu haben und es auch tun. Manche gehen dabei buchstäblich über Leichen.

Um mich selbst zu verwirklichen muss ich erst einmal das Selbst finden. Ich muss zuerst wissen: Was oder wen möchte ich verwirklichen? Ist es tatsächlich mein Selbst, das ich verwirkliche, oder will ich bloß mein Ego ausleben? Das Selbst zu verwirklichen ist viel schwieriger. Mit den üblichen Mitteln, die uns heutzutage meistens zur Verfügung stehen, funktioniert das oft nicht. Damit kannst du das Ich sehr leicht verwirklichen. Das Selbst jedoch – also das, was du eigentlich tief im Inneren bist, dieses Sein, das du in dir trägst und das in dir lebt –, das braucht im Grunde nur wenig zur Verwirklichung. Eben deswegen, weil es so wenig braucht, ist es so schwer zu finden. Was wenig braucht, muss nämlich nur selten seine Deckung verlassen.

Ich erinnere mich daran, schon als Kind und in der Schule etwas anders als die meisten meiner Kollegen funktioniert zu haben. Ich hatte aber das Glück, bald Menschen kennengelernt zu haben, die ebenfalls anders waren. Ihnen war ihr Anderssein völlig egal und ich durfte dadurch sehr viel von ihnen lernen. Mein Mentor, der Schauspieler Herwig Seeböck, war einer von ihnen und ein immens wichtiger Begleiter. Ich kann es mir heute glücklicherweise leisten, anders zu sein. Ich kann es mir leisten, Kugeln im Bart zu tragen, was manche Menschen aufgrund ihrer Lebens- und Arbeitsumstände nicht können. Sehr viel, was in letzter Zeit, seit ich meinen Selbstversuch „Gültige Stimme“ mache, über mich gesprochen wird, dreht sich um diese Kugeln in meinem Bart. So etwas scheint für die Leute bedeutend zu sein: „Der hat ja Kugeln im Bart! Das schaut doch blöd aus!“ Oder: „Kugeln, oh! Wer macht denn so etwas?“. Weshalb sind uns solche Äußerlichkeiten so wichtig?


„Meine Bartkugeln scheinen die Menschen am meisten zu irritieren und oft sogar zu stören. Weshalb legen wir solchen Wert auf Äußerlichkeiten?“

Ich glaube, das äußere Erscheinungsbild von Menschen ist uns so wichtig, weil wir einfach gelernt haben, für die anderen zu leben. Wir opfern unser Lebensglück den anderen, selbst denen, die wir gar nicht so schätzen. Wir spielen uns einander ständig etwas vor, möchten anerkannt, akzeptiert, lieb gehabt werden. Deswegen wollen wir nicht unangenehm auffallen. Dass aber, würden wir eines Tages einmal alle auffallen, kein einziger Mensch mehr auffällig wäre, übersehen wir dabei. Dass wir nach Anerkennung suchen, könnte man auch positiv bewerten. Ich persönlich sehe es aber als negativ. Brauche ich wirklich die Bestätigung durch jemand anderen, um zu wissen, wer oder was ich eigentlich bin?

Mit meinem Anderssein bin ich ohnehin ständig konfrontiert.

Mit meinem Beruf ist man schon einmal anders. Man steht unter Beobachtung, fällt auf, wenn man die Straße entlanggeht. Dabei geht es mir gar nicht darum, anders zu sein. Ich bin ebenso ein Kasperl wie alle anderen Menschen auch und versuche lediglich, andere Wege zu gehen. Das Problem ist, dass man gar nicht erst anders sein muss, um Irritation auszulösen. Es reicht, wenn man bestimmte Dinge anders tut.

Clemens G. Arvay: In der Onlineausgabe der Tageszeitung „Die Presse“ erschien am 12.05.2013 ein Interview mit dir. Unter der Schlagzeile „Aussteiger Roland Düringer sucht das gute Leben“ erzähltest du über deinen schrittweisen „Ausstieg aus den Systemen“. Davon angeregt verfasste eine Leserin einen Kommentar, wo sie über dich schrieb: „Der Mann hat es scheinbar nicht geschafft, erwachsen zu werden. Gut, er ist offensichtlich in der zweiten Pubertät […].“

Die Dinge anders zu machen zieht immer wieder Ablehnung, fast möchte ich sagen: Gehässigkeiten, an. Was sagst du zu dem Kommentar?

Roland Düringer: Diese Frau hat aus ihrer Sicht recht. Sie sieht die Dinge so und konnte gar nicht anders reagieren als mit diesem Kommentar. Ihr Gehirn funktioniert so und aus ihrer Perspektive ist das vollkommen richtig. Und stelle dir vor: Die meisten Menschen haben in ihrem Leben nur eine Pubertät. Ich habe – laut dieser Dame – eine zweite. Vielleicht kommt auch noch eine dritte auf mich zu, das ist doch herrlich, nicht wahr? Es bedeutet, dass man sich verändert, man verwandelt sich. Ich könnte jetzt aus diesem Kommentar den Schluss ziehen, dass die Dame sehr unter ihrer Pubertät litt, dass dies vielleicht keine schöne Zeit für sie war. Meine Pubertät war eigentlich lustig, da hat sich viel abgespielt, das war „leiwand“, wie man in Wien sagt, also es war so richtig lässig. Wir Jugendlichen machten viele Erfahrungen, probierten Dinge aus. Die Pubertät war für mich eine richtig spannende Zeit. Ich könnte aus dem Kommentar aber auch schließen, dass diese Dame eine wunderschöne Pubertät hatte und die Sehnsucht nach einer zweiten verspürt. Vielleicht ist sie neidisch darauf, dass da jemand eine zweite Pubertät erlebt und sie nur eine hatte. Aber noch einmal: Sie konnte nicht anders, als diesen Kommentar zu verfassen. Offenbar war es ihr wichtig.

Wir machen Beobachtungen, die mit unserem eigenen Weltbild, also mit unserer Art zu leben, nicht wirklich kompatibel sind, und dann ist es oft der einfachere Weg, die Menschen, die es anders machen als man selbst, zu verurteilen oder zu bewerten. Auch ich kenne das und erwische mich immer wieder beim Verurteilen, wenn jemand nicht so ist, wie ich es für richtig halte. Leider viel zu oft. Überall geschieht es, dass Menschen einander verurteilen. Veganer bezeichnen zum Beispiel diejenigen, die Fleisch essen, oft als „Fleischfresser“ oder „Leichenfresser“. Menschen, die nicht vegan leben, werden also abgewertet. Es ist etwa so, als würde ein Mensch von sich behaupten, er sei ein ganz besonders spiritueller Mensch und deswegen fährt er mit dem Fahrrad – weil er so spirituell ist. Dann sieht er vielleicht jemanden auf der Straße in einem Auto sitzen – in einem Sportwagen zum Beispiel – und denkt: „Schau, der ist nicht so spirituell wie ich, denn er trägt keine Sandalen, so wie ich, und der fährt auch nicht mit dem Fahrrad und hat auch nicht so ein indisches Tuch umgehängt, wie ich es habe. Dieser Mensch ist überhaupt nicht spirituell.“ Das ist dann eine Vorverurteilung. Vielleicht ist der, der im Sportwagen sitzt, tausendmal spiritueller als ein anderer, der sich für besonders spirituell hält, nur, weil er sich entsprechend verkleidet.

Man muss sehr darauf achten, Menschen nicht zu verurteilen. Wenn mir das passiert, sage ich zu mir selbst: „Hey, hey! Halt! Der kann nicht anders, so dumm es mir auch erscheint, was er da tut, aber in seiner jetzigen Situation geht es für ihn einfach nicht anders.“ Ich zügle mich dann, um ihn nicht zu verurteilen, sondern ihn vielleicht sogar zu unterstützen und ihm Alternativen aufzuzeigen. Ob er diese annimmt oder nicht, ist letztendlich seine eigene Entscheidung. Ich kann lediglich über alternative Wege berichten und sagen: „Schau, mir geht es super damit.“

Clemens G. Arvay: Und doch scheint – das kann man zumindest aus dem Kommentar der Leserin herausfiltern – das „Erwachsensein“ irgendetwas mit „sich angepasst haben“ zu tun zu haben. Als erwachsen gilt in unserer Gesellschaft offenbar nur, wer sich möglichst restlos angepasst und vielleicht sogar einen Teil von sich dadurch abgedreht, abgestellt hat.

Roland Düringer: Ja, dieser Teil wird ihm abgestellt. Kein Kind kommt auf die Welt und sagt: „So, jetzt stelle ich viel von dem, was mir gut tut, ab und möchte mich anpassen.“ Das muss man einem Kind erst mühevoll beibringen und dafür haben wir ein eigenes System, wir nennen es das „Bildungssystem“. Es ist aber in Wirklichkeit ein Ausbildungssystem. Dort beginnt eigentlich schon das Abrichten von Systemidioten. Der Schrei nach mehr für unsere Bildung, zumeist nach mehr Geld, wird am Grundproblem nicht viel ändern. Wir sollten vielmehr die Lehrer dazu anhalten, nicht Fächer und Gegenstände, sondern endlich die Menschen zu unterrichten.

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