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SALZIGSÜSS
„Bleibt bei uns in Hunza“, raten sie zum Abschied und wir fragen uns, warum?
Wir alle erinnern uns, wo wir waren, als wir davon erfuhren. Bei welcher Arbeit wir innehielten, welches Gespräch verstummte. „Seit 9/11 kommen deutlich weniger Touristen zu uns nach Pakistan“, seufzt unser Gastgeber Imran und schenkt dampfenden Chai ein – starker Schwarztee mit Milch und viel Zucker. Er reicht einen Kristall aus Salz und ermuntert uns, ihn darin einzutunken. Das salzigsüße Getränk kommt uns vor wie das Land selbst: wie ein einziger Widerspruch.
Eigentlich hatten wir nicht vor, ein Rad über die Grenze Pakistans zu setzen. Hier fassten die Amerikaner Osama bin Laden, wie ein Kriegsreport lesen sich die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes. Sie berichten von Bombenexplosionen und Terroranschlägen, von entführten Radreisenden, erschossenen Bergsteigern und Ehrenmorden. In der Islamischen Republik richten Militär und Scharia-Gerichte und verhängen Todesurteile gegen Minderjährige. Doch durch diesen Moloch aus Gewalt und Extremismus führt eine der höchsten, faszinierendsten Fernstraßen der Welt: der Karakorum Highway. Beginnend im chinesischen Kaschgar, quert der Highway das schroffe Karakorum-Gebirge, streift den Fuß des Nanga Parbat und endet in der Hauptstadt Islamabad. Zuvor ein einspuriges Schotter-Abenteuer, baute China die Fernstraße zu einer modernen Schnellstraße aus und führt sie weiter gen Süden, um sich einen lukrativen Zugang zum Indischen Ozean zu verschaffen. Noch ist das 400-Millionen-Dollar-Projekt nicht fertig – ein Glück für uns, nur wenige Trucks stottern an uns vorbei. Flüsterasphalt, geringe Steigungen, kaum Verkehr: ein Radlertraum!
HINTERGRUND ISLAM
aus: „KulturSchock Islam“ von Susanne Thiel
Die Scharia („was vorgeschrieben ist“) ist das islamische Religionsgesetz und basiert auf den in Koran und Sunna festgelegten Vorschriften. Ihr Schwerpunkt liegt auf den Bereichen des Alltags- und Familienlebens, der Religionsausübung und den Traditionen.
Das Strafmaß der Scharia richtet sich zum größten Teil nach den in Koran und Sunna beschriebenen Bestrafungen – es ist gottgegeben und verbindlich. Bei Ehebruch z. B. droht Verheirateten die Steinigung. Einem Dieb ist die rechte Hand abzuschlagen und auf den, der vom Glauben abfällt, wartet ebenfalls die Todesstrafe durch Steinigung.
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Die Spaltung des Islam in die sunnitische und die schiitische Glaubensrichtung geht fast bis zu den Ursprüngen der Religion zurück und ergab sich aus dem Streit um die Führerschaft der religiösen Gemeinschaft nach dem Tod des Propheten Muhammad.
Der sunnitische Islam, und besonders seine wahabitischen und salafistischen Strömungen, betrachten Schiiten als Abweichler vom rechten Glauben.
Eine Minderheit unter den Schiiten sind die Ismailiten, deren eine Untergruppe (Nizari-Ismailiten) als Anhänger des Aga Khan bekannt geworden sind.
Als wir das erste Städtchen erreichen, erwarten uns ausnahmslos Männer in traditioneller Kleidung, weiten Pluderhosen, mit brustlangen Bärten und dunkel geschminkten Augen. Vor unserem Hotelzimmer patrouilliert ein Polizist mit Kalaschnikow. Ein finsterer Pakistani kommt auf mich zu und schenkt mir plötzlich ein Lachen. „Es ist so toll, dass ihr hier seid. Lasst uns Tee trinken!“ Er umarmt mich aus Freude über unseren Besuch und fragt auch Claudia: „Darf ich dich mal drücken?“
EINLADUNG ZU TEE UND CHAPATI, DEM TRADITIONELLEN FLADENBROT
Hunza, Pakistan
Am nächsten Tag kommt uns Imran auf seinem Sportrad entgegen und drängt uns in sein Bergdorf, wir sollten hier unbedingt pausieren. Weiter unten würden die Schiiten eine Prozession abhalten, die Straßen seien gesperrt. Einen Tag verbringen wir bei ihm und seiner Familie und ich werde völlig überraschend in mein Leipziger Studentenleben zurückgebeamt. Wir treffen uns mit Freunden, allesamt Philosophie-Studenten, auf dem Tisch stapeln sich Kant, Rousseau, Foucault. In fließendem Englisch lästern sie über das Militär und reagieren wie jeder (männliche) Nicht-Ossi, dem wir vom Nacktbaden am Cospudener See erzählen: „Da müssen wir hin!“ Das Dorf ist blitzblank geputzt, die Frauen tragen ihr Kopftuch lässig oder gar nicht. Wir sind bei den Ismailiten im nördlichen Hunza-Tal. Eine muslimische Gruppe, deren Führer Aga Khan vor allem in Schulen und Universitäten investiert und mit Stiftungsgeldern und Beratung Hilfe zur Selbsthilfe bietet. „Bleibt bei uns in Hunza“, raten sie zum Abschied und wir fragen uns, warum?
Nur einige Dörfchen weiter verändert sich die Atmosphäre, wir erreichen konservativ-schiitische und sunnitische Gebiete. Die Menschen sind weiter freundlich, ohne Frage, wir erhalten Hilfe, wann immer notwendig. Doch deutlich weniger winken uns zu, sie starren statt zu grüßen und uns anzusprechen. Es fällt uns schwer, höflich zu bleiben bei all den staubigen Männern, die Milchtee trinken, Haschisch rauchen und lethargisch die Straßen säumen, umgeben von Müll. Ganze Dörfer erinnern an verwahrloste Männer-WGs. „Wo sind all eure Frauen? Ich fühle mich einsam“, frage ich in einem Straßenrestaurant, auf dessen Dach Hörner und Schädeldecken von Ziegen verwesen. Einer spricht von separaten Straßen für Frauen, als sei es das Normalste der Welt. Sein Kollege lacht: „Wir machen Business, die Frauen sind zu Hause.“ Geschäftstüchtigkeit ist ein dehnbarer Begriff. Nur einer gesteht: „Nicht wir, sondern sie erledigen die Drecksarbeit.“ Die wenigen Muslima, die wir von Nahem sehen, haben Hände wie Steinbrucharbeiter. Von Kopf bis Fuß verschleiert, ackern sie auf den Feldern und ersetzen mit ihren Rücken Esel und Pferde, um die Erträge fortzuschaffen. Nur die Hälfte von ihnen kann lesen und schreiben, bei den Männern sind es mehr als zwei Drittel. Es gibt noch Stammesgebiete, in denen Mädchen ihre Vergewaltiger heiraten müssen, um den Frieden zwischen den Clans zu wahren. Anderswo kontrolliert die Schwiegermutter nach der Hochzeitsnacht das Bettlaken, will sichergehen, dass die Braut unbefleckt war. Ein Hauptstädter zeigt sich unglücklich mit seiner jungen Frau, krank sei sie geworden nach der Geburt des vierten Kindes. Nun werde er sich eine zweite Gattin suchen, die den Haushalt führt. Erstmals verhüllen junge Mädchen ihr Gesicht, sobald sie uns entdecken. Frauen schnappen ihre Kinder und rennen fort. „Schüchtern“ seien die Damen, grinsen die Männer. Von einer Lehrerin erfahren wir: „Mein Mann erlaubt es nicht, dass ihr mich fotografiert. Eigentlich dürft ihr mich gar nicht sehen. Es geht um meine Ehre.“ Mich dagegen knipsen die Ehemänner oft ungefragt mit dem Handy. Und dann der Gegensatz, der Widerspruch. Ein Geländewagen hält an einer Garküche, Zahnärztinnen aus Islamabad begeben sich zu Tisch – wunderschön geschminkt, ohne und mit Kopftuch, streng oder lässig umgebunden. Außer dem Chauffeur ist kein Mann an ihrer Seite, auch kein Ehemann, der sie bewacht. Energisch winkt eine der Frauen ab: „Heiraten? Kommt gar nicht in Frage!“
ZAHNÄRZTINNEN AUS ISLAMABAD, PAKISTAN
„Heiraten? Bloß nicht!“
ASTORETAL, PAKISTAN
Die Holzernte wird eingefahren
In Skardu begegnen wir einem Kämpfer, einem, der es besser machen will. Professor Karim attackiert sein Land: die Bildung sei unterirdisch, Schulen würden nur auf dem Papier gebaut. Die Armen besuchten, wenn überhaupt, nur Madrassas, Religionsschulen, die neben dem Unterricht auch kostenfreies Mittagessen ausgäben. Häufig stelle die Regierung nur Plätze für Jungen und „manche Lehrer müssen zwei bis drei Stunden laufen, ehe sie ihre Schule erreichen. Im Winter fällt der Unterricht oft aus.“ Karim leitet die Lehrer der Zukunft an. Er bittet uns darum, seinen Studenten von unseren Schulen in Deutschland zu erzählen, mehr Frauen als Männer sitzen im Hörsaal.
Im Anschluss folgt die Stadtführung eines Verzweifelten: Professor Karim flucht über die notdürftig geflickten Schlaglochpisten, wettert über die schmalen, sandigen Spuren, die ihn bei Gegenverkehr in den Graben zwingen. „Look at this dust! They even cannot build a road!“, bellt er und verflucht die dichten Wolken aus Staub, die durch die Gassen und Märkte ziehen. Karim trägt Anzug und Professorenbrille, studierte an der Oxford University und forschte in den USA. Er selbst wuchs unter Ismailiten auf, der Vater schuftete für die Ausbildung des Sohnes. In Skardu, wo Männer im Dreck hocken und Frauen unsichtbar sind, wirkt er deplatziert mit seinem Verstand. Bleiben will Karim trotzdem: „Ich will den Studenten helfen, die wie ich aus armen Familien stammen.“ Dennoch lässt er uns mit mehr Fragen als Antworten zurück. Nach einem Tee in seinem Haus greift er zum Handy und ruft seine Frau an, die augenblicklich aus dem Nebenzimmer eilt – und abräumt.
DIE HOACH FAMILY
Harry Potter hat keines der Kinder gelesen, weil die Bibel Zauberei und Magie als satanisch verdammt, Hexen und Geister gelten als Diener des Teufels.
Oregon beschert uns den größten Werbegag der Reise, und den gefährlichsten. Der Highway 101 entlang der Küste, eine der „Traumstraßen dieser Erde“, entpuppt sich als highway to hell. Überladene Holztransporter, unsichere Wohnwagenfahrer und genervte Berufspendler drängen uns an den Abgrund. Die Straße ist den Veteranen gewidmet und auch wir fühlen uns wie im Krieg. Ein besonders gehetzter Fahrer bespritzt Daniel mit Wasser, damit er von der Fahrbahn springt. Noch nicht bereit zu sterben, fliehen wir ins Inland. Ich giere nach Feierabend, doch inmitten eingezäunter Enge bleibt nur die Suche nach einem Vorgarten für unser Zelt. Wir klopfen an – und Miriam öffnet die Tür. Hinter sich eine große Kinderschar, ihre Töchter tragen gehäkelte Kopfbedeckungen und Jeansröcke. Ich habe nur noch Fluchtgedanken, ahne schon den Abend dahinkriechen in Sermonen und missionarischen Umpolungsversuchen. Doch Daniel nimmt die Einladung zum Frühstück an, die Suche nach dem besten Flecken Rasen beginnt. Aus der Nummer komme ich nicht mehr raus.
Am nächsten Morgen tischt Miriam Pfannkuchen und Früchte auf, Eier und Speck. Ihr Mutterherz beschlagnahmt uns sofort. Sie selbst war Nummer sechs von zehn Geschwistern. Während sie zu Hause wirbelt, transportiert Ehemann Rick Benzin – von 1 Uhr nachts bis 22 Uhr. Als sie sich kennenlernen, verkündet ihr Rick: „Wir werden heiraten.“ Nur gehörte er einer anderen christlichen Gemeinschaft an, die Hochzeit mit ihm ist eine Sünde für Miriams Eltern. Sie konvertierte trotzdem – noch heute verweigern Mutter und Vater gemeinsame Mahlzeiten. Miriam und Rick nahmen Kredite auf, kauften ein Haus und ziehen inzwischen fünf Kinder groß.
SHERIDAN, OREGON
Wir installieren gemeinsam WhatsApp auf Miriams Smartphone
Die Familie ist Mitglied einer kirchlichen Krankenversicherung, einmal im Monat überweisen sie Geld, allerdings direkt an die Betroffenen in ihrem Verbund. So wissen sie, wen ihr Beitrag heilt, wem sie das Leben erträglicher machen. Die Kinder werden alle zu Hause unterrichtet. „Meine Mum hätte uns auch auf eine normale Schule geschickt, aber auf der im Ort sind die Mädchen mit 15 schwanger“, lacht Victoria. Miriam kennt Gleichgesinnte – die Eltern teilen sich das Unterrichten ein, übernehmen je ein Fach und eine Altersstufe. Das Gesetz Oregons verlangt, dass zu Hause geschulte Kinder alle paar Jahre staatliche Tests in den Hauptfächern bestehen, dennoch bleibt viel Freiraum. Im Bio-Unterricht der Familie wird Darwin angezweifelt, denn „God created everything.“ Harry Potter hat keines der Kinder gelesen, weil die Bibel Zauberei und Magie als satanisch verdammt, Hexen und Geister gelten als Diener des Teufels. Nur die Eltern besitzen ein Smartphone, Nachrichten schaut die Familie kaum. Victoria und ihre Geschwister sind die charmantesten, ausgeglichensten, fröhlichsten und neugierigsten Kinder, die wir seit Langem treffen. Sie backen Kuchen für Nachbarn, singen im Altenheim und helfen uns Fremden.
Wir erzählen von unserem Plan, es per Anhalter zum Crater Lake zu versuchen, denn das Visum limitiert unsere Zeit und erlaubt keine Abstecher auf dem Rad. Plötzlich bricht ein Tornado aus. Alle wirbeln um uns herum, schmieren Sandwiches, schneiden Melonen und beladen den Wagen. Zwanzig Minuten später sitzen wir in der Familienkutsche. Ein spontaner Roadtrip, 350 km, nur für uns.
SPONTANER ROADTRIP ZUM CRATER LAKE, OREGON
„LA INCANSABLE“
Onkel Leo stürmt ins Haus, wedelt und tanzt mit Geldscheinen in der Hand. Heute feiern wir seinen Lottogewinn.
Ich fühle mich seekrank und bin gar nicht auf dem Wasser. Nachbeben lassen mich schwanken. Doch keine seismische Kraft treibt mich aus dem Bett, sondern die Übelkeit nach dem stärksten Cocktail, den Familienfeiern in Chile zu bieten haben: terremoto – Erdbeben. Ein Gesöff aus Weißwein, Grenadine-Sirup und Ananaseis. Ein paar Tage tanken wir Heimat bei Paulina im chilenischen Los Ángeles. Heimat, weil Daniels Eltern Paulina vor zehn Jahren als Austauschschülerin aufnahmen, was uns letztlich eine zweite Familie auf einem anderen Kontinent schenkte. Nichts hat sich verändert seit unserem letzten Besuch: Fiestas bis zum Morgengrauen, Frühstück vielleicht um zwölf, vielleicht auch nicht, ungewiss sind auch die anderen Mahlzeiten. Gesetzt aber: die terremoto-Party mit Dutzenden Verwandten. Onkel Leo stürmt ins Haus, wedelt und tanzt mit Geldscheinen in der Hand. Heute feiern wir seinen Lottogewinn. Nach vier Tagen ist unser Biorhythmus völlig durcheinander, Schlaf- und Wachphasen sind auf den Kopf gestellt. Selbstverständlich werden wir noch schnell zu Weihnachten und einer Hochzeit eingeladen, „¡Mi casa es tu casa!“.
Die Familie ist weder arm noch reich. Doch wurden unter Diktator Pinochet, angeleitet durch die USA, Wasser und Strom, Wälder und Erze privatisiert, ebenso das Bildungs- und Gesundheitswesen. Deswegen musste Paulina für ihr Studium einen Kredit aufnehmen, ihre Schwester Geld zurücklegen für eine Kieferoperation. „Wir sind eine Kolonie der Vereinigten Staaten“, spotten sie. Vater Roberto wuchs im Militärregime auf. „Wir hatten damals nichts zu befürchten, aber ich habe gesehen, wie die Soldaten Männer erschossen.“ Auch gäbe es einen Onkel, der im Gefängnis büßte. Was er verbrochen habe? „No sabemos“, „Das wissen wir nicht.“
HINTERGRUND CHILE
aus: „KulturSchock Chile“ von Cindy Schönfeld
Zunächst als kurzfristige militärische Übernahme gedacht, regierte General Augusto Pinochet Ugarte fast 17 Jahre lang diktatorisch und erschuf eine der längsten und gewaltsamsten Militärdiktaturen Lateinamerikas. Politische Organisationen, Arbeiterbewegungen und Gewerkschaften wurden verboten, Bürgermeister und Rektoren durch Militärs ersetzt und die Medien einer scharfen Zensur unterworfen. Mit dem Vorsatz, Chile „vor dem Kommunismus zu retten“, begann eine unerbittliche Verfolgung von Regimegegnern. Abertausende Chilenen kostete der Putsch das Leben, es kam zu Massenverhaftungen und Folterungen von Oppositionellen in eilends errichteten Konzentrationslagern.
Während der 17-jährigen Diktatur wurden mehr als 2000 Chilenen hingerichtet, 28.000 Oppositionelle weggesperrt und gefoltert, ihnen die Fingernägel ausgerissen, Tierkot in den Mund gestopft, Rebellen mit Elektroschocks gequält. 1000 Frauen und Männer verschwanden spurlos.
„Zurecht“, sagt Umberto, ein Grundbesitzer, der uns seine Gartenlaube für eine Nacht überlässt. „Eines Tages haben Pinochets Männer meinen Neffen geholt, er ist bis heute verschollen. Aber das war auch gut so! Er und seine linken Kameraden haben Bomben gebastelt, sie hätten uns mit ihrem Sozialismus ins Unglück gestürzt!“ Nein, nach seinem Neffen suche er sicher nicht.
In Santiago, der Hauptstadt, treffen wir Constanza. La Incansable wird sie in einem Artikel genannt. Constanza, die Unermüdliche. Die 45-Jährige sucht Eltern, Töchter und Söhne. Während des Militärregimes wurden die Kinder der Oppositionellen verkauft. Ein Markt entstand: Ärzte, Hebammen, Sozialarbeiter, Richter und Politiker verdienten am Menschenhandel. Sie verkauften später auch die Neugeborenen der Armen. „Die Eltern wurden belogen, ihnen gesagt, ihre Kinder seien kurz nach der Geburt gestorben.“ Denn „Babys are precious.“ Babys, eine wertvolle Ware. Nachdem Constanza erfuhr, dass sie selbst betroffen war, gründete sie die Organisation Nos Buscamos („Wir suchen uns“). Zu viert fahnden sie nach Geburtsurkunden und Akten mit den Namen der tatsächlichen Mütter und Väter und arbeiten mit einem DNA-Labor zusammen, um Gewissheit über die wahren Angehörigen zu erlangen. Überall hin wurden die Kinder geliefert, in die USA, nach Schweden, Deutschland. Bisher haben sich mehr als 3500 Suchende bei Nos Buscamos registriert. Constanza fand ihre leiblichen Eltern. Die Mutter hatte sie zur Adoption freigegeben, Constanza wurde später verkauft. Das erste Treffen nach 40 Jahren war zugleich das letzte: „Du hast mein Leben zweimal zerstört“, sagte die Fremde. „Einmal, als ich dich zur Adoption freigab. Zum zweiten Mal, als du mich kontaktiertest.“
Anders als die Mutter sehnte sich der Vater nach seiner Tochter. Er hatte sich selbst eingetragen in die Datenbank von Nos Buscamos. „Seine zweite Frau und Kinder wussten, dass es mich irgendwo gibt, mein Platz blieb immer unbesetzt.“ 32 Familien führte sie bereits zusammen, zuletzt verhalf sie einem Kalifornier zu seinen chilenischen Wurzeln. Ich versuche mich in die Lage seiner Mutter zu versetzen, der Constanza telefonisch beibrachte: „Ihr Junge lebt und sucht nach Ihnen.“ Ein Stoff fast zu übertrieben für einen Roman. „Immer, wirklich immer, wenn ich auf Partys über Nos Buscamos spreche, ziehen mich Gäste zur Seite, die auf der Suche nach ihren Eltern oder Kindern sind oder einen Suchenden kennen.“
HORNOPIRÉN, CHILE
Luiza lädt uns spontan ein und würgt ihren Sohn am Telefon ab: „Ich kann jetzt nicht, ich habe wichtige Gäste – es sind Deutsche!“
HANGRY
Mit rotem Kopf schauen wir uns an, dann um und erschrecken – den Sarg mit dem Foto direkt hinter dem Buffet hatten wir völlig übersehen.
Pünktlich um 12 Uhr knurrt der Magen. Garküchen gibt es in Thailand an jeder Straßenecke, aber diese ist besonders einladend. Weiße Tischdecken, Blumenbouquets, dralle Köchinnen schmecken das Curry ab und winken uns zu. Keine Frage, hier wollen wir hin! Hangry, gereizt vor lauter Hunger, ordern wir allerlei Gegartes. Dazu Bananen, Cola, zwischendurch die Frage nach dem Preis. „No money, free“, lächelt der Kellner. Umsonst? Nein, bei der Menge wollen wir zahlen. Als Radreisende sind wir im permanenten Kalorienrausch, verschlingen dreifache Portionsgrößen. Doch seine Antwort lässt uns schlucken: „Das ist kein Restaurant, sondern die Beerdigung meiner Oma. Und ihr seid herzlich eingeladen!“ Mit rotem Kopf schauen wir uns an, dann um und erschrecken – den Sarg mit Foto direkt hinter dem Buffet hatten wir völlig übersehen. Eine Einladung zum Leichenschmaus, beschämt nehmen wir an. Mehrere Tage dauert eine buddhistische Beerdigung, das Umland kommt vorbei und die Angehörigen kredenzen Essen und verschenken sogar Geld. So soll es der Verstorbene, beseelt von einem möglichst guten Karma, im nächsten Leben besser haben. Mit vollen Mägen verabschieden wir uns. „Danke, dass ihr den Weg zu uns gefunden habt“, umarmt mich die Tochter der Verstorbenen. Und wir sind gewiss: Ihre Mutter wird als Königin wiedergeboren!
Anders als sie müssen wir um unser Karma bangen, denn bald darauf schlittern wir in die nächste Blamage. Dieses Mal bei Warmshowers-Engeln, die es auch in Thailand gibt. Wir kehren ein bei Nu und Phu, einem Rentnerehepaar. Ihr Sohn hatte sie in der Radreise-Gemeinschaft angemeldet, schließlich sollen sie „fit bleiben“! Gut gelaunt tafeln sie auf: Curry, Reis, Hausmannskost auf Thai. Wir wollen die Gelegenheit nutzen, über Politik plaudern – und stürzen in den nächsten Thai-Fettnapf. Nur oberflächlich hatten wir uns über das Land informiert und fangen an, das Ehepaar über den König auszufragen, der sich regelmäßig mit seinen Mätressen in Bayern herumtreibt. Das Lächeln gefriert ihnen im Gesicht. Erst erröten die Gastgeber, dann wir. Ab jetzt weicht alle Heiterkeit nur gespielter Höflichkeit, am nächsten Morgen verlassen wir beschämt früh das Haus. Tage später erfahren wir: Wer schlecht über den König spricht, landet im Knast. Jeder kann dabei jeden denunzieren.
HINTERGRUND THAILAND
aus: „KulturSchock Thailand“ von Rainer Krack
Kritik am König, seiner Familie oder der Monarchie im Allgemeinen wird öffentlich niemals geäußert. Selbst hinter geschlossenen Türen wird sich kaum ein Thai zu negativen Bemerkungen hinreißen lassen. Jede kritische Äußerung könnte als Majestätsbeleidigung aufgefasst werden, auf die Gefängnisstrafen bis zu 15 Jahren stehen.
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