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„Sabine Ulmer!”, sagten wir gleichzeitig.

„Die kann es aber nicht sein. Sie ist weiterhin hier in Alzey in der Landesnervenklinik. In der Forensischen Psychiatrie sind die Sicherungsmaßnahmen so streng, dass sie keinen Kontakt zur Außenwelt hat. Höchstens ihre Mutter kann sie kurz besuchen, sonst niemand. Ärzte, Pflegepersonal, ihr Anwalt, wir und ihre Mutter, das sind die einzigen Personen, mit denen sie Kontakt hat”, erklärte Heribert.

„Und woher sollte sie Hauprich kennen? Die Ulmer hatte ja noch nicht mal Abitur, als der nach La Palma ging!”

„Tja …”, sagte Heribert ratlos und verfiel ins Nachdenken.

„Hast du sie denn noch einmal vernommen?”, unterbrach ich seine Grübeleien.

„Nein, das macht jetzt Bert Heusinger, der zuständige Staatsanwalt. Letzte Woche haben wir kurz miteinander gesprochen. Da ging es auch um Sabine Ulmer. Er schilderte mir, dass sie sehr kooperativ ist und offensichtlich langsam erkennt, dass ihre vermeintliche Rache bitteres Unrecht war. Es sieht so aus, als würde sie ihre Taten bereuen. Vor allem macht ihr auch der Mord an Tilo Sommer zu schaffen.”

„Kann das nicht auch ihre Verteidigungsstrategie sein?”, fragte ich misstrauisch.

„Das glaube ich nicht. Heusinger ist erfahren genug, um sich von solchen dramaturgischen Tricks nicht hinters Licht führen zu lassen. Man hat ihr eine feste Betreuerin zugeteilt, eine Erika Sembach, die Heusinger in meiner Anwesenheit über Sabine Ulmer befragt hat. Sie ist Psychologin und hat einen sehr souveränen Eindruck auf michgemacht. Sie hat uns bestätigt, dass Sabine Ulmer sich mit Selbstmordgedanken trägt, weil sie an ihrer Schuld zu zerbrechen droht. Aber trotzdem, auch wenn ich mir absolut sicher bin, dass sie aus der Klinik heraus nichts an derartigen Dingen unternehmen kann, weder über Dritte, geschweige denn selbst, werde ich das noch einmal genau überprüfen lassen. Alleine schon aus Prinzip.”

„Es wäre auch zu schön gewesen, wenn die Ulmer die gesuchte Person gewesen wäre”, klagte ich. „Mir fällt sonst wirklich niemand ein, der mich dermaßen verabscheut. Aber”, kam mir plötzlich eine Idee, „vielleicht liegst du ja völlig falsch und es geht überhaupt nicht um mich. Vielleicht will man ja über eine Kampagne gegen mich den Hauptkommissar Koman fertig machen. Man schlägt den Esel, obwohl der Reiter gemeint ist, weißt du. Hast du denn einen Kollegen, dem du das zutrauen würdest?”

„Einen? Da fallen mir einige ein. Eigentlich jeder, der Probleme mit Gradlinigkeit, Offenheit und meiner oft unkonventionellen Vorgehensweise hat. Allen voran mein früherer Chef, Karsten Wehmut. Du weißt, dass ich im Fall Simonis nicht nur seine Ermittlungsschlamperein, sondern vor allem seine Mauscheleien aufgedeckt habe und er daraufhin in den Verwaltungsbereich versetzt worden ist.”

„Aber andererseits … wie sollte das denn einer machen, auch noch von La Palma aus, was für eine abwegige Idee”, gab ich irritiert zu bedenken.

„Wir sind beide nicht der Typ, der abwartet, bis ihm jemand das Messer in den Rücken stößt, wenn er erkennt, dass dieser jemand ausholt.”

Ich nickte, obwohl mich dieses – aus meiner Sicht überzogene – Beispiel immer noch nicht überzeugte. Anderer­seits hatte ich während der letzten Monate mehrmals die Erfahrung machen müssen, dass Fiktion und Realität eine geradezu gespenstige Symbiose eingehen können und aus vermeintlich abstrusen Gedankenspielen tödlicher Ernst werden kann.

Auch im Laufe meiner Berufsjahre hatte ich gelernt, dass selbst eine noch so ausschweifende Fantasie nicht dazu ausreicht, menschliche Abgründe auch nur annährend auszuloten. Es gibt, so meine Erfahrung, nichts, was es nicht gibt. Und dennoch – widerwillig schüttelte ich den Kopf.

Heribert entging meine Skepsis nicht und präsentierte mir daher einen Vorschlag zur Güte: „Was hältst du denn davon, wenn wir diese Sache zum Anlass nehmen, das zu tun, was wir ohnehin vorhatten. Du wolltest mir La Palma zeigen, wie es der normale Tourist nicht zu sehen bekommt. Und dabei nutzen wir meine Kontakte zu Inspector Muñoz und versuchen, den Ungereimtheiten vor Ort auf die Spur zu kommen. Außerdem würde ich Heribert gerne einmal wiedersehen.”

„Welche Ungereimtheiten?”, fragte ich.

„Vier Minuten und 33 Sekunden gegen 25 Sekunden.”

Ich gab mich geschlagen und überlegte bereits, wie ich Sonja eine halbwegs akzeptable Begründung liefern und mit ihrer zu erwartenden Ironie umgehen könnte.

Heribert unterbrach jedoch meinen Gedankengang. „Es bleiben halt zu viele Fragen offen, an deren Beantwortung dir doch auch gelegen sein muss. Woher sollte dich Conrad Hauprich gekannt haben? Weshalb könnte er dich angerufen haben? War sein Tod geplant oder das Ergebnis einer Eskalation? Tja, und dann die erwähnte Diskrepanz zwischen deinen Angaben über die Dauer des Telefongesprächs und die Aufzeichnungen im Telefonspeicher.”

„Vielleicht lässt sich das technisch manipulieren?” Irgendwie rebellierte ich immer noch.

„Durchaus möglich”, stimmte Heribert zu, „aber das würde doch erst recht auf eine geplante Aktion hindeuten. Und wenn wir dabei Heribert Muñoz noch bei der Suche nach dem Mörder von Conrad Hauprich unterstützen können …?”

„Also, auf nach La Palma”, sagte ich und versuchte meiner Stimme einen beherzten Ausdruck zu verleihen. „Wann kannst du?”

„Jederzeit. Mit Dieter Erb habe ich das schon geklärt. Er ist einverstanden damit, dass ich das erst einmal als Kompensation meiner Überstunden mache, damit der Anstrich des Privatvergnügens gegeben ist, falls es notwendig sein sollte. Du erinnerst dich noch an ihn?”

„Das ist ja wohl mehr eine rhetorische Frage.”

Der inzwischen zum Polizeidirektor avancierte, ehemalige BKA-Beamte war nicht nur der Vorgesetzte von Heribert, sondern auch freundschaftlich mit ihm verbunden. Seinen Dienstsitz hatte er in Worms. Er war maßgeblich daran beteiligt gewesen, dass mein letzter kriminalistischer Ausflug so glimpflich ausgegangen war. Ohne seine Entschlossenheit, sich über bürokratische Formalia hinwegzusetzen, wäre ich wahrscheinlich nicht mehr am Leben. „Um die Unterkunft brauchen wir uns keine Gedanken zu machen, das Haus ist zurzeit frei. Erst ab November hat es meine Agentur in Los Llanos wieder vermietet. Ich werde Paloma anrufen. Sie kümmert sich um die Reinigung und kann die Betten vorbereiten”, plante ich endgültig. „Wir müssen nur die Tickets buchen. Das ist ein bisschen problematisch so auf die Schnelle”, gab ich zu bedenken. „Und bitte nicht von Düsseldorf aus”, bat ich mit gespieltem Ernst.

„Was wäre falsch an Düsseldorf?”

„Du schaust wohl keine Nachrichten. Am Sonntag letzter Woche haben deine Kollegen wegen mehrerer Bombendrohungen Terminal und Zufahrtsstraßen geräumt. Da standen dann Tausende vor den Eingängen des Flughafens. Nichts ging mehr.”

„Gegen solche kranken Hirne sind wir halt nicht gefeit. Spinner gibt es immer und überall. Ich regle das mit den Tickets über Monika. Sie hat durch das Hotel immer Möglichkeiten, selbst in den unmöglichsten Situationen eine Lösung zu finden. Ich rufe dich an, sobald sie etwas erreicht hat, und werde dann auch Eribert informieren.”

Wir verabschiedeten uns, wobei ich ausdrücklich darum bat, Dagmar Keller zu grüßen, und ich machte mich wieder auf den Heimweg nach Bernheim.

Als nächstes musste ich Carlo Bescheid sagen, dass ich für unbestimmte Zeit in der Kanzlei ausfallen würde. Aber an diese Eskapaden waren er und die Mitarbeiter bereits gewöhnt. Unsere Arbeitsabläufe waren inzwischen bewusst darauf abgestimmt, dass ich immer einmal wieder für einige Tage ohne großartige Vorausplanung nicht zur Verfügung stand. Noch vor zwei Jahren wäre das für mich unvorstellbar gewesen. Ich hatte mich als unabkömmlich betrachtet, und diesem – fast schon an Arroganz grenzenden Trugschluss – meine Ehe geopfert. Ich war es ja nie anders gewohnt. Mein Vater, meine Kollegen und sogar meine Mitarbeiter lebten nicht nur in dem für unseren Berufsstand typischen Irrtum, ein Steuerberater müsse jeder Zeit und zu allererst für seine Mandanten da sein. Nein, sie suggerierten mir das auch beständig durch ihr Verhalten. Schließlich würden wir ja von unseren Klienten bezahlt, die dieses Verhalten für sich ungefiltert übernahmen.

Der Witz bei der Sache ist nur, dass man mich ja eigentlich wegen meiner Kenntnisse, meiner Fähigkeiten und meiner Verantwortung für das, was ich tue und sage, bezahlt. Ich werde nicht bezahlt für den – wenn auch unbedachten – hemmungs- und teilweise rücksichtslosen Zugriff auf meine Person. Das käme für mich einer besonderen Form der Prostitution gleich.

Nachdem ich dies einmal erkannt hatte, änderte ich konsequent einige beruflichen Selbstverständnisse. Ich nahm mir wieder den Spielraum an Selbstbestimmung zurück, den ich mir über viele Jahre hinweg Stück für Stück hatte beschneiden lassen. Und mit zunehmendem Interesse stellte ich fest, dass dabei weder die Mandanten noch die Mitarbeiter weniger betreut wurden, geschweige denn zu kurz gekommen wären. Zur Rettung meiner Ehe war es allerdings zu spät. Beatrice hatte sich bereits von mir scheiden lassen. Schon lange vorher hatte sie sich innerlich aus unserer Gemeinschaft verabschiedet. Unsere Beziehung lebte jedoch, verbunden durch unsere Söhne, in einer echten Freundschaft fort, die auch für Sonja kein Problem darstellte.

Sonja!, fiel es mir wieder siedendheiß ein, vor allem sie musste von meinem Ausflug nach La Palma und den Beweggründen dafür wissen. Das heißt, ich musste sie nicht nur beruhigen, ich würde sie auch von der Notwendigkeit überzeugen müssen. Da stand mir also ein gutes Stück Arbeit bevor. Zum Glück blieb mir dazu noch etwas Zeit, bis sie aus der Schule kam. Außerdem würde sie mir nicht Auge in Auge gegenübersitzen, ich konnte das im ersten Anlauf telefonisch regeln. Sie würde die nächsten Tage in ihrer Wohnung verbringen, da sie einige Klausuren zu korrigieren hatte. Bei einer unserer abendfüllenden Diskussionen, die die „Demarkation” beiderseitiger Erwar­tungshaltungen in unserer Beziehung zum Ziel hatten, vertrat sie einmal die absurde Ansicht, „sie könne nicht ungestört arbeiten”. Weil ich dann „dauernd wie ein liebesbedürftiger Kater um sie herumscharwenzeln” würde, wie sie meine Fürsorge um ihr Wohlergehen niederträchtigerweise missinterpretierte. Sie meinte, das würde sie ablenken und beunruhigen. Meine Reaktion darauf, es sei „für einen Mann beunruhigend, wenn er anfange, auf Frauen beruhigend zu wirken”, bezeichnete sie als zwar schlagfertige, in diesem Zusammenhang aber missglückte, spätpubertäre Fußnote. Dass dieser Ausspruch nicht auf meinem Mist gewachsen war, sondern Jean Gabin zugeschrieben wird, habe ich dann auch tunlichst verschwiegen.

Nachdem ich wieder in Bernheim angekommen war, verbrachte ich den Rest des Tages damit, in meiner Kartei erfolglos nach ehemaligen Hauprich-Mandanten zu fahnden, ein paar aufschiebbare Termine zu verlegen und mit Carlo die dann noch verbleibenden Angelegenheiten vorzubereiten, damit einer plötzlichen Abreise auch ja nichts im Weg stehen würde.

Was würde ich ohne „kleines, dickes Carlo” nur anfangen? Fast zärtlich nannte ich ihn so bei mir, in Erinnerung an den Spitznamen von Gerd Müller, dem er äußerlich ähnelte. Ich war glücklich einen derart loyalen und kompetenten Nachfolger für meine Kanzlei gefunden zu haben. Bereitwillig hatte er sich mit meinen Vorstellungen über meinen Zeiteinsatz im Büro arrangiert. Denn für ihn stellten sie keine unüberwindbaren Probleme dar.

Wie es seine Art war, saß er mir aufrecht und in gespannter Haltung gegenüber und hörte bedächtig zu. Auf Menschen, die nur vordergründig und oberflächlich mit den Ohren hören, statt alle ihre Sinne einzusetzen, mochteer wie ein phlegmatischer Schweiger wirken, nicht so auf mich. Wie oft in „Gesprächen” mit ihm, genügte bereits der Einsatz seiner Körpersprache und seines mimischen Instrumentariums, um unmissverständliche Signale zu senden.

So auch, als ich ihm den Grund meiner geplanten Abwesenheit erklärte. Wie sich die Bilder gleichen, dachte ich, als er mir bedeutete, ich müsse doch langsam einmal respektieren, dass ich nicht mehr der Jüngste sei. Derartige Eskapaden solle ich doch besser denen überlassen, die dafür ausgebildet und bezahlt würden. Doch trotz aller Skepsis wollte er wissen, ob und wie er mir helfen könne.

„Danke, Carlo”, wehrte ich ab, „es genügt vollauf, dass du hier deine Arbeit machst.”

Am späten Nachmittag rief ich Sonja an. Mehrmals hatte ich nach dem Hörer gegriffen, um ihn sofort wieder aufzulegen und spontan, man könnte auch sagen feige, erst noch eine weitere unaufschiebbar-wichtige Unwichtigkeit zu erledigen. Schließlich blieb mir aber nichts anderes mehr übrig, als endlich den Anruf zu wagen.

Zu meiner Überraschung hatte ich mir unnötige Gedanken über Sonjas Reaktion gemacht. Sie verstand unsere Motivation und bemühte sich, den Sachverhalt objektiv zu betrachten. Auch bot sie sofort an, während meiner Abwesenheit in Bernheim zu wohnen, um sich um die Hunde und Katzen kümmern zu können.

Allerdings hätte sie mich zutiefst desillusioniert, wenn sie nicht abschließend einen ihrer typischen Kommentare losgelassen hätte, die einen stets zu Interpretationen herausforderten. Als ich mich nämlich zum Ende des Gespräches für ihr unvermutetes Verständnis bedankte, antwortete sie: „Nichts zu danken, ich halte es da ganz einfach mit Nietzsche.”

Gehst du zum Weibe, vergiss die Peitsche nicht?”, lachte ich.

„Oink, oink, sagte das Machoschweinchen! Nein, ich dachte eher an:

Das Glück des Mannes heißt: Ich will.

Das Glück des Weibes heißt: Er will.

Und wenn es denn sein muss, dann ist es deine Entscheidung und ich trage sie mit. Naja, und ich kann‘s ja auch verstehen.” Ich hörte ein Lächeln in ihrer Stimme.

2. Kapitel Mittwoch, 24. September 2003

Heribert rief mich an und teilte mir mit, dass Monika zwei Hinflugtickets auf unsere Namen im Terminal 2 des Rhein-Main-Flughafens am Schalter der Spanair hatte hinterlegen lassen. Für den Rückflug müssten wir vor Ort selbst sorgen, da ein Termin noch nicht feststand. Über einige Umwege hatte sie bereits für den nächsten Tag Plätze für uns um 9 Uhr 15 nach Madrid reservieren lassen, Ankunft um 11 Uhr 40. Um 14 Uhr 30 würden wir nach Santa Cruz de La Palma weiterfliegen und um 16 Uhr 25 landen. Das waren über sieben Stunden, aber wenn man, so wie wir, ohne angemessene Planung kurzfristig auf eine der kleineren kanarischen Inseln wollte, musste man das in Kauf nehmen.

Heribert hatte uns auch bereits bei seinem spanischen Kollegen avisiert, der ihm im Laufe des Tages noch einige Informationen zum gegenwärtigen Stand der Ermittlungen zusenden wollte.

„Dieser Staatsanwalt, wie heißt er nur gleich, ach ja, dieser Feliciano Garcia scheint ein ziemlich scharfer Hund zu sein. Eribert sagte mir, dass er sich bestimmt über ein Gespräch mit dir freuen wird. Du sollst dich auf einige Fragen gefasst machen. Mehr hättest du aber nicht zu befürchten.”

„Müssen wir eigentlich mit ihm kooperieren?”, wollte ich wissen.

„Weshalb nicht? Du hast schließlich nichts zu verbergen. Wir wollen ja auch aus eigenem Interesse Licht in die Sache bringen. Deshalb fliegen wir doch da runter.”

„Hast du deinem Kollegen von unseren Vermutungen erzählt?”

„Ja”, bestätigte Heribert, „wir sollen das aber erst einmal für uns behalten und besser nicht erwähnen, meinte er. Señor Garcia könnte das als fantastische Mutmaßung abtun, schlimmstenfalls sogar als dummen Scherz und Angriff auf seinen Intellekt. Und dafür habe er nichts übrig, er muss laut Eribert ein knochentrockener Typ sein.”

„Und wie und wann treffen wir deinen spanischen Namensvetter?”, erkundigte ich mich.

„Er wird uns am Flughafen abholen und dann nach Los Llanos bringen. Das hatte ich doch richtig verstanden, dass da das Haus ist, das dir Horst Scheurer vererbt hat?”

„Korrekt!”

„Er wird seinem Chef aber noch nichts von unserer Ankunft erzählen, wir sollten das als Überraschungsbesuch veranstalten. Das besprechen wir dann auf der Fahrt nach Los Llanos. Wie lange fahren wir da eigentlich?” fragte Heribert.

„Auf jeden Fall lange genug, um unser Vorgehen während der nächsten Tage mit Eribert abzustimmen. Und wenn dabei die Zeit nicht ausreicht, können wir das im Haus noch besprechen. Ich nehme an, dass wir dort gegen halb sechs ankommen.”

Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen um sechs Uhr für die Fahrt nach Frankfurt.

Nachmittags erreichte ich Sonja und teilte ihr die letzten Neuigkeiten mit. Ich bat sie, zum Abschied doch heute schon nach Bernheim zu kommen, aber sie schlug mir die Bitte ab. Es war mir nur ein geringer Trost, dass sie das nicht weniger bedauerte als ich.

„Elternsprechabend”, sagte sie mit dem angewidertenTonfall eines Menschen, der sich genötigt sah, ein Schälchen Nacktschnecken zu verspeisen und dabei noch glücklich zu lächeln.

Ich hatte bereits mehrmals miterlebt, wenn sie von einer dieser grotesken Pflichtveranstaltungen nach Hause kam. Sie war desillusioniert und gestresst von der Begegnung mit einer gewissen Kategorie von Eltern. Diese speziellen Erziehungsberechtigen, deren Anzahl stetig zu wachsen schien, zeichneten sich dadurch aus, dass sie meinten, Sonja haarklein erklären zu müssen, wie sie ihren Erziehungsauftrag auszuführen habe, und ihr gleichzeitig die scheinbare Aussichtslosigkeit ihrer pädagogischen Bemühungen vor Augen führten. Sonja bezeichnete sie als „Erziehungsdilletanten, die eigentlich einen Elternführerschein benötigten”, da sie selbst nicht einmal in der Lage waren, ihrem Nachwuchs die fundamentalsten Regeln eines demokratischen Zusammenlebens zu vermitteln. Nach diesen Abenden brauchte sie ihre Ruhe, was ich verstehen konnte und daher – wenn auch nicht überglücklich – akzeptierte.

„Darius, pass bitte auf dich auf. Ich bin unendlich glücklich darüber, dass wir uns gefunden haben und ich möchte nie mehr auf dich verzichten. Ich brauche dich einfach. Also denk daran, bevor du dich in eine Situation begibst, die du nicht überblicken kannst.”

„Du machst dir unnötige Sorgen. Im Grunde genommen handelt es sich um eine Stippvisite von zwei noch nicht ganz erwachsenen …”,

„Genau das meine ich”, unterbrach sie mich. „Ich kenne dich zwar noch nicht so lange, aber gut genug um zu wissen, dass nicht nur Fettnäpfchen eine magische Anziehungskraft auf dich ausüben, sondern auch Gefahren jeder Art. Also, in diesem Sinne!”

Sie legte auf, ohne eine weitere Antwort von mir zuzulassen. Was hätte ich darauf auch erwidern sollen?

Ich packte meinen Koffer und dachte an die nächsten Tage. Was würde uns wohl erwarten? Es waren sehr gemischte Gefühle, die mich dabei beschlichen. Einerseits freute ich mich auf das Wiedersehen mit dieser wunderbaren Insel, die von den Palmeros liebevoll la isla bonita oder auch wegen ihrer Pflanzenvielfalt la isla verde, genannt wird. Mit ihr verbanden mich unendlich viele und schöne Erinnerungen. Andererseits war der Anlass der Reise befremdlich und ihr Ausgang ungewiss.

Da ich am nächsten Morgen dafür keine Zeit haben würde, warf ich mich am frühen Abend in meinen Laufdress und unternahm mit meinen Hunden eine ausgiebige Joggingtour. Ich hatte mich vor ein paar Monaten vom Lauffieber anstecken lassen und schaffte inzwischen 10 Kilometer, ohne eine Pause einlegen zu müssen. Den Hunden tat das gut und mir erst recht. Denn ich hatte festgestellt, dass ich durch das regelmäßige Laufen nicht nur körperlich, sondern auch geistig erheblich leistungsfähiger geworden war.

Unterwegs kam ich – wie oft auf dieser Tour – an einer Gruppe Bernheimer Winzer vorbei, die am Wegrand Reifegrad und Größe der Trauben begutachteten und fachsimpelten.

„Wie”, rief mir einer unter dem Gelächter der anderen einmal mehr hinterher, „Führerschein weg?”

„Ja”, gab ich ohne anzuhalten über die Schulter zurück, „zu schnell in die Radarkontrolle gelaufen.” Sie kannten den Spruch, so wie ich ihre Frage kannte. Es war eine Art Ritual zwischen uns. Es hätte wohl keinen Zweck gehabt, ihnen zu erklären, dass es für mich gesünder war, mirzwei- bis dreimal in der Woche den Stress wegzulaufen, als jeden Abend im Bernheimer Schafbock zu sitzen, sich so wie sie mehrere Rotwein-Cola-Schoppen einzuverleiben und dabei die Luft mit Zigarettenqualm zu vernebeln.

Sie hätten meine gesundheitlichen Bemühungen nicht verstanden. Genauso wenig, wie sie sich immer noch nicht daran gewöhnt hatten, dass auch Steuerberater, trotz ihres geheimnisumwobenen, da introvertierten Berufes, keine „Götter in grau” waren, sondern ganz normale Menschen. Obwohl ich nun schon so lange in Bernheim lebte, begegnete man mir teilweise immer noch mit der Ehrfurcht, die einem weißen Elefanten gebührte. Das hatte sich noch verstärkt, als in der Presse über meine kriminalistischen Seitensprünge berichtet wurde. Und als dann auch noch Beatrice mit ihren Rundfunksendungen Erfolg hatte, mutierte ich in ihrem Ansehen vom weißen Elefanten zum letzten Einhorn, obwohl wir damals schon längst geschieden waren. Aber immerhin trug sie ja meinen Namen.

Das ist übrigens typisch für diese rheinhessischen kleinen Dorfgemeinschaften. Man wird sehr freundlich aufgenommen, aber auch mit unverhohlenem Interesse beobachtet und befragt. Der Rheinhesse benötigt zur Integration eines Neulings in seine Dorfgemeinschaft Antworten auf Fragen, wie: Wer und was man ist, was man „schafft”, wie man spricht, wie man sich verhält – kehrt man zum Beispiel samstags den Bürgersteig und nimmt man an den Dorfereignissen teil?

Daraus und aus vielen weiteren Mosaiksteinchen ein Bild zusammenzusetzen und zu verbreiten, an das die weitere Wahrnehmung des „Neuen” und Erwartungen geknüpft sind, ist ein überaus wichtiges und daher ehrenvolles Amt. Traditionsgemäß übernehmen das die Dorfältesten beiderlei Geschlechts mit feurigem Eifer. Sie haben”an die nächste Generation übergeben”, also Zeit. Auch wenn sie in der Regel geistig und körperlich noch topfit sind, wollen – oder dürfen – sie den Jüngeren nicht mehr ins Geschäft hineinreden. Wohin also mit ihrer kollektiven Lebenserfahrung, wenn sie nicht auf diese Art zum Wohle der Gemeinde eingesetzt würde?

Schließlich ist es für die Ruhe und Eintracht in einem Dorf unerlässlich, dass man weiß, mit wem man es zu tun hat. Gelingt es den „Wertewächtern” nicht bereits in den ersten Tagen, ein passendes Kästchen für den Neuling zu finden, wird daher flugs ein eigenes zusammengezimmert, so dass alles wieder seine Ordnung hat.

Treffpunkt des Immigrationskomitees ist, je nach Jahreszeit und Witterung entweder der mittwochabendliche Altenstammtisch im Bernheimer Schafbock oder es Liejebänksche am Dorfbrunnen. Dabei handelt es sich keinesfalls, wie es das Wort vermuten lässt, um eine dörfliche Gemeinschaftsliege. Lieje leitet sich vom schriftdeutschen Lüge ab und „e Bänksche” ist halt eine kleine Bank, auf der sich, vergleichbar mit dem urgermanischen Ting, der besagte Ältestenrat zusammenfindet um das Dorfgeschehen zu durchleuchten, zweckgefärbt zu kolportieren und politisch zu verarbeiten.

Für Mundartforscher ist der Ausdruck Liejebänksche ein weiterer Beweis dafür, dass sich die rheinhessische Sprache hervorragend dazu eignet, menschliche Schwächen – wie zum Beispiel die Lüge – mit paradoxen Wortverknüpfungen und Verkleinerungen zu bagatellisieren.

Seinen kulturellen Anspruch unterstreicht das Treffen am Dorfbrunnen dadurch, dass dabei prinzipiell das altrömische Zitat mens sana in corpore sano mit dem rheinhessischen Dreierpack Weck, Worscht un Woi in die Realität des Alltags umgesetzt wird. Mit anderen Worten: Ohneeinige Literflaschen Rot- und Weißwein, einen Ring Fleischwurst und Paarweck, läuft nichts, denn – so die einleuchtende Begründung – wer sich geistig anstrengt, benötigt auch eine angemessene Energiezufuhr.

Und hierbei zeigt sich eine der liebenswertesten Eigenschaften der Rheinhessen: Ihre selbstverständliche und offenherzige Gastfreundschaft. Jeder, der vorbeikommt – ob bekannt oder unbekannt –, ist eingeladen. Natürlich werden Fremdlinge nach ihrer Verabschiedung fast schon automatisch dem zuvor erwähnten Überprüfungs- und Beurteilungsritual unterzogen. So kann es passieren, dass einer beim zweiten Mal nicht mehr offenherzig zum Mittun, sondern nur noch mit einem knappen Kopfnicken als Gruß zum Weitergehen aufgefordert wird. Es sei denn, er bringt ein flüssiges Gastgeschenk mit, was bei einer zuvor erfolgten negativen Beurteilung auch schon zu Revisionsverfahren mit positivem Ausgang geführt haben soll.

Das alles gipfelt in dem philosophischen Dreisatz:

Wonn ohner drinkt, dann hock dich dezu unn drink midd.

Unn wonn ohner isst, dann hock dich bei en bei unn ess midd.

Unn wonn ohner schafft …, loss en schaffe!

Der Rheinhesse nennt den Gebrauch derartiger Weltanschauungen übrigens: simmelieren – er philosophiert nicht, nein, er simmeliert.

Als ich mit meinen Hunden wieder zurück ins Dorf kam, führte mich mein Weg zwangsläufig an dem besagten Liejebänksche vorbei. Natürlich war es an diesem schönen Herbstabend bereits mit der kompletten Mann- und Frauschaft besetzt. Man winkte mir fröhlich zu und lud mich zu einer Rast und zum Mittun ein. Obwohl ein SchoppenGespritzter meinem klebrigen Gaumen gut getan hätte, lehnte ich unter Hinweis auf mein durchgeschwitztes Laufshirt dankend ab. Eine erfrischende Dusche war mir jetzt noch lieber.

Heinz Runde stand ebenfalls am Brunnen. Er wartete darauf, dass das Wasserfass, das er auf der Rolle hinter seinem Traktor hatte, gefüllt war. Er lehnte entspannt in seiner alten, speckigen Lederhose und einem verschmutzten und am linken Ärmel aufgerissenen Holzfällerhemd an seinem antiken Bulldozer. Für einen flüchtigen Beobachter ließen seine Aufmachung und sein wettergegerbter Teint nicht den pfiffigen Geschäftsmann vermuten, der sich hinter dieser lässigen Erscheinung verbarg. Wer allerdings nur ein wenig hinter diese Fassade blickte, erkannte an den stets fröhlichen und interessierten Augen, an der lebhaften Mimik und seiner wachsamen Haltung einen scharfsinnigen und wissbegierigen Menschen.

„Wenn ich die Rinder getränkt habe, komme ich auf einen Sprung bei dir vorbei”, meldetet Heinz einen seiner Besuche an, die in mir immer wieder den Wunsch erweckten, die Zeit möge doch ab und zu einfach einmal stillstehen. Gespräche mit ihm waren, selbst bei kontroversen Ansichten, stets harmonisch und unterhaltsam. Sie waren von einer gewissen Leichtigkeit, regten die Fantasie an und machen neugierig darauf, Möglichkeiten zu finden, wie man sein Leben noch ein bisschen lebenswerter machen konnte. Auch wenn es paradox klingt, Heinz hätte man als pragmatischen Illusionisten bezeichnen können, der Visionen des sozialen und ökologischen Zusammenlebens auch unter der Beachtung wirtschaftlicher Zwänge auf dem Reißbrett der Fantasie entwarf. Gleichzeitig gab es im handwerklichen Bereich nichts, was er nicht konnte.

Seit vielen Jahren gehörten er und seine Karin zu denwenigen Menschen, mit denen mich eine tiefe Freundschaft verband. Die beiden lebten schon einige Jahre länger als ich in Bernheim. Aber auch für sie hatte sich das „Einbürgerungskomitee” ein eigenes Beurteilungskästchen zimmern müssen. Als begeisterte Nebenerwerbslandwirte vertraten sie kompromisslos die Demeterideologie des geschlossenen ökologischen Kreislaufs. Die Begeisterung, mit der sie den hohen Aufwand und den dem entgegenstehenden geringen Ertrag akzeptierten, stieß bei den Bauern, die von ihrer Landwirtschaft leben mussten, logischerweise auf Unverständnis.

Als Heinz gegen 20 Uhr kam, hatte ich schon eine Flasche Spätburgunder geöffnet und mit zwei Gläsern auf dem von der Witterung grau-blau patinierten Tisch im Innenhof bereitgestellt.

„Weißt du eigentlich, dass du zu den wenigen gehörst, bei denen ich nicht meinen eigenen Wein mitbringe?”, wollte er wissen, während er sich einschenkte.

„Wäre mir heute nach Frotzeleien zumute, würde ich dir vorwerfen, ein übler Schmarotzer zu sein. Ich weiß allerdings, dass das eine besondere Auszeichnung für meinen Weinkeller ist.”

„Du bist heute nicht gut drauf, oder wie soll ich deine Ansage verstehen?”

Ich weihte Heinz in die jüngsten Vorkommnisse ein, und so drehte sich unser Gespräch an diesem Abend ausschließlich um den Flug am nächsten Tag und darum, was uns auf La Palma erwarten könnte.

„Heribert hat die kühne These aufgestellt, da inszeniere jemand etwas, um mich in den Dreck zu ziehen”, erzählte ich und bemühte mich amüsiert zu klingen. Aber Heinz konnte ich damit nicht täuschen.

„Und wie denkst du tatsächlich über die Angelegenheit, Darius?”, fragte er sanft.

„Ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll. Einerseits erscheint es mir wie Spökenkiekerei, wie die Nordlichter sagen, andererseits sind die Zusammenhänge schon merkwürdig. Ich kann die Fakten nicht außer Acht lassen.”

„Dann werde ich einmal den Advocatus Diaboli spielen. Das hilft in solchen Fällen, wo Kopf und Bauch eins zu sein scheinen.”

Die Fragen, die er dabei aus seiner Sicht aufwarf und die kümmerlichen Antworten, die ich ihm darauf geben konnte, zeigten, dass Heribert und ich uns vor Ort noch eine ganze Menge Informationen beschaffen mussten. Bisher hatten wir noch nicht einmal die Oberfläche einer Geschichte angekratzt, die allerdings auch Heinz eher als eine Kombination von Zufällen einordnete. Dennoch bemühte er sich, weiterhin seiner selbst gewählten Rolle in diesem Gespräch gerecht zu werden.

„Es ist ja nur ein Gedankenspiel, um aufzuzeigen, wie absurd es ist, mehr hinter der Geschichte zu vermuten, als tatsächlich dahinter steckt.”

„Alleine, wenn man bedenkt, dass da jemand ein hohes Risiko eingeht, entdeckt zu werden und dafür einen nicht unerheblichen Aufwand betreibt”, überlegte ich.

„Richtig. Aber einmal angenommen, da gibt es jemanden, der genau das tut”, drehte Heinz den Sinn meines Einwandes um. „Niemand bringt einen Menschen um, weil er sich nur einmal einen Scherz erlauben will. Das geht doch weiter. Heribert und du, ihr kennt ja noch nicht einmal das Ziel, das mit dieser Sache bezweckt wird.”

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22 декабря 2023
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9783482728716
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